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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

616-618

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Roy, Olivier

Titel/Untertitel:

Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. Aus d. Franz. v. U. Schäfer.

Verlag:

München: Pantheon Verlag (Verlagsgruppe Random House Bertelsmann) 2011. 334 S. Kart. EUR 14,99. ISBN 978-3-570-55151-6.

Rezensent:

Uwe A. E. Arnhold

Noch in den 1960er Jahren war es in Deutschland selbstverständlich, dass die Menschen entweder evangelisch oder katholisch waren. Das bedeutete natürlich nicht, dass man auch an Gott glaubte, in der Bibel las oder »jeden Sonntag zur Kirche rannte«. Evangelisch zu sein und zur Kirche zu gehen, das hatte nur für Geistliche und besonders Fromme etwas miteinander zu tun. Die Religion war ein selbstverständlicher Teil der Kultur und insofern waren die Menschen selbstverständlich religiös. Der normale Christ war Christ, weil es eben normal war. Diese Zeit ist jedoch vorbei. Die Religion ist kein selbstverständlicher Bestandteil der westlichen europäischen Kultur mehr. Gleichzeitig jedoch macht insbesondere die islamische Religion immer mehr von sich reden. Warum zieht der radikale Salafismus so viele junge Europäer an? In einer Zeit, in welcher der Islamische Staat an Euphrat und Tigris auch in Europa eine große Faszination entfaltet, gewinnt das Buch »Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen« von Olivier Roy eine besondere Bedeutung. Mit den politischen Gefahren der kulturell entwurzelten Religion beschäftigt sich R. in seinem Buch jedoch nicht. Der Titel der deutschen Übersetzung dieses 2008 in Frankreich unter dem Titel »La sainte igno-rance. Le temps de la religion sans la culture« ist darum auch irreführend. Wer etwas über die politischen Gefahren lesen möchte, sollte besser zur Tageszeitung greifen. Wer aber nach einer Erklärung für das Phänomen der Attraktivität der fundamentalistischen Religiosität sucht, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Dabei behandelt R. in diesem Buch nicht einmal den Islam als solchen und schon gar nicht die jüngsten Entwicklungen im Gebiet des »fruchtbaren Halbmonds«. Er befasst sich mit den Veränderungen des Religiösen in der durch Säkularisierung und Globalisierung ge­prägten Welt. Seine Grundthese lautet: Säkularisierung und Globalisierung führen zu einer Deterritorialisierung und Dekulturation der Religion. Das Religiöse wird aus seiner »kulturellen Umwelt herausgelöst« (20): »Das traditionelle Band zwischen einer Religion und einer Kultur hat sich aufgelöst: Ein Algerier ist nicht mehr automatisch Muslim, ein Russe orthodox, ein Pole katholisch.« (37) Wo es in der kulturell eingebetteten Religion beispielsweise »atheistische Juden«, »atheistische Moslems« und »kirchensteuerzahlende Taufscheinchristen« gibt, führt der Bruch zwischen Kultur und Religion zu einer reinen Religion, die neben der Kultur steht und sich gegen sie wendet. Das Resultat finden wir kurz und bündig auf dem Buchrücken von R.s Buch: »Glauben ohne Kultur ist eine Erscheinungsform dessen, was wir Fanatismus nennen.« Wo die Religion aus dem kulturellen Umfeld herausgelöst wird, da wird auch der Glaubensquelle der ursprüngliche Nährboden entzogen. Das Resultat: »Gott spricht ohne Kontext.« (32) Wissenschaftliche Theologie wird so zur Blasphemie. Die dekulturierte Religion ist simpel und simplizistisch – eben einfältig.
Dabei bestreitet der am European University Institute in Florenz lehrende Franzose zugleich, dass zurzeit eine Ausbreitung des Islam stattfindet. Im Zeitalter der Dekulturation findet Ausbreitung durch Konversion statt. »Tatsächlich ist weltweit der christliche Pfingstglaube neben dem Mormonentum am meisten auf dem Vormarsch« (23). So gibt es auch nicht geringe Übertritte vom Islam zum Christentum. In Frankreich gab es zwischen dem Jahr 2000 und dem Erscheinen des Buches im Jahr 2008 rund 400 Konversionen. R. berichtet des Weiteren von einer Föderation der christlichen Nordafrikaner in Frankreich, die nach eigenen Angaben 10.000 Mitglieder hat (40). Doch diese Entwicklungen sind weniger sichtbar und vor allem weniger oder gar nicht gewalttätig.
Was R. allgemein über das Verhältnis von Kultur und Religion schreibt, gewinnt auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Fas-zinationskraft des Salafismus an Plausibilität: »In den Augen der Gläubigen gehören die Lauen, die Abgekühlten, all jene, die keine zweite Konversion als Wiedergeborene erlebt haben, zur profanen oder gar heidnischen Welt. Umgekehrt erscheint der Gläubige dem Ungläubigen seltsam, fanatisch. Die Dekulturation ist der Verlust der sozialen Selbstverständlichkeit des Religiösen. Die Gläubigen empfinden sich nunmehr als Minderheit, umgeben von einer profanen, atheistischen, pornografischen, materialistischen Kultur, die sich falsche Götter erwählt hat: Geld, Sex, oder den Menschen an sich. Und das gilt selbst dann, wenn die Gläubigen zahlenmäßig in der Mehrheit sind wie in den Vereinigten Staaten.« (28)
Der Fanatismus der reinen Religion ist jedoch nur die eine mögliche Folge der Dekulturation der Religionen. Eine andere ist die erneute Standardisierung. Was meint R. damit? Der westliche, religionsneutrale Staat, der alle Religionen gleich behandeln muss, kommt nicht daran vorbei, allen Religionen »ein gemeinsames Paradigma zugrunde [zu] legen« (29). So bemühen sich westliche Demokratien, in denen professionelle christliche Geistliche als Armeeseelsorger eingesetzt werden, um die akademische Ausbildung von professionellen islamischen Geistlichen, die in der Armee anstellungsfähig sind. R. gibt ein weiteres Beispiel aus dem nicht-staatlichen, persönlichen Bereich. Er fragt: »bedeutet es eine Neudefinition des religiösen Werts der muslimischen Eheschließung […] wenn ein im Westen lebendes muslimisches Paar in der Moschee heiratet, Hand in Hand, die Frau im weißen Brautkleid und mit einem Blumenstrauß, genauso wie christliche Paare in der Kirche heiraten?« (258)
R. beschreibt diesen Prozess der Standardisierung als »Formatierung der Religionen«, nicht als neue Akkulturation. Akkulturation bedeutet ihm zufolge, dass jede Religion durch eine Kultur verkörpert wird: das westliche Christentum, der orientalische Islam, der tibetanische Buddhismus. Doch das ist passé. Was jetzt geschieht, ist die »Formatierung der Religionen«, die in »den meisten Fällen ein wechselseitiger Vorgang« ist, »bei dem Anpassungen von beiden Seiten stattfinden und Normen aus sehr unterschiedlichen kulturellen Feldern neu formuliert werden« (258).
Insofern könnte man die moderne globale Formatierung als Hoffnung für eine nicht-fundamentalistische Zukunft der Religion begreifen. Das deckt sich jedoch nicht mit der gegenwärtigen Wahrnehmung, die durch den dekulturierten religiösen Fundamentalismus geprägt wird, der die Symbiose mit der Kultur schroff ablehnt. So der Salafismus, der alles ablehnt, was nicht dem vermeintlichen reinen Glauben des Ursprungszeitalters entspricht. Es scheint gerade diese schroffe Ablehnung zu sein, die diese Bewegung für viele junge Männer und Frauen, darunter erstaunlich viele europäisch-stämmige Konvertiten, so attraktiv macht.
R.s Fazit ist nüchtern: »Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Globalisierung dem Fundamentalismus nützt – und sei es nur vorübergehend –, weil sie mit Dekulturation einhergeht.« (285) Warum nur vorübergehend? Weil mit dem Glauben kein Staat zu machen ist. Die reine Religion verliert ihre Reinheit, wenn sie den gesellschaftlichen und politischen Alltag gestalten will. So rein wie der religiöse Himmel kann die gesellschaftliche Erde niemals sein. Ob dies die Attraktivität vermindern wird, wird man abwarten müssen. Zurzeit ist davon beispielsweise weder beim wahabi-tischen Staat des Saud-Clans in Riad noch beim schiitischen Staat der Ayatollahs im Iran etwas zu bemerken.
Aber nicht die politische Prognose macht R.s Buch und These so bedeutsam, sondern die religionswissenschaftliche Analyse: Wenn Säkularisierung und Globalisierung Vater und Mutter des religiösen Radikalismus und Fundamentalismus sind, dann ist die be­wusste oder unbewusste Vertreibung der Religion aus dem öffentlichen Leben eine gefährliche und unheilstiftende Sache.