Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

625-626

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hartlieb, Elisabeth, u. Cornelia Richter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Emmaus – Begegnung mit dem Leben. Die große biblische Geschichte Lukas 24,13–35 zwischen Schriftauslegung und religiöser Er­schließung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2013. 278 S. m. Abb. u. 1. Tab. Kart. EUR 28,90. ISBN 978-3-17-021375-3.

Rezensent:

Mirjam Zimmermann

Der von den beiden Professorinnen für Systematische Theologie Cornelia Richter (Köln) und Elisabeth Hartlieb (Marburg, jetzt als Klinikseelsorgerin tätig) herausgegebene Band erschließt die Em­mauserzählung Lk 24,13–35 umfassend in exegetischer, wirkungsgeschichtlicher, systematischer und praktisch-theologischer Perspektive. Dabei werden besonders Fragen zur Hermeneutik, zum Schriftverständnis, zur Christologie und mögliche mediale Präsentationen bzw. Transformationen in den Blick genommen.
Der Band ist das Ergebnis eines zu Ehren des 60. Geburtstags von Dietrich Korsch 2009 veranstalteten Symposions in Hofgeismar, an dem sich Schülerinnen und Schüler, viele renommierte Kolleginnen und Kollegen und der Gefeierte selbst beteiligt haben. Das Motto der Einleitung »Biblische Hermeneutik in interdisziplinärer Perspektive« zeigt sich auch in der Zusammenstellung der Einzelbeiträge. Als ihr programmatisches Konzept beschreiben die Herausgeberinnen in der Einleitung, dass »sich erstens die Botschaft des Textes aus dem gemeinsamen Gespräch der theologischen Disziplinen entwickelt und darin zweitens der lebensnahe und lebensbewusste Bezug auf Brüche und Dissonanzen wie auf Vertrautheit und stimmige Weiterführung thematisiert wird.« (11) Dies spiegele sich gleichsam im gewählten Text selbst, denn erst »wenn Gespräch, Auslegung und neuerlicher elementarer Lebensvollzug zusammenkommen – im Brechen des Brotes beim gemeinsamen Essen – gehen den Jüngern die Augen auf, ist wahres Verstehen möglich.« (ebd.)
In einem ersten Teil werden exegetische Erkenntnisse »zum Text«, so die wenig einfallsreiche Überschrift (Gehen nach dem dargelegten Verständnis nicht alle Beiträge »zum Text«?), erschlossen. Michael Wolter, der sich in seinen vorliegenden Publikationen schon intensiv mit Lk 24,13–35 auseinandergesetzt hat, thematisiert die Schwierigkeit der topographischen Bestimmung von Em­maus und löst mögliche Widersprüche in den Angaben im Sinne einer narrativ-konzeptionellen Christologie des Lukas mit Hilfe ironischer Fiktionalisierung. Motivgeschichtlich interessant und für die Gesamtdeutung durchaus erhellend untersucht Christoph Levin mit Blick auf die Traditions- und die Wirkungsgeschichte das Motiv in der Wendung »brannte nicht unser Herz in uns?«. So kann er zeigen, dass es jeweils die Lebenserfahrung ist, von der her sich Schrift und theologische Deutung »als ein Akt der Selbsterkenntnis« (50) erschließen.
Traditionsgeschichtliche Beiträge finden sich ebenso im zweiten Teil »Emmaus auf dem Weg durch die Geschichte«. So vertieft Johannes Schilling die Auslegungsgeschichte bei Augustin, Luther und Calvin, die jeweils die Glaubenserkenntnis des Auferstandenen im Moment des Brotbrechens aufnehmen und unterschiedlich deuten. Walter Sparn erhellt unter dem Titel »Offenbarungsverstehen« die Auslegung der Erzählung in der evangelischen Frömmigkeitsgeschichte und erstaunt mit der Erkenntnis, dass es zur Em­mausgeschichte »keinen rezipierten evangelischen Choral gibt« (69). Das wird damit begründet, dass »die lukanische Emmaus-Episode für die christliche Theologie nie sehr wichtig war.« (71) Auch er berücksichtigt die Rezeption Luthers und Calvins, geht aber weiter zu Gregor Strigenitz, Johann Arndt, Philipp Jakob Spener, dem Pietisten Johann Joachim Spalding, zu Friedrich Schleiermacher bis hin zur Auslegung Karl Barths, der sie als »unentbehrliche Ostergeschichte« (93) charakterisiert.
Im dritten Teil »Christus im Denken, Fühlen, Bitten und Verstehen« geht es nun explizit um systematisch-theologische Reflexionen, die teilweise für die auch anvisierte breitere Leserschaft nicht leicht zu verstehen sein werden, weil an einzelnen Stellen selbstreferenzielle Sprachspiele die Lektüre erschweren. Philipp Stoellger findet in seiner Analyse der media salutis als Präsenzmedien in diesem Text eine dreifache narrativ-christologische Bearbeitung: von Lukas, den Jüngern und Jesus Christus selbst (105), die ihre Wirkung darin entfaltet, dass der »erinnerte Jesus […] nicht nur zum erinnerten, sondern zum erinnernden Christus« (107) wird. Jens Trusheim behandelt die Frage nach der Wirklichkeit göttlichen Seins und göttlicher Präsenz. Thorsten Dietz bemüht verschiedene Modelle der Logik (Entwicklungslogik, Gegensatzlogik, Vermittlungslogik), um sich dem Verhältnis von Gefühl und Vernunft anzunähern, das in erkenntnistheoretischen Traditionen vielfach polar ausgelegt worden sei (135). Er kommt zu dem Ergebnis, dass zum Textverständnis intellektuelle wie emotionale Weltzugänge einbezogen werden müssten.
Der Beitrag von Katrin Schindehütte beschreibt die räumliche Dynamik in der Perikope in den Momenten des Gehens, Stehens, Sitzens und Fortgehens und thematisiert so die leibhaftige Dimension des Glaubens. Diese wird im vierten Teil des Sammelbandes »sinnlich-mediale Inszenierungen und leibhaftiges Erleben« vertieft, in dem Wilhelm Gräb Bilder von Emmaus hinsichtlich ihrer medialen Repräsentation des Emmausgeschehens vorstellt, musikalische Transformationen (Klaus Röhring und Stefan Berg) allerdings nicht nur zur Perikope selbst, sondern zum Auferstehungsgeschehen bei Olivier Messiaen und Heinrich Schütz analysiert werden und eine Text-Musik-Performance als Gottesdienst in der Altstädter Kirche in Hofgeismar dokumentiert, aber nicht erklärt oder reflektiert wird (Elisabeth Jooß, Insa Rohrschneider, Frithard Scholz).
Zur »Frage der Identität« äußert sich im letzten Teil Wilhelm Lütterfelds unter Bezugnahme auf verschiedene philosophische Identitätsmodelle, während Dietrich Korsch den Weg einer meditativen Hermeneutik wählt, die »das literarische Genus einer mehrstufigen Narration als Teil der Identitätsbestimmung in der Em­mausgeschichte versteht« (16).
Die Zusammenstellung ist in ihrer interdisziplinären Weite wirklich mit Gewinn zu lesen, zeigt sie doch, dass der biblische Text nach wie vor zum vereinenden Fokus der theologischen Disziplinen werden kann. Leider fehlen im praktisch-theologischen Teil sowohl religionsdidaktische Reflexionen zum Text als auch schulische Umsetzungen, was verwundert, da die Herausgeberinnen in der Einleitung doch die Bedeutung des Textes gerade in »Religionsunterricht, Gottesdienst und Bibliodrama« (9) betonen. Hier hätte sich einmal erweisen können, ob die in doppelter Weise verpflichtete Hermeneutik dann auch in der Applikation überzeugend gewesen wäre.