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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

673-675

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Iwand, Hans Joachim [Hrsg. v. Th. Bergfeld u. E. Thaidigsmann. Unter Mitarbeit v. G. den Hertog u. E. Lempp]

Titel/Untertitel:

Dogmatik-Vorlesungen 1957–1960. Ausgewählte Texte zur Prinzipienlehre, Schöpfungslehre, Rechtfertigungslehre, Christologie, Ekklesiologie mit Einführungen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 286 S. = Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, 18. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-12088-5.

Rezensent:

Wolf Krötke

Die Veröffentlichung der Göttinger Vorlesungen von Hans Joachim Iwand verdankt sich dem Anliegen der »Iwand-Stiftung«, das Vermächtnis dieses Theologen, der im Denken Martin Luthers ebenso beheimatet war wie in dem Calvins und Karl Barths, lebendig zu erhalten, zu verbreiten und zu aktualisieren. Wie der Untertitel annonciert, handelt es sich jedoch nur um von den Heraus-gebern »ausgewählte Texte« aus diesen Vorlesungen. Sie sollen ge­wissermaßen die systematische Klammer seines veröffentlichten Schrifttums, das in den fünf Bänden seiner »Nachgelassenen Werke« und deren »Neue Folgen« vorliegt, bilden. Dieses Bestreben ist davon motiviert, dass dem Eindruck gewehrt werden soll, I.s Veröffentlichungen seien bloß »eine Art irregulärer Dogmatik« (2), welche nur eine sporadische Teilnahme an den Diskursen über Themen von theologischer Relevanz erlaube. Es soll vielmehr ge­zeigt werden, dass I. sich ausweislich seiner letzten Vorlesungen durchaus der Aufgabe gestellt hat, die Wahrheit des christlichen Glaubens in einem systematischen Zusammenhang zu entfalten.
Dieser Zusammenhang kann in der Reihe der Vorlesungen »Prinzipienlehre«, »Schöpfungslehre«, »Rechtfertigungslehre«, »Christologie« (schon in den »Nachgelassenen Werken« veröffentlicht!) und »Ekklesiologie« sichtbar werden. Eine Eschatologie fehlt merkwürdigerweise. Es wird auch nicht darüber Auskunft gegeben, ob sie geplant war. Dass I. wirklich als ein starker Vertreter der Darstellung des Gesamtzusammenhanges der Wahrheit des christlichen Glaubens angesehen werden kann, stellt jedoch nicht nur seine briefliche Äußerung in Frage, dass er keine Dogmatik habe, sondern »nur Fetzen« (16). Er hat sich auch in den Vorlesungen selbst kritisch gegen das Systemdenken in der Theologie gewandt (vgl. 65 f.). Die Herausgeber seiner in der Tat nicht systematisch durchgefeilten Vorlesungen tragen dem auf ihre Weise Rechnung, indem sie die einzelnen Vorlesungen mit »Einführungen« versehen haben, die mannigfache Bezüge auf andere Texte des Göttinger Theologen herstellen und erklären, wie I. in seinen Kollegs verstanden werden sollte. Dabei wird die Erwartung gehegt, dass sich die Leserinnen und Leser der hier aufbereiteten Texte »vielleicht dazu anregen« lassen, von I. selbst veröffentlichte Texte zu lesen (3). Das ist eigentlich ein seltsames Motiv für eine derartige Edition. Sie soll sozusagen Treibriemen für etwas längst Bekanntes sein. Die Frage ist darum: Haben diese Vorlesungen eine solche Triebkraft?
An der Bejahung dieser Frage hindert Verschiedenes. Das, was hier dargeboten wird, ist nicht gerade eine didaktische Meister-leistung. Die Herausgeber versuchen, das erträglich zu machen, indem sie selbst Zwischenüberschriften einfügen. Gravierender aber ist, dass sie das durchaus noch erkennbar Sperrige, Suchende, vielfach Fragende, ja teilweise Fragmentarische dieser Vorlesungen weitgehend zu glätten suchen. Ihre hier aufbereitete Darbietung ist deshalb einerseits voller Auslassungszeichen, ohne dass erklärt wird, was ausgelassen wurde und warum etwas ausgelassen wurde. Andererseits werden I.s Ausführungen immer wieder von Zwischentexten der Herausgeber unterbrochen, die seine Gedankengänge zusammenraffen und erläutern. Eine wissenschaftliche Edition, die es ihren Rezipientinnen und Rezipienten ermöglicht, sich über postum veröffentlichte Texte ein eigenes Urteil zu bilden, ist diese Veröffentlichung darum sicherlich nicht. Dass es »angesichts des Zustands der Typoskripte nicht angebracht« sei, sie als Ganzes zu dokumentieren und dass es deshalb geboten sei, sie auf das zu reduzieren, was den Herausgebern (!) »als besonders charakteris­tisch, anregend und nachdenkenswert erscheint« (2), sind ungewöhnliche Grundsätze für eine solche Edition. Gerade das Unfertige – das haben viele Editionen aus Nachlässen gezeigt – ist häufig anregender als seine Kanalisierung durch die Herausgeber solcher Hinterlassenschaften.
Nebenbei bemerkt ist es im vorliegenden Falle auch richtig är­gerlich, wie die Standards wissenschaftlicher Editionen hier ge­handhabt werden. Der angekündigte Nachweis von Bezügen I.s auf Drittquellen wird weitgehend nur äußerst lässig gehandhabt. Viele Drittquellen werden gar nicht verfolgt und belegt. Für anderes werden veraltete Ausgaben (z. B. von Schleiermachers »Glaubenslehre«) herangezogen. Ein Sachregister haben sich die Herausgeber erspart.
Ob dem Anliegen, I.s theologisches Denken in die theologischen Auseinandersetzungen von heute einzuspeisen, mit dieser Veröffentlichung aus dem Nachlass wirklich ein guter Dienst getan wurde, werden sich gerade diejenigen fragen, die seine durch Stringenz, Unterscheidungsvermögen, Kenntnisreichtum und Scharfsinn veröffentlichten Texte sehr schätzen. Auf der anderen Seite bleibt es nicht ohne Eindruck, wie I. sich mit seiner steilen Theologie, die in vieler Hinsicht an die frühe »dialektische Theologie« erinnert, abgemüht hat. Gleich die »Prinzipienlehre«, mit der er seinen Dogmatikkurs eröffnet hat, hämmert geradezu das »extra nos« der Rechtfertigungslehre Luthers als »Bruch« (24) und als das »Fremde« (61) in dieser Welt ein. Allen Annäherungen an Gott vom Menschen und von der Welt her wird eine scharfe Absage erteilt. Kant, Hegel und vor allem Schleiermacher geben vorrangig die Negativfolien ab, auf deren Hintergrund das für Menschen unverfügbare »Außen« der Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung zur Geltung gebracht wird. Das zieht sich durch diesen ganzen Dogmatikkurs, soweit er uns von den Herausgebern bekanntgegeben wird. Die »natürliche Theologie« aller Art »rottet« der Christenmensch demnach aus (133). Von der Kirche wird ihr »ein Riegel vorgeschoben« (222).
Dass I. von daher Schwierigkeiten bekam, einen Zugang zur Schöpfungslehre zu finden, ist kein Wunder. Er hat an ihr in verschiedenen Ansätzen herumprobiert (vgl. 81–89). Dabei hat er merkwürdigerweise Karl Barths Lehre von der Analogie zwischen Gottes Bund mit der Menschheit und der Schöpfung sowie die dadurch eröffneten Möglichkeiten, Zeichen der Beziehung Gottes auf die Gott ferne Menschenwelt in dieser Welt wahrzunehmen, gar nicht bedacht. Das Urteil dominiert, dass im Bereich der Welt, wenn sie sich auf Gott bezieht, immer nur ein »Götze« anzutreffen sei und nicht Gott (93).
Der Band schließt mit einem Vortrag von Jürgen Seim über »Iwand in den Jahren 1957–1960« (271–286). Dabei wird auch ein Einblick in das gegeben, was I. in der Zeit von 1957 bis 1960, in der seine jetzt veröffentlichten Vorlesungen entstanden sind, politisch bewegt hat. Seine Stellungnahmen gegen die Atomrüstung des Westens und sein Bemühen um Verständigung mit dem »Osten« in der »Allchristlichen Prager Friedenskonferenz« weisen das aus. Der gewagte Zusammenhang allerdings, der hier zwischen diesem von den östlichen Geheimdiensten durchsetzten Propagandainstrument der Sowjetunion und der Ostdenkschrift der EKD hergestellt wird (273), gibt zu kritischen Rückfragen Anlass. Aber diese Fragen müssen an anderer Stelle diskutiert werden.