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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

629-631

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kreuzer, Siegfried, u. Marcus Sigismund [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Antiochenische Text der Septuaginta in seiner Bezeugung und seiner Bedeutung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 284 S. = De Septuaginta Investigationes, 4. Geb. EUR 99,99. ISBN 978-3-525-53608-7.

Rezensent:

Michael Pietsch

100 Jahre nach dem Erscheinen der einflussreichen Studie von A. Rahlfs über »Lukians Rezension der Königebücher« (1911) hat das Institut für Septuaginta und biblische Textforschung der Kirch-lichen Hochschule Wuppertal/Bethel eine internationale Tagung veranstaltet, die angesichts der jüngsten Neubewertung des lukianischen oder besser: antiochenischen Textes für die alttestament-liche Text- und Literaturgeschichte der Frage nach dessen histo-rischem und textgeschichtlichem Ort gewidmet war und deren Vorträge im vorliegenden Band dokumentiert werden. Der Sammlung ist eine allgemeine Einführung in den gegenwärtigen Forschungsstand zum antiochenischen Text aus der Feder von S. Kreuzer, einem der beiden Herausgeber, vorangestellt (deutsch/englisch, 9–20).
Die Sammlung selbst ist in vier Sektionen unterteilt. Die erste Sektion (»Grundfragen und Grundlagen«) wird durch den Beitrag von S. Kreuzer »Der Antiochenische Text der Septuaginta. Forschungsgeschichte und eine neue Perspektive« (23–56) eröffnet, der zu dem Ergebnis gelangt, dass der antiochenische Text sich nicht nur in den Abschnitten der kaige-Rezension als die ältere Textform erweise, sondern dass dieses Urteil für die gesamte Textüberlie-­ferung der griechischen Königebücher gelten müsse, in denen durchgängig eine isomorphe, hebraisierende Bearbeitung festgestellt werden könne (»semikaige-Bearbeitung«, 51). Es sei daher mit einer mehrstufigen Entstehungsgeschichte des griechischen Textes zu rechnen, die durch fortlaufende hebraisierende Bearbeitungen gekennzeichnet ist. Unter der Voraussetzung, dass letztere vornehmlich im palästinischen Raum beheimatet gewesen seien, erklärt sich die längere Überlieferung der älteren Textform in den Randgebieten der Verbreitung der Septuaginta. – Methodisch plädiert K. dafür, der Untersuchung zusammenhängender Texteinheiten gegenüber einer Einzelfallprüfung den Vorrang einzuräumen, da Letztere »faktisch […] nicht ohne vorher gewonnene Ge­wichtungen und Bewertungen auskommt« (52). Gegen eine solche einseitige Option ist jedoch einzuwenden, dass die textkritische Analyse stets beide Perspektiven zu verbinden hat: jede einzelne Variante ist in ihrem engeren und weiteren literarischen Zusammenhang zu beurteilen (z. B. Makrokontext, Übersetzungstechnik) wie umgekehrt jede übergreifende textgeschichtliche Theoriebildung am Einzelbefund zu prüfen und auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen ist.
N. Fernández Marcos, der sich um die Erforschung und Edition des antiochenischen Textes besonders verdient gemacht hat, greift in seinem Beitrag (»The Antiochene Edition in the Text History of the Greek Bible«, 57–73) dagegen auf das textgenetische Modell von Rahlfs zurück und betont den rezensionellen Charakter der antiochenischen Textform. »The Antiochene text as we know it today, is to a large extent […] the result of recensional and editorial activity.« (66) Diese Feststellung schmälere nicht den textgeschichtlichen Wert des antiochenischen Textes, der häufig ältere Lesarten biete, die vom masoretischen Text abweichen, warne jedoch davor, ihn pauschal als älteste Textform der Septuaginta zu kategorisieren. Dabei ist der Hinweis bedeutsam, dass der antiochenische Text mehrere Bearbeitungsstufen erkennen lasse, die auf eine komplexe Überlieferungsgeschichte hinweisen, der nicht mit der vereinfachenden Unterscheidung zwischen einem älteren Textsubstrat und dessen späterer, »lukianischer« Bearbeitung beizukommen ist.
V. Spottorno Díaz-Caro widmet sich in ihrem Beitrag »The Status of the Antiochene Text in the First Century A. D. Josephus and the New Testament« (74–83) und kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl Josephus als auch die neutestamentlichen Schriftsteller die frühe Verbreitung der antiochenischen Textform belegen, ohne dass die Studie eine tiefergehende hermeneutische Reflexion hinsichtlich der Überlieferungslage und der methodischen Schwierigkeiten bei der Identifikation sogenannter protolukianischer Lesarten enthielte (vgl. dazu T. Kauhaanen, The Proto-Lucianic Problem in 1 Samuel, Göttingen 2012).
Die zweite Sektion enthält Studien zum »Antiochenische(n) Text in der alttestamentlichen Überlieferung«. Sie wird eröffnet durch einen Beitrag von F. Albrecht, der »Die lukianische Rezension und ihre Bezeugung im Zwölfprophetenbuch« (87–108) untersucht. Der verantwortliche Herausgeber der editio altera des Dodekapropheton in der Göttinger Septuaginta pflichtet der früheren Ansicht von Rahlfs und J. Ziegler bei, dass der antiochenische Text auf einer stilistischen Revision des älteren griechischen Bibeltextes beruhe, die sich an der Hexapla des Origenes orientiert habe, genauer an der vierten Spalte der Hexapla, der auf Symmachus zurückgeführten Textform. Auf diese Weise ließen sich sowohl die stilistischen Änderungen als auch die Angleichungen an die masoretische Textform ohne Schwierigkeiten erklären, wie Albrecht anhand der Doppelübersetzungen in Hos 6,11 und Joel 1,17 zu zeigen versucht.
Besondere Aufmerksamkeit verdient der umsichtig argumentierende Artikel von P. Hugo (»Die antiochenische ›Mischung‹. L zwischen Altem und Neuem in 2 Samuel«, 109–132), der nicht nur einen Einblick in die Werkstatt des Bearbeiters von II Regnorum für die Göttinger Septuaginta gestattet, sondern vor allem durch einen hohen Grad an methodischer Reflexion besticht. Hugo präsentiert zunächst eine kurze Einführung in die aktuelle Forschungsdiskussion und bestimmt die antiochenische Textform als »Mischtext«, der neben alten Lesarten solche rezensioneller oder revisorischer Provenienz biete. Daraus folgert er, dass der gegenwärtige Antagonismus, den antiochenischen Text entweder pauschal als Träger der ältesten Septuaginta oder als sekundäre, attizierende Bearbeitung zu klassifizieren, seinen literarischen Charakter verkenne. Da der antiochenische Text sowohl innerhalb als auch außerhalb der kaige-Sektionen in I–IV Regnorum ältere wie jüngere Lesarten bezeuge, stelle sich die Frage nach der textgeschichtlichen Priorität bei jeder Variante neu, so dass methodisch kein Weg an einer Einzelfallprüfung vorbeiführe. Hugo illustriert dies exemplarisch anhand einer textgenetischen Analyse von 2Sam 3,8 und 39 sowie 2Sam 19,10–13 ( kaige) und kommt zu dem abschließenden Ergebnis, »dass B und L (zwar) die besseren Zeugen der ursprünglichen LXX sind, jedoch keiner von ihnen in reiner Form. B enthält nicht nur in, sondern auch außerhalb von den kaige Sektionen rezensierte Lesarten, und L ist eindeutig ein gemischter Zeuge: er enthält viele ursprüngliche Lesarten, aber bezeugt gleichzeitig rezensierte Formen, die durch den Einfluss der hexaplarischen Rezension eingetragen wurden, sowie eine ziemlich breite stilistische Revision.« (129) Ein unterliegendes »hebräisches Muster« sei für die antiochenische Textform hingegen nicht nachweisbar (ebd.). Im Anschluss an die klärenden Ausführungen Hugos sei nur angemerkt, dass sich der eigentümliche literarische Charakter des antiochenischen Textes (wie der gesamten griechischen Textüberlieferung!) vielleicht am einfachsten als das Resultat eines kontinuierlichen Re­zensions- und Revisionsprozesses verstehen ließe, der nachweislich bereits im 1. Jh. v. Chr. einsetzt.
Th. J. Kraus zeichnet im letzten Beitrag dieser Sektion (»Der lukianische bzw. antiochenische Text der Psalmen in Papyri und Inschriften«, 133–159) am Beispiel von Ps 90 die Rezeption antiochenischer Lesarten des Psalters seit dem 4. Jh. n. Chr. in religiösen Gebrauchstexten im kleinasiatischen Raum nach. Mag das Resultat der Studie selbst wenig überraschend sein, so sind doch die Hinweise auf die methodischen Schwierigkeiten, die sich bei der textgeschichtlichen Interpretation vereinzelter Psalmverse oder Psalmkompositionen stellen, wie sie etwa auf Amuletten oder in Grabinschriften begegnen, für eine zukünftige Auswertung des epigraphischen Materials unbedingt zu beachten.
Die beiden Beiträge der dritten Sektion (»Der Antiochenische Text im Neuen Testament«) wenden sich der neutestamentlichen Textgeschichte zu.
J.-H. Kim (»Zu den Textformen der neutestamentlichen Zitate aus dem Zwölfprophetenbuch«, 163–178) will den Nachweis führen, dass die frühchristlichen Autoren verschiedene Textformen des Alten Testaments kannten, einschließlich des antiochenischen Textes. Der Aufweis »protolukianischer« Lesarten in den Zitaten des Dodekapropheton im Corpus Paulinum bzw. im Hebräerbrief vermag jedoch nicht restlos zu überzeugen. So kann etwa für das Zitat aus Hab 2,3b–4 in Hebr 10,37 f. kaum entschieden werden, ob der Verfasser hier die antiochenische oder alexandrinische Textform voraussetzt.
M. Meiser (»Antiochenische Textformen in neutestamentlichen Psalmzitaten in der Rezeption der christlichen Antike – eine textkritische Spurensuche«, 179–196) geht der Frage nach, ob in neutestamentlichen Psalmzitaten bei den altkirchlichen Schriftstellern (bisweilen gegen den neutestamentlichen Wortlaut) antiochenische Lesarten begegnen. Die schmale Textgrundlage und die hermeneutischen Eigenheiten der altkirchlichen Schriftauslegung erschweren jedoch eine klare textgeschichtliche Argumentation, so dass im Ergebnis wenig mehr als »es gibt nichts, was es nicht gibt« (195) festgehalten werden kann.
Die letzte Sektion umfasst zwei Beiträge, die dem »Antiochenische[n] Text in den Versionen« gewidmet sind.
A. Schenker (»Der Platz der altlateinischen Randlesarten des Kodex von León und der Valvanera-Bibel in der biblischen Textgeschichte [1–4 Kgt]«, 199–210) führt den überzeugenden Nachweis, dass die Randlesarten der von ihm untersuchten altlateinischen Bibelhandschriften zu dem späten, hexaplarischen Einschub in 1Kön 14,7–15 auf einen Vergleich zweier altlateinischer Manuskripte zurückgehen. Der Scholiast habe jeweils die abweichende, seltenere Variante auf dem Rand der von ihm kopierten Handschrift notiert. Die Randlesarten gewähren somit einen genaueren Blick in die Textgeschichte der altlateinischen Bibel und den Vorgang ihrer Weitergabe.
Der Beitrag von M. Sigismund (»Die gotischen Nehemia-Fragmente«, 211–265) stellt abschließend die Bedeutung der gotischen Bibelfragmente für die Rekonstruktion des antiochenischen Textes heraus. Sigismund erwägt, dass selbst an solchen Stellen, an denen Got mit der Vetus Latina gegen die übrigen antiochenischen Handschriften liest, Got den ursprünglichen antiochenischen Text bewahrt haben könne.
Der interdisziplinär angelegte und höchst informative Sammelband wird durch ausführliche Stellen-, Namen- und Sachregister vorbildlich erschlossen.