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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

636-639

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Pajunen, Mika S.

Titel/Untertitel:

The Land to the Elect and Justice for All. Reading Psalms in the Dead Sea Scrolls in Light of 4Q381.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 420 S. m. 12 Abb. = Journal of Ancient Judaism. Supplements, 14. Geb. EUR 69,99. ISBN 978-3-525-55060-1.

Rezensent:

Ulrich Dahmen

Neben dem protomasoretischen Psalter gab es in frühjüdischer Zeit eine ganze Reihe weiterer Psalmen-, Gebets- oder Liedsammlungen, von denen wir u. a. durch die Hodayot, durch 4Q434–438 (BarkiNafshi), 4Q510–511(Shira.b), 11Q11(PsApa) oder durch die nur griechisch überlieferten Psalmen Salomos Kenntnis haben. Diese Psalmen können gänzlich eigenständig sein, im Prosa- oder Parallelismus-Stil verfasst sein oder auch mehr oder weniger intensiv protomasoretische Psalmen rezipieren und verarbeiten. Hierzu gehört auch die Handschrift 4Q381, der sich Mika S. Pajunen in seiner von Raija Sollamo betreuten Dissertation an der Universität Helsinki widmet. Der Untertitel ist ein wenig missverständlich, insofern hier nicht Psalmen aus der Wüste Juda »angesichts/vor dem Hintergrund von« 4Q381 gelesen werden, sondern genau diese fragmentarische Sammlung apokrypher Psalmen, die möglicherweise mit einer kleinen Sammlung von Königsgebeten (24 f.) abschloss, materiell rekonstruiert und inhaltlich untersucht wird. Sie sind nach Themen (u. a. Schöpfung; Israel), Genre, Stil und In­halt recht unterschiedlich, zeichnen sich aber alle dadurch aus, dass sie längere Passagen aus biblischen Psalmen (Ps 18.69.76.86.89 u. a.) zitieren oder einspielen, sowie durch ihr gemeinsames weisheitliches Gepräge.
Sein Arbeitsprogramm umschreibt der Vf. mit folgenden Schritten: materielle Rekonstruktion mit der Methode nach Stegemann/Steudel (28–33.91–142), inhaltliche Einzelanalyse der Psalmen (34–38.143–271); Traditions- und Motivgeschichte (38–49.273–317) und Pragmatik und Funktion von 4Q381 (49–54.319–368). Die beiden letzten Punkte greifen teilweise ineinander. Der Abriss über weitere apokryphe Psalmensammlungen (55–90) stellt die Untersuchung in einen weiteren Kontext ein, wäre aber im Blick auf die Stringenz der Arbeit nicht zwingend notwendig gewesen.
Die materielle Rekonstruktion (91–113) ist anerkanntermaßen problematisch und schwierig, was bereits durch die deutlichen Differenzen gegenüber dem ersten Versuch von Stegemann/Schuller angedeutet ist. Weder die je konkrete Kolumnenbreite/Zeilenlänge noch die Kolumnenhöhe/Zeilenanzahl pro Kolumne (vgl. aber 95: 15,8 cm und 20 Z.) sind präzise eruierbar; hinzu kommt, dass einzelne Fragmente »geschrumpft« bzw. »verschrumpelt« sind (97), so dass auch die mathematische Berechnung und Auswertung von wiederkehrenden Zerstörungsmustern nicht immer greift. Daneben gibt es unnatürliche Zerstörungsmuster, die darauf hindeuten, dass die Rolle in der Antike etwa in der Mitte quer durchtrennt wurde (94 f.); allerdings gibt es deutliche und sehr hilfreiche Unterschiede zwischen dem Erscheinungsbild von Fragmenten der unteren und der oberen Hälfte der Rolle (106). Ebenso schwierig zu bestimmen ist, ob unbeschriebenes Leder zum oberen/unteren Kolumnenrand gehört oder Leerzeilen (Trennungsmarker) zwischen einzelnen Psalmen anzeigt (95). Und schließlich sind die Fragmente inzwischen so (chemisch) konserviert und fixiert, dass auch eine Untersuchung am Original nicht mehr alle Details preisgibt (99). Das Grundproblem der hier vorgelegten materiellen Rekonstruktion besteht darin, dass kaum einmal präzise Maß- und Zahlenangaben gemacht werden. Deutlich scheint zu sein, dass aufgrund von Lederdicke/-beschaffenheit und äußerem Erscheinungsbild die Fragmente auf drei separate Lederbögen zu verteilen sind (96.100–105.137); aber eine Aussage: »the spacing between fragment 76–77 lines 6–16 match exactly with the other bottom fragments« (95) ist nicht mehr plausibel nachvollziehbar, da sowohl exakte Angaben als auch Vergleichsdaten fehlen.
So ist denn auch die Aussage, dass der Zeilenabstand regelmäßig ist und zwischen 0,6 und 0,8 cm variiert (110), viel zu allgemein. Dass er in den Kolumnen eines durch »dry lines« vorbereiteten Lederbogens identisch ist, ist eine Selbstverständlichkeit (anders 110); spannend wäre ein Vergleich zwischen den Zeilenabständen auf den verschiedenen Lederbögen gewesen – kleine Differenzen zwischen analogen Zeilen könnten hier argumentative Kraft gewinnen; aber dies unterbleibt. Es wird notiert, dass es eine Reihe wiederkehrender Zerstörungsmuster gibt (108), aber ihre konkrete Auflistung und Beschreibung findet man bis auf wenige Andeutungen nicht. Wichtige Informationen, z. B. dass die Rolle »richtig herum« (mit dem Textende innen) gewickelt war, über die Wicklungszunahme (0,5 cm) oder über den kürzesten Abstand der Zerstörungsmuster (7,2 cm) werden eher en passant mitgeteilt (108), aber keine weiteren Schlüsse daraus gezogen: So ist überhaupt nicht ausgemacht, dass 4Q381 mit Fragm. 31 endete (111); vom kürzesten, materiell belegten Wicklungsabstand lassen sich plausibel noch weitere Wicklungen zurückrechnen, die Platz für 1–2 Kolumnen plus handle-sheet böten. Manche reklamierten Übereinstimmungen von Zerstörungsspuren (109) sind für den unkundigen Leser nicht nachvollziehbar und bräuchten eine ausführlichere Begründung. Über Nahtränder, die üblicherweise über 1–2 Wicklungen sichtbare Abdruckspuren hinterlassen haben, wird gar nicht gehandelt; sie müssten auf den Fragm. 24 und 46 sowie (weil zwischen ihnen ein Nahtrand vermutet wird) auf den Fragm. 33 und 45 nachweisbar sein. Misslich ist auch, dass nicht der Versuch unternommen wurde, die Fragm. 53 (mit Kolumnentrenner) oder die Fragm. 93 und 85 (mit ihren markanten horizontalen Rändern; vgl. auch Fragm. 3.7.8.93.94.96) einzuordnen, wie überhaupt über die nicht berücksichtigten Fragmente kein Wort verloren wird.
Nichtsdestotrotz ist das Ergebnis (113–142) eindrucksvoll, auch wenn viele Fragen offen bleiben: z. B. warum sich das Zerstörungsmuster von Fragm. 31 nicht in Fragm. 15 (nächste äußere Wicklung) wiederfindet, oder warum die markanten horizontalen Zerstörungsspuren nicht auf einer horizontalen Ebene angeordnet werden (besonders Fragm. 28 und 29!)? Wenn die Einzel- (114.117. 120.122.124.126.129.131.134) wie die Gesamtdarstellung (140–142) maßstabgerecht ist, dann irritiert die Disparatheit der Fragmente in aufeinanderfolgenden Umwicklungen.
Der materiell rekonstruierte Textbestand enthält auf neun noch erhaltenen Kolumnen insgesamt acht Psalmen, die von der Schöpfung/Menschheit (I,1–II,10) über Israel (II,11–IV,5) auf eine Gruppe von Erwählten (IV,7–V,11) engführen, denen fünf Königspsalmen folgen: eines Gottesmannes (David?; V,13–VI,7), Hiskija (VI,8–VII,16), Manasse (VII,17–VIII,9), Joschija (VIII,10–IX,12) und Jojachin (IX,14–19). Die Abgrenzungen sind nicht immer gesichert: Der Schöpfungspsalm benötigt noch Prätext vor I,1, d. h. die Rolle war umfangreicher; sein Ende wird nicht durch Sela (vgl. V,12; VII,16), a ber durch eine 2/3 Leerzeile plausibel gemacht. Der Israelpsalm ist nach vorn entsprechend abgegrenzt und zeichnet sich durch eine füllige Terminologie (»Gemeinde der Allerheiligsten, Los des Königs der Könige«) aus; das Ende wird in einer nicht sicher identifizierbaren Leerzeile (IV,6) vermutet, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass im materiell nicht belegten III,11–20 dieser Psalm endete und ein neuer Psalm begann. Der Psalm einer erwählten Gruppe hat entsprechend keinen gesicherten Beginn, aber ein klares, durch Sela plus 3/4 Leerzeile angezeigtes Ende. Der Gottesmannpsalm ist durch Titel und Autorenangabe klar markiert, sein Ende jedoch offen, so dass unklar bleibt, ob zwischen VI,7 und 10 ein neuer Psalm beginnt und – wenn ja – wo genau. Das nächste Psalmende ist in VII,16 durch Sela und kurzes freies Zeilenende je­denfalls klar markiert. Der folgende Manassepsalm ist durch Titel und Autorenangabe sowie durch 2/3 freies Zeilenende in VIII,9 sicher abgegrenzt. Dann muss der folgende Psalm in VIII,10 begonnen haben, er wird durch freies Zeilenende und die fragmentarische neue Autorenangabe in IX,12–13 beendet. Es muss betont werden, dass die Zuweisung der Psalmen zu konkreten judäischen Kö­nigen (außer Manasse; VII,17) rein hypothetisch ist; wenn man – wie der Vf. – die letzten Könige vor dem Exil annimmt, stellt sich die Frage, warum Joahas und Jojakim fehlen. Auch die »Gottesmann«-Titulatur ist nach den biblischen (prophetisch und mosaisch) und qumranischen (Mose; 4Q377 2 ii 10) Vorgaben nicht so einfach auf David engzuführen, auch wenn es spätbiblische Parallelen gibt (188 f.); hier müsste viel ausführlicher argumentiert werden.
Für jeden einzelnen Psalm werden Textanmerkungen, Übersetzung, Kurzkommentare und eine Motiv- und Traditionsgeschichte geboten (143–271). Besonders hilfreich sind die Beobachtungen zu Sprache und Stil, Eigenbezeichnungen der Beter (276 f.; dabei bleibt die Titulatur »Gemeinde der Allerheiligsten, Los des Königs der Könige« in II,11 gänzlich unberücksichtigt), zur Rezeption biblischer Texte (284 f.) mit bestimmten Schwerpunkten (291) und zum weisheitlichen Charakter (292–298; solche poetisch-weisheitlichen Transformationen sind z. B. aus den nachexilischen Ps 15 und 24 bekannt). Ein letztes Kapitel (319–368) versucht eine breitere Einordnung dieser Psalmensammlung in die Theologiegeschichte und Weisheitsliteratur der spätnachexilischen Zeit.
4Q381 und dieses Buch sind ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig sich eine Rekonstruktion von bis dato gänzlich unbekannten Texten darstellt, zu denen es keine Paralleltexte gibt und deren materielle Grundlage so begrenzt, so unsicher und von un­klarer Aussagekraft ist. Es bleibt letztlich ein Glasperlenspiel mit ganz und gar hypothetischen Ergebnissen. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Qumranforschung, ein weiterführender und diskussionswürdiger Entwurf zu 4Q381 sowie eine erhellende Skizze zur Rezeptionsgeschichte biblischer Texte und zur Kreativität theologischer Autoren in frühjüdischer Zeit.