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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

784–786

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stark, Thomas

Titel/Untertitel:

Symbol, Bedeutung, Transzendenz. Der Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. 734 S. gr.8 = Religion in der Moderne. Kart. DM 80,-. ISBN 3-429-01814-5.

Rezensent:

Ann-Kathrin Hake

Das Werk Ernst Cassirers ist in den letzten Jahren wieder stärker ins Blickfeld der philosophischen Forschung gerückt, nachdem es lange Zeit dafür keinen Raum zu geben schien jenseits der Methodenparadigmen der Hermeneutik einerseits und der sprachanalytischen Philosophie andererseits. Cassirers systematischer Ansatz ist ein Versuch, das klassische Problem des Verhältnisses von Ich und Welt erneut aufzuwerfen und unter den Bedingungen des Denkens der Moderne und der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zu beantworten. Der Schlüssel dazu liegt für Cassirer in der Analyse des "Zwischenreiches" zwischen Ich und Welt: nämlich der Objektivierungen des Subjekts in dessen Symbolisierungen der Welt sowie deren Genese und Funktion innerhalb der Kultur. Insofern hat man seine Philosophie unter den Schlagworten Symbolphilosophie und Kulturphilosophie gefaßt.

Cassirer hat seine Untersuchungen an verschiedenen symbolischen Formen vorgenommen, am Mythos, an Sprache, Staat, Recht, Technik. Der Bereich der Religion ist dabei unterbestimmt geblieben. Diesen Sachverhalt hat sich St. zum Anlaß genommen, hier das fehlende Element aus dem Kontext der Cassirerschen Kulturphilosophie heraus zu rekonstruieren und, mit Cassirer über Cassirer hinausgehend, die Funktion der Religion für die Kultur zu bestimmen. Es ist St.s systematischer Anspruch, die Wichtigkeit der Religion auszuweisen als diejenige Form der Kultur, die den Menschen vor dem Rückfall in mythisches Denken bewahren kann, wie es sich im zwanzigsten Jahrhundert im Totalitarismus dargestellt hat.

Den größten Teil der über siebenhundert Seiten umfassenden Dissertation, macht St.s Rekonstruktion der Philosophie Cassirers aus. In einem ersten Teil, der dem Symbolbegriff gewidmet ist, zeigt er, an welche Punkte der philosophischen Tradition Cassirers Kulturphilosophie der symbolischen Formen anknüpft. In dieser Absicht zeichnet er nach, wie Cassirer Motive aus der Kantischen Transzendentalphilosophie, der Humboldtschen Sprachphilosophie und der Hegelschen Entwicklungstheorie aufnimmt und umgestaltet und auf diese Weise die unter den Bedingungen der Moderne notwendige Transformation der Bewußtseinsphilosophie in eine Symbol- und Bedeutungstheorie leistet. Der zweite Teil des Buches hat den Mythos als Ursprung aller symbolischen Formen zum Thema. St. eröffnet das Kapitel mit einer an Cassirers eigenen Darstellung orientierten Übersicht über die Geschichte der Mythendeutung, insbesondere der platonischen. Vor diesem Hintergrund soll die Cassirersche Mythostheorie Konturen gewinnen. Der Mythos wird bei Cassirer bestimmt als Matrix aller symbolischen Formen und damit als Ausgangspunkt der Genese der Kultur. Im Ursprung der Genese der Kultur steht das mythische Bewußtsein in noch ungeschiedener Komplexion, das sich dann in die verschiedenen symbolischen Formen ausdifferenziert. Eine ausgearbeitete Theorie der Religion, ihrer Genese aus dem Mythos, ihrer Funktion innerhalb der Kultur ist von Cassirer nicht vorgelegt worden, sondern nur aus verstreuten Stellungnahmen zu erschließen. Vor dem Hintergrund der zwei sehr informativen Teile zum Kontext des Religionsbegriffes unternimmt St. im dritten Teil der Arbeit eine Rekonstruktion dieses Theoriestücks.

Bei der Durchführung dieses anspruchsvollen und für die Cassirer-Forschung wichtigen Projektes bleiben allerdings beim Leser Fragen offen. Diese hängen damit zusammen, daß St. neben dem historisch-rekonstruktiven ein systematisches Anliegen verfolgt, nämlich die Rehabilitierung der Religionsphilosophie und der Religion innerhalb der Kultur der Moderne.

Eine solche eher komplexe Aufgabenstellung ist eigentlich ein Vorzug, wenn die Rekonstruktion und das systematische Interesse klar voneinander unterscheidbar bleiben. Von einer Arbeit, die im ersten Teil penibel zwischen einer "quellenorientierten Darstellung" und einer "interpretierenden Rekonstruktion" unterscheidet, würde man nun eine ebenso penible Scheidung zwischen historischer Rekonstruktion der Vorlage und systematischer Weiterführung des eigenen Anliegens erwarten. Stattdessen blendet St. eigene religionsphilosophische Positionen und die seiner Gewährsleute (Hegels Religionsphilosophie, Schelers Personalismus) in den Cassirerschen Ansatz ein. Dies Verfahren hat zur Folge, daß es über weite Strecken so erscheint, als hätte Cassirer eine Religionsphilosophie (christlicher Provenienz) unmittelbar gedanklich vorbereitet und es nur unterlassen, diese Konsequenz auch tatsächlich zu ziehen.

Vielleicht weil der Punkt, an dem sich St. von der Cassirerschen Vorlage löst, nicht deutlich genug markiert wird, geschieht es, daß die für St.s Arbeit zentrale Frage, warum Cassirer keine Theorie der Religion ausgearbeitete hat, erst auf den allerletzten der 718 Textseiten problematisiert wird. Dadurch ist die für jeden religionsphilosophischen Ansatz entscheidende Frage: Philosophie oder Religion? oder: Philosophie und Religion? an den Rand gedrängt. "Trotz der erheblichen religionsphilosophischen Konsequenzen, welche die Kulturphilosophie Cassirers nach sich zieht, bleibt für Cassirer selbst die Frage nach der Religion offen. Wie der Kantianer Cassirer seine ontologische Abstinenz nicht zu überwinden vermochte, so vermochte der liberale Großbürger und ,Olympier’ Cassirer sich - im Gegensatz übrigens zu seinem Lehrer Cohen - nicht in die Niederungen des persönlichen Bekenntnisses zu einer konkreten Religion herabzulassen, sondern wahrte hier stets den diskreten Abstand des Goetheaners" (716). Daß sich Cassirer für die Philosophie entschieden hat, ohne die Quadratur des Kreises versucht zu haben, nämlich die Verbindung beider Bereiche zu einer Einheit, die beiden Elementen gerecht wird, sollte bei einer Arbeit, die laut Untertitel den "Religionsbegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers" zum Thema hat, zur Genauigkeit und Vorsicht mahnen. Dem steht allerdings die programmatische Ankündigung des Autors in der Einleitung gegenüber, sich nicht für "Cassirers persönliche weltanschauliche oder religiöse Präferenzen" (21) interessieren zu wollen.

Man hätte sich auch an einem weiteren Punkt eine stärkere Problematisierung gewünscht. Die generelle Schwierigkeit, die sich für die vorliegende Arbeit aus der jüdisch-christlichen Konstellation ergibt, thematisiert der Autor nicht in angemessener Weise. Daß Cassirer bei aller Abstinenz im religiösen Bereich bei seiner Deutung der Prophetie im Geiste eines zukunftsorientierten, ethischen Monotheismus einen eher ethischen Zugang zur Religion wählt, wird von St., trotz des Hinweises auf Cohens (dezidiert jüdische) Religionsphilosophie, mit der Cassirer diese Charakteristik teilt, als ein Verbleiben im "Bannkreis der Exegese des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts" (562) gedeutet und nicht etwa mit dem Umstand in Verbindung gebracht, daß es sich bei Cassirer um einen Cohenschüler und um einen vom Judentum geprägten Philosophen handelt.

Einen Beobachter der mittlerweile regen Publikationsaktivitäten zu Cassirer mag es - nun mit Blick auf die Formalia und jenseits der methodischen und inhaltlichen Fragen, die man an St.s Arbeit stellen muß - verwundern, ein für Dissertationen eher ungewöhnliches Literaturverzeichnis zu finden und Fußnoten, in denen, neben den Verweisen auf Platon, Kant und Hegel sowie auf Zeitgenossen Cassirers, kaum Verweise auf Forschungsliteratur von Zeitgenossen St.s zu finden sind. Eine Diskussion der eigenen Interpretationen und Positionen vor dem Hintergrund der neuesten Forschungsergebnisse muß man suchen. Durch kurze Hinweise auf Entwicklungen der Forschung oder auf Aspekte, die zwar erwähnenswert sind, jedoch abseits des zu gehenden Argumentationsweges liegen, hätte St. sich manche Seite sparen und zudem den roten Faden der Arbeit stärker herausarbeiten können.