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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

626-629

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Janowski, Bernd, u. Enno Edzard Popkes[Hrsg.] [Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Hertel u. C. Wiest.]

Titel/Untertitel:

Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VIII, 405 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 318. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-152991-7.

Rezensent:

Otto Kaiser

Das Problem der Anwesenheit Gottes scheint auf den ersten Blick ebenso einfach zu sein, wie es sich bei genauerem Mustern der Quellentexte kompliziert: Denn während er auf Erden im Adyton seines Tempels gegenwärtig ist, der eben deshalb als »Haus Gottes« bezeichnet wird, ist er dank der für das frühe Denken charakteris­tischen participation mystique gleichzeitig in seinem eigentlichen Heiligtum anwesend, das auf einem Berge oder im Himmel liegen mag, wobei beide Vorstellungen ineinander verfließen können. Darüber hinaus kann Gott z. B. als Helfer in der Schlacht und als Unheil sendender Richter auf Erden eingreifen. Kompliziert sich das Problem im Horizont polytheistischer Religionen, so scheint es in dem der biblischen Religion und des nachbiblischen Judentums einfach zu sein, weil der Mensch es am Ende allezeit und an allen Orten stets nur mit dem einen Gott zu tun hat. Dagegen kompliziert es sich im Bereich des neutestamentlichen und altkirchlichen Christentums erneut, weil nun Jesus Christus als der Sohn des einen Gottes neben den Vater tritt, bis schließlich das trinitarische Bekenntnis des Athanasius zu der Dreifaltigkeit des einen Gottes die Kirche davor bewahrt hat, dass sich der christliche Glaube in immer neuen Versuchen, die Göttlichkeit Jesu neben der des Vaters zu erklären, in einer nicht endenden Diskussion aufgelöst hat.
Der hier vorgestellte, von Bernd Janowski und Enno Edzard Popkes herausgegebene Band enthält die 16 Vorträge, die im Rahmen des Symposions über die Schechina-Vorstellung vom 26. bis 28. März 2010 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls Universität Tübingen gehalten worden sind. Bei der Edition wurden die beiden Herausgeber durch Stefanie C. Hertel und Cordula Wiest unterstützt. Von den 16 Beiträgen behandeln je acht die Schechina-Vorstellungen im Judentum bzw. im Christentum, woraus sich die Gliederung des Bandes in seine zwei Teile ergibt.
Bernd Janowskis den ersten Teil einleitender Vortrag nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er das Phänomen des Glaubens an die Gegenwart Gottes religionsgeschichtlich am Beispiel der altorientalisch-ägyptischen Idee der Einwohnung Gottes im Bild erläutert (5–10), um dann ihre israelitische Ausgestaltung dieser Vorstellung in vorexilischer Zeit zu skizzieren, in die er angesichts der neueren redaktionsgeschichtlichen Forschung nicht unproblematisch die sogenannte Denkschrift Jesajas (Jes 6,1–8,18*) (10–11) und die Namenstheologie des dtr Tempelweihgebetes (1Kön 8,14–66*) einordnet, die sicherstellt, dass der von Israel angerufene Name Jahwes auch nach der Zerstörung des Tempels bewirkt, dass die Gebete Israels von dem im Himmel weilenden Gott erhört werden (vgl. auch Dtn 12,11). Weiterhin zieht er die Linie der Präsenztheologie über die Ezechielschule, die Priesterschrift und den Propheten Sacharja bis zu Sir 24 aus (18–34), um sich dann der johanneischen Christologie zuzuwenden, so dass sich eine Linie abzeichnet, die von der inhabitatio, der Einwohnung, zur incarnatio, der Fleischwerdung, führt (37–39).
Es folgen die Beiträge von Rüdiger Lux, »Jerusalem – Stadt der Treue. JHWHs Schekina in Zion nach Sacharja 1–8« (41–64); Martin Leuenberger, »Die personifizierte Weisheit als Erbin der alttestamentlichen Schechina«, der die frühhellenistischen Personifikationen der Weisheit in Spr 8, Sir 24 und 1Hen 42 be­handelt (65–84); Enno Edzard Popkes, »Vorstellungen von der Einwohnung Gottes in der Tempelrolle 11QT 29,7b–10 und die Entwicklungsgeschichte frühjüdischer Schechina-Vorstellungen« (85–101); Jutta Leonhard-Balzer, »Vorstellungen von der Gegenwart Gottes bei Philo von Alexandrien«, die besonders die Bedeutung des Logos als Mittler zwischen Gott und den Menschen hervorhebt (103–118); Peter Schäfer, »Denn ich will unter ihnen wohnen. Die Schechina der Rabbinen«, nach deren Lehre Gott aus Liebe zu seinem Volk Israel unter den Menschen Wohnung nahm, wobei dem männlichen Gott Israel als seine Gemahlin gegenübergestellt werden konnte (119–138); Elke Morlok, »Erotische Anziehung und doppelte Konstruktion der Schechina in der kabbalistischen Literatur« (139–156), und schließlich mit einem Sprung in die jüngste Vergangenheit der Beitrag von Matthias Morgenstern, »Die Schechina zwischen Halacha und Aggada. Versuch über ein Gedicht Ch. N. Bialiks im Gespräch mit Gershom Scholem« (157–174).
Der zweite Teil, der den Schechina-Vorstellungen im Christentum gewidmet ist (175–360), schlägt in seinen acht Beiträgen einen großen Bogen von der synoptischen Christologie bis zu entsprechenden Vorstellungen in England und seinen Kolonien im 17. und 18. Jh.
Am Anfang steht der Aufsatz von David du Toit, »Motive der Gottesgegenwart in der Synoptischen Tradition« (177–202). In ihm kommt du Toit zu dem Ergebnis, dass sich Jesus wahrscheinlich als Träger des Geistes Gottes verstanden und seine Geistergriffenheit eine entscheidende Rolle bei seinen Heilungen und Exorzismen gespielt hat. Seine Vollmacht wurde in der Logienquelle und im Markusevangelium auf seine Boten übertragen, während bei Matthäus die Gemeinde des gegenwärtigen Erhöhten als Ort der Einwohnung Gottes den Bau des Tempels ablöst. Samuel Vollenweider zeigt in seinem Beitrag »Göttliche Einwohnung. Die Schechina-Motivik in der paulinischen Theologie« (203–217), dass der Apostel Paulus das Problem der Anwesenheit Gottes in ähnlicher Weise gelöst hat; denn nach ihm verwandelt das Einwohnen Gottes, Christi und des Geistes in der Kirche die Gemeinde in einen sündenfreien Raum, weil sie ihrerseits an Gottes Heiligkeit teilhat. An­schließend zeigt Hermann Lichtenberger in seinem Beitrag »Das Motiv der Einwohnung in der Ekklesiologie des Epheserbriefs«, dass das Problem der Gegenwart Gottes in der deuteropaulinischen Tradition mittels der Beziehung zwischen Christus als dem Haupt und der Gemeinde als dem Leib Christi gelöst wird (219–229). Weiterhin gibt der Beitrag von Jörg Frey »Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus« einen Einblick in den komplexen traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Logos-Christologie in Joh 1,14, nach der der praeexistente göttliche Logos in dem irdischen Leib Christi Fleisch und d. h. Mensch geworden ist (231–256). Anschließend stellt Franz Thóth, »Die Schechina-Theologie in der Offenbarung des Johannes«, ihre Aufnahme der in der alttestamentlichen Tempeltheologie verwurzelten Schechinavorstellung als Ziel- und Höhepunkt biblischen Redens von Gott vor: In Apk 7,9–15 partizipiert das Gottesvolk am himmlischen Kult, während Gottes Wohnen bei den Seinen noch aussteht, weil es sich erst am Ende ereignet (Apk 21–22). Dagegen geht aus dem Hymnus der Völker in Apk 15,13b–14 hervor, dass das sich anbahnende Zornesgericht, in dem die Engel die sieben mit dem Zorn Gottes gefüllten Schalen über die Erde ergießen, nicht sein letztes Wort ist. In der neuen Schöpfung aber wohnt Gott nach Apk 21,3–4 inmitten der Menschen (257–304). Anschließend zeigt Tobias Nicklas, dass sich die neutestamentliche Tendenz der Ablösung der Gottesverehrung von bestimmten Kultorten als Gottes Wohnsitzen zugunsten von Aussagen über seine Transzendenz und seine Ge­genwart in den Christen fortsetzt (»Altkirchliche Diskurse um das ›Wohnen Gottes‹: Eine Spurensuche bis zur Zeit der Konstantinischen Wende«, 305–324). Vermutlich sparen die Vorträge das Thema der Anwesenheit Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist in der trinitarischen Theologie von Nicaea und Chalcedon aus, weil es sinnvoll nur monographisch zu behandeln ist. Stattdessen eröffnet der Seitenblick auf Gregor von Nyssa, den Gebildetsten unter den kappadokischen Vätern, einen Einblick in seine überraschende Lehre von der Schönheit des Menschen als Spiegel der Schönheit Gottes. Gregor, der die Lehren von Philo und Origenes über die Praeexistenz der Seele verwarf, vertrat die sich im Gewissen äußernde Verwandtschaft des Menschen mit Gott. Nach ihm vermag sich der Mensch mittels der sittlichen Reinigung zur Anschauung Gottes zu erheben und dabei paradoxerweise in der Selbstanschauung seine eigene Schönheit als eine Spiegelung der Schönheit Gottes zu erkennen (Vasile Hristea, »Einwohnung der Herrlichkeit. Gregor von Nyssas Auffassung der Gegenwart Gottes im Menschen«, 325–339). Der abschließende Beitrag von Paul Silas Peterson führt in die britische Diskussion der Bundestheologie im 17. und frühen 18. Jh. ein, in der es um die Verteidigung des inneren Zusammenhangs zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ging, der von Lelio Sozzini und Hugo Grotius bestritten war, mittels der Schechinavorstellung (»Schechina-Vorstellungen in der Bibelauslegung des 17. und 18. Jh.s in England und in den britischen Kolonien in Nordamerika«, 341–360).
Es ist das Verdienst des Sammelbandes, dass er das Problem der Gegenwart Gottes im Himmel, auf Erden und zumal in seiner Gemeinde nachdrücklich in Erinnerung ruft. Wer es lückenlos behandeln wollte, müsste eine unter diesem Gesichtspunkt verfasste Theologie der beiden Testamente und einen Abriss der ganzen Kirchengeschichte vorlegen. Die Herausgeber haben sich für eine Auswahl entschieden, die ausreicht, nachdrücklich auf die für den Glauben an einen persönlichen Gott grundlegende Frage nach dem Geheimnis seiner Gegenwart hinzuweisen, und die Mitarbeiter haben sich erfolgreich bemüht, exemplarische Beispiele ihrer Beantwortung aus der langen Geschichte des Juden- und des Chris­tentums vorzustellen.