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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

652-654

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kobler, Beate

Titel/Untertitel:

Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XXVI, 623 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 171. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-152696-1.

Rezensent:

Vera von der Osten-Sacken

Beate Koblers Schrift »Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560« wurde 2012 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tü­bingen als Dissertation angenommen und durch die Vfn. für den Druck überarbeitet. In dieser unter der Ägide des Tübinger Kirchenhistorikers Ulrich Köpf entstandenen Studie geht die Vfn. von einem negativen, also zum Nachteil Philipp Melanchthons gefärbten Bild des Wittenberger Theologen aus, das auch in der heutigen Auseinandersetzung mit dem Praeceptor noch eine Rolle spiele. Gemeint ist die Vorstellung von einer ängstlichen, leicht zu verunsichernden Person, einem »Leisetreter«, dem Wankelmut, allzu große Affinität zu Humanismus und Philosophie, an Feigheit grenzende Friedensliebe, aber auch Abweichungen von Martin Luthers Positionen und sogar Verrat an der lutherischen Lehre und dem von ihm selbst verfassten Bekenntnis, der Confessio Augustana von 1530, vorgeworfen wurden. Dieses negative Bild setzt die Vfn. voraus und beruft sich für dessen Entstehung bereits zu Melanchthons Lebzeiten auf einen Forschungskonsens (5). Von hier ausgehend will sie klären, ob die Wurzeln des negativen Melan­chthonbildes in innerlutherischen Kontroversen nach Martin Lu­thers Tod, und hierin besonders in den Auseinandersetzungen zwischen Philipp Melanchthon und Matthias Flacius Illyricus, oder bereits in früherer Zeit zu finden sind. Die Studie konzentriert sich auf »die protestantische, in edierten Quellen zugängliche Me­lanchthonkritik, die zu seinen Lebzeiten geäußert wurde« (8). Den Begriff »Kritik« fasst sie jedoch ausgesprochen weit, nämlich »von kleineren persönlichen Unstimmigkeiten […] bis zur Infragestellung der Persönlichkeit Melanchthons« (8). Inhaltlich werden Vorwürfe gegen Melanchthon den Rubriken theologische Lehrfragen, kirchenpolitisches Vorgehen, astrologische Neigungen, Um­gang mit Mitmenschen und Melanchthons Person allgemein Betreffendes zugeordnet, so die Systematik der Kritikpunkte, die die Vfn. im zweiten Teil ihrer Studie bietet.
Zwar weist die Vfn. auf einschlägige Fachliteratur hin, setzt sich aber erklärtermaßen nicht vertieft damit auseinander, »da sie [sc. diese Auseinandersetzung] nicht das vorrangige Ziel dieser Arbeit ist« (14). Das ist befremdlich, da die Vfn. abgesehen von einer rein darstellenden Beschreibung des eigenen Vorgehens weder methodische Reflexionen noch einen Forschungsstand zu ihrer Frage bietet.
Im ersten Teil ihrer Studie (13–447) schildert die Vfn. in einem chronologischen Durchgang durch Melanchthons Leben Situationen, in denen der Praeceptor kritisiert wurde, die konkreten Kritikpunkte, den Ablauf der jeweiligen Kontroverse und Melanchthons Verhalten dazu. In einem weiteren Schritt fragt sie »nach der Bedeutung der Kritik für das negative Melanchthonbild und teilweise auch nach ihrer Berechtigung« (14). Obwohl sie sich von einem solchen Vorgehen distanziert (8), haben ihre Bewertungen leider häufig den Tonfall einer Melanchthonapologie. In Verbindung mit der wenig hilfreichen Neigung der Vfn. zum Generalisieren macht das dem Leser einige Mühe. Z. B. schreibt sie, Me­lanchthons »Kritiker jedoch haben seine Fähigkeit zum Ausgleich zu wenig gewürdigt« (512). Allerdings bietet die Vfn. auch einige Funde, z. B. die Kritik an Melanchthons Patronagepraxis durch Vincentius Obsopoeus, der sich bei der Besetzung von Lehrerstellen am neuen Nürnberger Gymnasium übergangen fühlte (31–36).
Den zweiten Teil (449–559) bildet eine thematisch sortierte Auswertung der Melanchthonkritik im Hinblick auf deren Langlebigkeit und ihren Bezug zu Leben und Werk des Theologen (Abschnitt I = 449–531). Ein zweiter Abschnitt wendet sich den Kritikern zu (532–555). Auch hier wird nach wiederholter bzw. punktueller Kritik an Melanchthon, aber auch nach Gemeinsamkeiten der Kritiker gefragt. Durch diese Kombination eines chronologischen, eines themen- und eines personenorientierten Vorgehens entstehen al­lerlei Redundanzen. Auch kann die Vfn. wegen der kaum vermeidbaren Methodenkonflikte ihre Systematik nicht immer durchhalten, z. B. wird »Die Kritik an Melanchthons astrologischen Neigungen« (409–447) im ersten Teil systematisiert, worauf die Vfn. dann im zweiten Teil verweisen muss (512). Warum sie einer derart einflussreichen Kritik wie der an Melanchthons Umgang mit der CA nach 1530 nur einen halbseitigen Exkurs (485) zugestanden hat, ist der Rezensentin nicht einsichtig.
Die Schlüsse der Vfn. sind recht allgemein; so kommt sie zu der Erkenntnis, dass persönliche Nähe persönliche Kritik ermöglichte (544), während theologische Kritik hauptsächlich von Theologen, kirchenpolitische von Territorial- oder Ratsautoritäten erhoben wurde (554). Eine der wenigen weiterführenden Beobachtungen, das negative Melanchthonbild habe sich parallel zur lutherischen Identität verfestigt (557), übernimmt sie von Irene Dingel, Melanchthon – Freunde und Feinde, in: ThLZ 135 (2010), 775–804, hier: 787. Auch bei der »Bildung von Klischees« (557) bleibt sie sehr allgemein. Konkrete Zusammenhänge oder Mechanismen schildert sie selten. Häufig wiederholt, jedoch wenig präzisiert wird der Unterschied von römisch-katholischer und protestantischer Kritik an Melanchthon, von denen die erste ihm zu wenig, die zweite zu viel Nachgiebigkeit attestiert habe. Leider nimmt die Vfn. auch die Zielgruppen und die Verbreitung der kritischen Äußerungen nicht näher in den Blick, was recht gut anhand der Publikationssprache und der Auflagenzahl und -stärke der betreffenden Schriften hätte untersucht werden können.
Die Vfn. neigt zu relativ weitschweifigen Faktenreferaten, die für die Frage nach der Entstehung eines negativ gefärbten Me­lanchthonbildes nicht viel austragen. Auch ihre Sprache ist nicht immer präzise, z. B. werden »negativ« und »kritisch« nahezu syno­nym gebraucht und der Ausdruck »Philippisten« für Melanchthons Schüler und Gesinnungsgenossen (4, Anm. 15) wird unkommentiert übernommen.
Erfreulich sind die umfangreichen und hilfreich untergliederten Quellen-, Literatur-, Personen- und Sachregister. Etwas gewöhnungsbedürftig ist aber die Vorgehensweise der Vfn. bei der Bibliographie, z. B. werden Sammelbände, Festschriften und ähnliche Werke nicht anhand der Namen von Herausgebern oder Adres-saten, sondern anhand der Werktitel aufgeführt, während Selina Gerhard Schultz Ausgabe der Briefe und Traktate des Kaspar Schwenckfeld von Ossig (Pennsylvania 1959) weder unter dem Namen des Autors noch unter dem der Herausgeberin, sondern unter dem Reihentitel »Corpus Schwenckfeldianorum« zu finden ist. Unklar ist der Rezensentin auch, weshalb das Stichwort »Chris­tus« ebenso wie »Flacianer«, »Franziskaner«, »Hussiten« etc. im Sachregister erscheint, während »Aaron«, »Abel« und »Absalom« das Personenregister eröffnen.
Das Unternehmen, dem von unterschiedlich stark reflektierten Urteilen geprägten Melanchthonbild nachzuspüren, ist zweifelsohne lobenswert. Die Vfn. hat materialreich vorgeführt, dass Phi-lipp Melanchthon auch vor den Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem kaiserlichen Religionsgesetz von 1548 kritisiert wurde. Zu fragen bleibt jedoch, warum sich negative Beurteilungen gegenüber ebenfalls vorhandenen gegenläufigen Bestrebungen Melanchthons und seiner Freunde, besonders des Joachim Camerarius, durchgesetzt haben, an welcher Stelle dies besonders geschah und schließlich auch, wie und bei wem es zu einer Verschmelzung verschiedener Kritikpunkte zu einem negativen Bild des Praeceptors kam, das bis in die heutige Zeit wirken konnte. Insgesamt bietet der Band eine sehr aufwändige, materialreiche Arbeit, die methodisch jedoch ein wenig kopflos wirkt.