Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

657-660

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Blaschke, Olaf

Titel/Untertitel:

Die Kirchen und der Nationalsozialismus.

Verlag:

Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2014. 288 S. = Reclam Sachbuch. Reclams Universal-Bibliothek, 19211. Kart. EUR 8,00. ISBN 978-3-15-019211-5.

Rezensent:

Martin Greschat

Wer behauptet, Dietrich Bonhoeffer sei standrechtlich erschossen worden (191), fördert Zweifel an seiner historischen Kompetenz. Ähnliche Ungenauigkeiten und Irrtümer ließen sich anfügen. Martin Niemöller z. B. war nie Mitglied der NSDAP (189), die niederländischen katholischen Bischöfe »erwogen« nicht einen ge­meinsamen Protest mit den Protestanten gegen die nationalsozialistische Politik, sondern »realisierten« ihn (219). Wer bemängelt, dass im »Firmunterricht und im Heiligenlexikon« zwar vom Opfertod Maximilian Kolbes gehandelt wird, aber nicht von seinem Antisemitismus, verkennt das theologische Problem. Es ging darum, abgekürzt formuliert, einerseits den als verderblich angesehenen jüdischen Einfluss in der Öffentlichkeit zu bekämpfen und andererseits doch am Liebesgebot auch gegenüber den Feinden festzuhalten. Das war auch ein polnisches Problem (vgl. etwa B. Porter-Szücs, Faith and Fatherland, 2011, 273–327). Es beschäftigte ebenso intensiv den Vatikan, wie man bei Hubert Wolf erfahren kann (Papst und Teufel, 2. Aufl. 2012, 95–143). Ähnliche Vorstellungen lassen sich auch im Protestantismus belegen, etwa bei Heinrich Grüber. So einfach, wie der Sachverhalt hier dargestellt wird, war er nicht. Man wird ihm vollends nicht gerecht, wenn man ihn in die Nähe mutiger historischer Enthüllungen stellt! Der Autor Olaf Blaschke streift bisweilen dieses Genre. Er neigt zu allerlei Spitzen gegen die katholische »Amtskirche« und übergeht auch die Protestanten nicht. So heißt es etwa über die drei evangelischen Bischöfe, deren Kirchen nicht von den Deutschen Christen gleich geschaltet wurden: »Meiser war überzeugter Anhänger Hitlers, Wurm ein nationalistischer Antikommunist und Marahrens durch Luthers Zwei-Reiche-Lehre vollständig obrigkeitshörig.« (129) Wem möchte B. diese Erkenntnisse vermitteln? Seine Darstellung basiert auf einer Vorlesung für Studierende und ist bemüht, auf deren Voraussetzungen einzugehen. Daraus erklären sich wohl manche Zuspitzungen, die in der wissenschaftlichen Erforschung auch der katholischen Zeitgeschichte eindeutig überholt sind.
B. entfaltet das Thema in neun Kapiteln. Ein erstes bietet einen knappen Überblick über die Kirchen Europas in der Zwischenkriegszeit und weist die überzogene Behauptung zurück, dass mit dem Nachweis der »Unvereinbarkeit« von Katholizismus und Fa­schismus bereits Entscheidendes gesagt sei (15–40). Eher allgemein sind im zweiten Kapitel die Ausführungen über die Kirchen in der Zeit der Weimarer Republik (41–87). Vom immensen geistigen und geistlichen Aufschwung des Katholizismus in jenen Jahren ist nicht die Rede, wohl aber von den unterschiedlichen Bemühungen beider Großkirchen, dem Nationalsozialismus zu begegnen. Fraglos erwiesen sich die Protestanten diesem Ungeist gegenüber sehr viel hilfloser als die Katholiken. Unbestreitbar ist sicherlich, dass es sich bei denjenigen, die nicht die NSDAP wählten, darum nicht um Anhänger der Demokratie handelte. Die Nutzung religiöser Elemente durch die Nazis erlaube freilich nicht, von einer eigenen nationalsozialistischen Religion zu sprechen.
Es folgen vier Kapitel über das komplexe Verhältnis beider Kirchen zum nationalsozialistischen Staat von 1933 bis an den Vorabend des Zweiten Weltkriegs (88–202). Zunächst ging es um die Anpassung der Kirchen an die neuen Verhältnisse (88–125). Sie reichten von vorsichtiger Annäherung bis zur »Überanpassung« im Protestantismus in Gestalt der Deutschen Christen – oder eben von Nationalsozialisten, die sich gleichwohl als evangelische Christen verstanden. Treffend wird dann der Prozess der Ernüchterung mitsamt den vorsichtigen Distanzierungen beschrieben. Zumindest andeutungsweise zeigt sich dabei, dass sich die Entwicklung nun weitgehend auf die lokale und regionale Ebene verlagerte (126–151). Diese Entwicklung setzte sich unübersehbar nach 1935 fort. Zu Recht erinnert B. daran, dass Juden und Kommunisten erheblich brutaleren Verfolgungen ausgesetzt waren als die Christen beider Konfessionen (152–181).
Auf grundsätzliche Probleme konzentrieren sich die folgenden Ausführungen im sechsten Kapitel (182–202). Ausgehend von den generalisierenden Aussagen in der Studie von Manfred Gailus über evangelische Gemeinden in Berlin im Jahre 1933 (Protestantismus und Nationalsozialismus, 2001) werden auch hier vier verschiedene Modelle der Anpassung vorgestellt. Die Problematik einer solchen Charakterisierung besteht, wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, einerseits darin, dass 1933 noch vieles unklar war. Damals gehörten Persönlichkeiten zu den Deutschen Christen, die diese Bewegung dann entschieden bekämpften. Die Konzentration auf dieses Jahr bietet also keineswegs eine zuverlässige historische Ausgangsposition, vielmehr verzerrt die von der historischen Entwicklung losgelöste Darstellung die Realität: Was 1933 galt, stimmte 1943 nicht mehr. Ebenso fragwürdig erscheint – darauf komme ich zurück – die Verwendung des Begriffs der »Kollaboration«. B. drängt zwar auf Differenzierungen, neigt jedoch zu der Verallgemeinerung, dass die Kirchen sich selbst dem Widerstand zugeordnet hätten, wogegen natürlich Front gemacht werden müsse (182 f.). Die Aussage schließlich, dass ein Allgemeinhistoriker nicht beurteilen könne, was wahres oder falsches Christentum sei (190), wird auch dadurch nicht besser, dass sie von Vertretern der Zunft gern ins Feld geführt wird. Aber ein Historiker muss doch wohl darüber Auskunft geben können, ob die Konstruktion eines arischen, heldenhaften Jesus oder die Verdammung der Theologie des Paulus der gültigen kirchlichen Lehre entsprach oder nicht. Wer sich hier nicht für zuständig erklärt, muss sich auch fragen lassen, anhand welcher Kriterien er denn die Krankenmorde oder die Er­mordung der Juden beurteilt.
Die zwei Kapitel über die Kirchen im Zweiten Weltkrieg (203. 217) schildern knapp die Vorgänge. Im Vordergrund der kirch-lichen Verlautbarungen standen jetzt Klagen über die umfassende Zurückdrängung der Kirchen aus der Öffentlichkeit sowie die Forderung der Verteidigung des Vaterlands. Zur Vernichtung des europäischen Judentums schwiegen die Kirchen. Vereinzelte Ausnahmen können diese Feststellung nicht relativieren. Fraglos er­leichterten »antisemitische Dispositionen« (223) nicht nur allgemein in der Bevölkerung, sondern auch unter Christen diese böse Gleichgültigkeit.
Das letzte Kapitel über die kirchliche Vergangenheitspolitik nach 1945 (231–248) nimmt noch einmal den Duktus der gesamten Darstellung auf: Dem Faktum des »Triumphierens und Vertuschens« solle endlich die historische Wahrheit entgegengesetzt werden, dass nämlich nicht Widerstand oder irgendeine Resistenz das Verhalten der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus ausmachten, »sondern die ›Anpassung‹, wenn nicht sogar mehr« (248). Diese Forderung macht die eigentliche Bedeutung der Darstellung aus, ihr muss mit allem Nachdruck zugestimmt werden. Auch wenn die Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte in beiden Konfessionen inzwischen ein sehr viel differenzierteres Bild zeichnen, als es B. wohl vor Augen steht: Fraglos ziehen Untersuchungen zu den »Widerständlern« immer noch mehr Interesse und Arbeitskraft auf sich als Bemühungen um die Erhellung des alltäglichen Verhaltens von Christen in der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei geht es keineswegs nur um die Grenzfälle jener getauften Christen, die »in die Mordaktionen verstrickt waren« (227). Geboten ist, erfahren wir, vielmehr ein Paradigmenwechsel. »Wer die Kirchen kollek tiv ins Kapitel Widerstand einsortiert oder das Thema auf der Tonleiter der Resistenzstufen anstimmt, übersieht die Konsensbereiche.« (247) Wie gesagt: Die pauschale Behauptung, die kirchengeschichtliche Forschung habe sich primär oder gar ausschließlich auf Gesichtspunkte der Widerständigkeit der Christen konzentriert, verkennt die Lage. Umgekehrt lässt sich allerdings auch nicht übersehen, dass eine hierauf zielende Tendenz weiterhin besteht.
Sie fand zunächst Unterstützung bei den Briten und Amerikanern im Zweiten Weltkrieg und danach, dass das Christentum und die Kirchen politischen Widerstand geleistet hätten und daher eine wichtige Rolle beim Aufbau der Demokratie im Nachkriegsdeutschland spielen könnten. Die Alliierten erkannten freilich recht bald ihren Irrtum. Die Kirchen dagegen sahen sich kaum genötigt, ihre Förderung durch die westlichen Siegermächte zu­rückzuweisen, auch wenn sie immer wieder unterstrichen, dass es ihnen um religiöse, theologische Themen ging und um die Erneuerung des christlichen Glaubens, nicht um Politik. Eine Wende vollzog sich in den 60er Jahren, als die religiöse Dimension zunehmend wenig interessierte, in steigendem Maß dagegen die Frage, was denn die Christen und Kirchen getan hätten, um das nationalsozialistische Regime zu schwächen und seine Verbrechen zu hindern oder wenigstens abzuschwächen. Jetzt geriet alles Denken, Reden und Handeln, das nicht ausdrücklich die herrschende Linie vertrat, in den Sog des postulierten Widerstands – oder zumindest einer weit gefassten Widerständigkeit.
Fraglos ist hier ein Paradigmenwechsel geboten. Und die Bedeutung dieser Studie besteht, trotz der angedeuteten Defizite, darin, dass sie ihn ebenso begründet wie nachdrücklich anmahnt. Das Konzept der Kollaboration dürfte für diese Aufgabe zu grob sein. Auf die vielfältigen Formen der Annäherung und Anpassung käme es stattdessen an, auf die Erhellung der Alltäglichkeiten des Lebens von Christen und ihrer Begleitung durch ihre Kirche, auf die ge­nannten wie auch die als selbstverständlich vorausgesetzten religiösen und pragmatischen und sonstigen Gründe für ein Mitwirken am nationalsozialistischen System. Solche Untersuchungen könnten über den Aufweis der Probleme des Christentums in totalitären Systemen hinaus manches über die Möglichkeiten und Chancen des Widerstehens aufgrund des individuellen, personalen christlichen Glaubens aussagen.