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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

664-666

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Hartmut, u. Eberhard Röhm[Hrsg.] [Hrsg. in Verbindung m. J. Thierfelder.]

Titel/Untertitel:

Evangelisch ge­tauft – als »Juden« verfolgt. Theologen jüdischer Herkunft in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2014. 471 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-7668-4299-2.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Das Schicksal der Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich ist in Kirche und wissenschaftlicher Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen worden. Man denkt, wenn man von der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten spricht, an die Glaubensjuden und die nicht zu den Synagogengemeinden zählenden konfessionslosen Juden. Die in der Schlussphase des Dritten Reichs zur Reichsvereinigung der Juden gezählten Christen jüdischer Herkunft sind bis heute ein blinder Fleck der Forschung. Erst neuerdings werden in einer Reihe von Landeskirchen Forschungen zu ihnen angestellt. Nach zeitgenössischen Schätzungen waren in Deutschland neben den ca. 500.000 Glaubensjuden von den Nürnberger Gesetzen ungefähr 400.000 Menschen betroffen, davon zwei Drittel evangelische Christen.
Das vorliegende Gedenkbuch ist eine Sammlung von 180 doppelseitigen Kurzbiographien evangelischer Theologen und Theologinnen, die aufgrund der Rassegesetzgebung des Dritten Reiches verfolgt wurden. Bei 48 von ihnen handelt es sich um »Volljuden«, bei 72 um »Halbjuden«, bei 29 um »Vierteljuden« und bei 31 um »jüdisch Versippte«. Die meisten standen als Pfarrer im Dienst der evangelischen Kirche. Dabei ist der Radius weit gezogen. Auch die Freikirchen sind einbezogen, dazu diejenigen, die erst nach dem Krieg in kirchlichen Dienst treten konnten. Kriterium der Auf-nahme ist offenbar ein Studium der evangelischen Theologie. Der zum Diakon ausgebildete, als Judenmissionar predigende Heinrich Poms bildet eine Ausnahme. Dagegen sind vor der Deporta-tion zum Predigtdienst im KZ ordinierte Laienprediger nicht aufgenommen.
»Wer dieses Gedenkbuch zur Hand nimmt, sollte sich Zeit nehmen. Es braucht Zeit, und es braucht Mut, sich dem zu stellen, was hier geschildert wird, geschildert werden muß.« So der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Nikolaus Schneider im Geleitwort. Die Lektüre des Bandes mache zornig. Schneider spricht von der doppelten Schuld, die die evangelischen Kirchen offenzulegen und zu bekennen haben. Einmal, dass sie nach 1933 nichts oder zu wenig getan haben. Zum anderen, dass sie nach 1945 zu wenig oder kaum etwas für die Wiederbeschäftigung der aus der Emigration Zurückgekehrten getan haben.
Die Rede von der doppelten Schuld macht auf die Besonderheit des Schicksals der Theologen jüdischer Herkunft aufmerksam. Anders als Gedenkbücher für Gemeindeglieder jüdischer Herkunft erinnert dieser Band nicht an die Opfer der Schoah. Nahezu alle Theologen jüdischer Herkunft haben die Zeit des Nationalsozialismus überlebt. Während viele ihre Eltern oder andere Familienangehörige durch die Nationalsozialisten verloren, ist die Zahl der Deportierten und Ermordeten unter ihnen überraschend gering. Viele haben bis in die jüngste Zeit noch gelebt, standen im Dienst der deutschen Kirchen oder der Kirchen der sie aufnehmenden Gastländer, zwei leben heute noch. Von den 180 sind nur fünf deportiert und ermordet worden, davon drei Frauen (zwei mit evangelischen Pfarrern verheiratet). Neben einem als »Volljude« 1933 pensionierten Krankenhauspfarrer, der bis zum Krieg in Lobetal arbeiten konnte, ist Werner Sylten, Heinrich Grübers engster Mitarbeiter, der einzige evangelische Pfarrer jüdischer Herkunft, der ins KZ kam und ermordet wurde. Hilde Schneider, die als »Dreivierteljüdin« erst nach 1946 Theologie studieren konnte, überlebte das KZ. Das Schicksal der meisten in diesem Band erfassten Theologen war nach der Entlassung aus dem kirchlichen Amt oder der Nichteinstellung in den kirchlichen Dienst die erzwungene Emigration. Zur Emigration verhalfen den meisten außerdeutsche Kirchen. George Bell, anglikanischer Bischof von Chichester, hat sich in besonderem Maße für die in Deutschland verfolgten Pfarrer jü­discher Herkunft eingesetzt und vielen von ihnen zur Emigration verholfen. Dankenswerterweise sind den Biographien einige Gruppenfotos mit den zahlreich nach England emigrierten Pfar rern beigefügt. Diese Fotos geben erstmals ein Bild, wie viele »Juden« auf deutschen Kanzeln standen, was Mathilde Ludendorff von der Verjudung der evangelischen Kirche reden ließ. Eigentlich müsste dieser Band dem Gedächtnis von Bischof Bell gewidmet sein, an den heute in der evangelischen Kirche, wenn sie von ihrem Versagen nach 1933 spricht, zu wenig erinnert wird. George Bell ist, neben Heinrich Grüber, aber weit vor ihm, der in diesem Band meistgenannte Namen.
Neben dem, was zornig macht, zeigt dieser Band überraschend den Mut, mit dem sich Kirchenleitungen und Gemeinden, sogar deutschchristliche Kirchenleitungen, gegenüber dem Staat für die Weiterbeschäftigung von »Halb«- und »Vierteljuden« einsetzten, manchmal mit Erfolg. Viele der von der Universität Ausgeschlossenen haben ein Theologiestudium an kirchlichen Hochschulen durchführen können. Paul Althaus und Werner Elert setzten sogar mehrmals durch, dass »Halbjuden« in Erlangen studieren konnten. Die Lebenswirklichkeit der vielen von der nationalsozialistischen Rassenpolitik Betroffenen war differenziert und individuell verschieden. Selbst in der Wehrmacht wurde Hitlers Befehl nach dem 20. Juli, alle »jüdisch Versippten« zu entlassen, nicht immer durchgesetzt. Im Unterschied zu den 17 als wehrunwürdig Entlassenen blieb der Berliner Pfarrer Fritz Plath, Bruder der Mutter des Rezensenten, bis Kriegsende unbehelligt Offizier.
Wir sind heute, da es in der Verurteilung des Nationalsozialismus unter vernünftigen Menschen keinen Dissens gibt, von der damaligen historischen Wirklichkeit weit entfernt. Die in diesem Band enthaltenen Biographien machen darauf aufmerksam, dass diese Wirklichkeit nicht mit pauschalen Urteilen zu erfassen ist. So wird heute die große Zahl der Judentaufen im 19. und frühen 20. Jh. mit Heinrich Heines Wort durchweg als Entrebillet in die christliche Gesellschaft verstanden. Viele der in diesem Band enthaltenen Theologen stammen aus Familien, die sich tatsächlich aus Anpassung an ihre Umwelt haben taufen lassen. Diejenigen, die sich zum Studium der Theologie entschlossen, haben das aber aus freier Überzeugung, viele in Abkehr von der nur äußerlichen Christlichkeit ihrer Eltern getan und sind durch eigenes religiöses Suchen zum christlichen Glauben gestoßen. Andere, im jüdischen Glauben Erzogene, haben sich in Abkehr vom Judentum ihrer Eltern losgesagt und sind, nur selten durch Einwirken der Judenmission, durch eigenes Bibelstudium zur Überzeugung von der Wahrheit des christlichen Glauben gelangt. Nicht wenige empfanden es als eine Schmach, dass sie durch Nationalsozialisten zu Juden gemacht wurden. Einige wurden erst durch die Nationalsozialisten auf ihre jüdische Herkunft aufmerksam, haben sich dann im Glauben an Christus als Mitglieder des jüdischen Volks verstanden und ihr Christsein mit dem Judesein verbunden. Der durch eigenes Stu-dium der Bibel zum Christusglauben gekommene Heinz David Leuner hat nach der Emigration in Schottland bewusst als Jude und messianischer Christ gewirkt. Leuner wurde 1961 auf dem Evangelischen Kirchentag Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe »Juden und Christen«. Übrigens ist die Zahl der wissenschaftlich Hoch-begabten, denen, wie Bonhoeffers Freund Franz Hildebrandt, eine wissenschaftliche Zukunft in Deutschland verbaut wurde, überraschend groß. Welchen Verlust Deutschland durch den Weggang dieser Theologen erlitten hat, auch dies macht dieser Band eindrücklich.
Die Biographien, deren größte Zahl von Hartmut Ludwig stammt, sind mit Sorgfalt und Gründlichkeit verfasst. Zu verbessern wäre nur, dass die Brüder Hugo und Joachim Wach nicht väterlicherseits, sondern mütterlicherseits Urenkel von Felix Mendelssohn-Bartholdy waren. Die Herausgeber sind sich bewusst, dass trotz intensiver, langjähriger Nachforschungen die Zahl der Theologen jüdischer Herkunft noch erweitert werden kann. Der Rezensent könnte auf den ihm persönlich gutbekannten aus Ra­thenow stammenden Hans Hagen hinweisen, der im Zweiten Weltkrieg von Bischof Wurm ins Elsass geschickt wurde, wo er ohne Namensnennung von Wolfgang Schweitzer als ein neben ihm wirkender brandenburgischer Vikar, der mit ihm das gleiche Schicksal teilt, genannt wird. Vor allem die mit 29 sehr gering angegebene Zahl der von staatlichen Maßnahmen häufig nicht verfolgten »Vierteljuden«, die schwer zu erfassen sind, dürfte sich noch erheblich vergrößern lassen.
Bei der im Geleitwort genannten doppelten Schuld der deutschen Kirchen fragt man sich, ob demnächst nicht von einer dritten Schuld der evangelischen Kirche gesprochen werden muss – der Ignorierung und teils sogar Ablehnung jener Christen jüdischer Herkunft, die sich messianische Juden nennen.