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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

786–788

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sturma, Dieter

Titel/Untertitel:

Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1997. 374 S. gr.8. Lw. DM 68,-. ISBN 3-506-79100-1.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

In auffallender sachlicher Übereinstimmung arbeiten Philosophen, evangelische und katholische Theologen in den neunziger Jahren dieses ausgehenden Jahrhunderts an einem plausiblen Konzept der Person. Zum einen wirken bei diesem Thema die traditionsreichen Debatten um das philosophische "Selbstbewußtsein" (in den siebziger Jahren: D. Henrich, E. Tugendhat) nach. Zum anderen ist angesichts der vielfältigen Fragen der Medizinethik insbesondere hinsichtlich des Anfangs und Endes menschlicher Lebewesen der Problemdruck zur Klärung, wem die Schutzrechte der Person gebühren und für wie lange, erheblich angewachsen.

1. Mit seiner "Philosophie der Person" legt der als Kenner I. Kants und der Selbstbewußtseinsproblematik ausgewiesene Dieter Sturma seine vom Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg 1995 angenommene Habilitationsschrift der Öffentlichkeit vor. Ohne sich auf vordergründige Aufgeregtheiten der Ethikdiskussionen einzulassen, versucht er erst einmal, nüchtern und präzise zu bestimmen, was jedenfalls vom Kernbereich des Personkonzepts mit begründungsfähigen Argumenten formuliert werden kann (37 f.). Insofern stellen der Hauptgesprächspartner und das kritische Gegenüber diejenigen Formen von (sprach)analytischer Philosophie dar, die die Person weitgehend auf ihre empirischen, individuellen und sozialen Bedingtheiten reduzieren, sie sozusagen zu einem Objekt unter vielen in der naturwissenschaftlich beschreibbaren Objektwelt machen wollen (59, 68 ff.). Die Intention des Vf.s besteht darin, eine haltbare nicht-reduktionistische Position zu entwickeln, die sich pinzipiell durchaus als "gemäßigten Naturalismus" (95, vgl. 84 ff.) verstehen kann, ohne doch die Besonderheit der "Person" physikalistisch einzuebnen.

Dabei geht er nun so vor, daß nach einem kurzen Einleitungskapitel zum Thema (I, 25-43) und einem eben solchen Exkurs zur Begriffsgeschichte (II, 44-57) zunächst die Reduktionismuskritik als Negativfolie vorgeführt wird (III, 58-96), die dann noch einmal hinsichtlich der Probleme des Unbewußten (VII, 220-253) und der Kontingenz (VIII, 254-286) aufzunehmen ist. Der eigene Ausgangspunkt wird im zentralen vierten Kapitel dargestellt (97-146). Daran schließen sich die beiden großen Themenbereiche der personalen Identität (V und VI, 147-187, 188-219) und des Übergangs zu praktischen Selbstverhältnissen (vom individuellen Selbst zum Anderen, IX und X, 287-347) an. Ein kurzes zusammenfassendes Kapitel (XI, 348-354) schließt die Erörterungen ab. (Das abschreckend ausführliche "analytische Inhaltsverzeichnis", 11-24!, wirft die Frage auf, wer dann noch das übrige Buch lesen mag?!) Aus dieser Gliederung ist ersichtlich, wie der Vf. seine drei methodischen Postulate einlöst, nämlich einen formalen Rahmen der Philosophie der Person zu entwickeln, dabei die Verbindung von theroretischer und praktischer Philosophie herzustellen und schließlich klassische (vor allem Kantische) und neue analytische Philosophie aufeinander zu beziehen (40 f., vgl. 27,29,43).

2. Schon die Überschrift "Selbstbewußtsein" des entscheidenden vierten Kapitels signalisiert, daß der Vf. wesentliche Einsichten der Kantischen Philosophie in den gegenwärtgen Debatten um die Person bewahren will. Wenn sich nämlich naturwissenschaftlich feststellbare Ereignisse und die zunächst nur individuell (privilegiert) zugänglichen personalen Erlebnisse nicht aufeinander reduzieren lassen (83 ff.), dann muß man epistemisch an einer schwachen "dual aspect theory" (249, 277) festhalten, die die Spezifität von Personen beschreiben kann. Diese erweist sich zunächst in der unmittelbaren Selbstgewißheit (der eigenen Erlebnisse), sodann in der Reflexion und Kontinuität über die Zeit hinweg. Wenn sich die Person ihrer selbst gewiß ist, "dann hat sie diesen Bewußtseinszustand nicht erschlossen, sondern sie findet sich unmittelbar in ihm" (102). L. Wittgensteins Privatsprachenargument (107-120) widerspricht diesem Ausgangspunkt insofern nicht, als die von ihm untersuchte Grammatik gerade zur Einsicht führt, "daß eigene Bewußtseinszustände thematisierende ,Ich’-Sätze über eine spezfische Objektivationsform verfügen, die sich nicht ohne weiteres auf die Referenzstrukturen von propositionalen Einstellungen abbilden lassen" (114, vgl. 136). Die Reflexion dieses Sachverhalts führt die Person zu ihrer selbst bewußten Existenz: "Ich bin mir bewußt, in der Perspektive expliziten Bewußtseins meiner Existenz zu existieren" (126, vgl. 128, 145). Genau dies, sich selbst bewußt zu sein, "als Intelligenz zu existieren", konstituiert die besondere Lebensform der Person (126). Diese Selbstgewißheit ist aber nicht nur ein punktuelles Erlebnis, sondern erstreckt sich auch über die Zeit (123, 125). Insofern kann die Person konstitutiv nicht von ihrer Erlebnisperspektive abgelöst werden (129).

Sie ist durch ein "Doppelbewußtsein" ihrer selbst charakterisiert, da sie sich einerseits als Person in der Welt weiß und andererseits zugleich auch als Reflexion dieser Welt (138). Daher kann für das personale Bewußtsein nicht auf das Selbstverständnis als "Subjekt" verzichtet werden. Allerdings wird deshalb weder behauptet, daß dieses "Ich" sich vollkommen selbst durchsichtig wäre, noch, daß es sich selbst einfach erfassen könnte (Kants Paralogismen der rationalen Psychologie). Sondern "Selbstbewußtsein" bedeutet in einem abgeschwächten Sinne lediglich den Sachverhalt, "daß ich in einer konkreten raumzeitlichen Position ein bestimmtes Erlebnis habe oder eine bestimmte Erfahrung mache, die in einem perspektivisch auslegbaren Verhältnis zu einem Ereignis steht" (143). Der Vf. orientiert sich also am durchschnittlichen Bewußtsein des gesunden Erwachsenen (vgl. auch das zum "Lebensplan" Ausgeführte, 296-304!).

Er weist sicher den richtigen Weg, wenn er die viele Mißverständnisse produzierende Nominalbildung "Selbstbewußtsein" in den durchzubuchstabierenden Sachverhalt auflöst: "Ich bin mir meiner selbst bewußt" (142). Die spannenden Fragen resultieren ja aus der darin beschriebenen Rückbezüglichkeit. Wenn er nun mit D. Henrich von der ursprünglichen Selbstvertrautheit der Person mit sich ausgeht (102 ff.), erörtert er freilich etwas anderes als Kant unter seiner "transzendentalen Apperzeption". Insofern kann man darüber streiten, ob es besonders glücklich ist, einen vielfach belasteten Begriff wie "Selbstbewußtsein" für die eigenen Überlegungen zu verwenden. Hinsichtlich des gesamten Argumentationsganges ist es bedauerlich, daß der Vf. ganz ähnlich gelagerte Bemühungen von U. Pothast (1988), Hans Wagner (992) und E. Tugendhat (1993) nicht produktiv aufgenommen hat.

3. Schon in der dem Selbstbewußtsein eigenen Doppelperspektive ist der Übergang zu praktischen Selbstverhältnissen angelegt (145 f.). Diese werden vor allem am Thema der Identität und des Anderen erörtert. Aus der schon zwischen Locke und Leibniz geführten Kontroverse (150-177, 188-199) erhellt, daß die Unterstellung einer personalen Identität nur gelingt, wenn sie als ein "selbstreferentieller und empirisch nicht identifizierbarer Veränderungsprozeß über die Zeit hinweg" begriffen wird (174). Analog zum Selbstbewußtsein ist auch für die Identität eine Doppelstruktur leitend: die von (schon) gegebener und immer erst noch herzustellender Identität (187). "Das Leben von Personen ist demnach nichts anderes als die permanente Aufgabe, in der Gegenwart mit der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft umzugehen" (197, Hervorh. von mir).

Daran zeigt sich die Dauerspannung, in der die Person lebt, zwischen Indexikalität (Festlegung) und Impersonalität (Offenheit), die aus der moralischen Selbstbestimmung (Autonomie) resultiert. Mit der Forderung zur personalen Selbsterweiterung transzendiert sich die Person partiell selber, sie überschreitet sich vom Selbst, das sie ist, zur Kantischen "Persönlichkeit" (206). "Personales Leben gewinnt seine spezifische Ausprägung aus der Möglichkeit, das eigene Verhalten durch vernünftige Gründe selbst zu bestimmen" (207, Hervorh. von mir). In diese internen Bestimmungsgründe gehen aber auch die anderen als "Menschheit" ein. "Der kategorische Imperativ formuliert für die Perspektive der einzelnen Person einen Interpersonalitäts-gedanken, der einen Begriff moralischer Impersonalität- die Menschheit als Zweck - mit moralischer Selbständigkeit und personaler Teleologie - die Person als Zweck - verbindet (314, Hervorh. von mir; vgl. 344) Insofern überschreitet sich das (im Gegensatz zum platten Eigennutz) legitime moralische "Selbstinteresse" der Person immer schon auf andere hin (316 ff.) Aus der moralischen Selbstachtung (Kant) resultiert die Achtung auch der anderen (342 ff.).

Von diesem Argumentationsgefälle her leuchtet es ein, wenn kurzschlüssige Destruktionen der Person wie S. Freuds psychoanalytische Departementalisierung des Bewußtseins (220-232) und R. Rortys Hypostasierung der Kontingenz zur ontologischen Unterstellung einer "Zentrumslosigkeit personaler Existenz" (260, vgl. 259-267) als selbstwidersprüchlich abgewiesen werden. Das Unbewußte ist vielmehr immer das Unbewußte eines Bewußtseins (245 f.), und die Kontingenzen der personalen Existenz werden durch die gegenläufige Kontinuität der Reflexion kompensiert (279-286). Auf der Basis Kants (vgl. 289 f., 345) und der kontinentaleuropäischen Philosophietradition wird man den Argumentationsgang St.s weitgehend sympathisch finden, wenn auch die Konseqenzen für die Ethik hinischtlich der Grenzen der Person allererst zu ziehen sind; inwieweit sich analytische Philosophen davon überzeugen ließen, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten.