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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

614-616

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rees, Wilhelm, Roca, María, u. Balázs Schanda [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Neuere Entwicklungen im Religionsrecht europäischer Staaten.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2013. 884 S. m. 2 Tab. = Kanonistische Studien und Texte, 61. Kart. EUR 54,90. ISBN 978-3-428-14161-6.

Rezensent:

Martin Honecker

In einem recht umfangreichen Sammelband haben 41 Autoren und Autorinnen aus Österreich, Deutschland und nicht-deutschsprachigen Ländern neuere Entwicklungen im Religionsrecht dargestellt. Das voluminöse Werk befasst sich mit der Entwicklung der Verhältnisbeziehungen von Staat und Kirchen sowie von Staat und anderen Religionsgemeinschaften in den einzelnen Ländern und auf der europäischen Ebene. Die Thematik erörtert also das Staatskirchenrecht oder, wie man neuerdings sagt, das Religionsrecht. Es sind also im Wesentlichen juristische Beiträge, die kulturelle, gesellschaftliche und politische Entwicklung insgesamt wird nur gelegentlich berührt. Dabei spielt insbesondere die Perspektive von Rechtsänderungen und der künftigen Rechtsentwicklung eine bedeutsame Rolle.
Die einzelnen Beiträge sind nach dem Anfangsbuchstaben des Namens der Verfasser alphabetisch angeordnet. Es beginnt mit den Aufsätzen von Johann Bair, Das Ausschließlichkeitsrecht im Lichte der Beschwerdesache des Kulturvereins der Aleviten in Wien (1–25), Burkhard Josef Berkmann, Neue Fragen zum Kirchenaustritt in Österreich (27–60), Sophie van Bijsterveld, Religion and the Secular State – the Netherland (61–81). Der Band endet mit Wolfgang Wieshaider, Religiöse Tradition und Rechtspersönlichkeit (813–824), Fabian Wittreck, Perspektiven der Religionsfreiheit in Deutschland (825–857) und Diana Zacharias, Der postmortale Schutz religiöser Freiheit (858–880). Allein eine bloße Aufzählung der Titel zeigt, wie disparat die Themen der Beiträge sind und dass diese keinen erkennbaren sachlichen Zusammenhang bilden – außer dass es sich allenthalben um Fragen der rechtlichen Ordnung handelt. Zum Teil sind die Abhandlungen auch sehr speziellen Fragen gewidmet, wie der Rechtsstellung der Aleviten, der Regelung des Kirchenaustritts oder dem postmortalen Recht der Selbstbestimmung. Andere Autoren erörtern grundsätzliche Fragen und befassen sich mit den Grundlagen eines Staatskirchenrechts und des staatlichen Religionsrechts. Die Beiträge sind solide rechtswissenschaftlich gearbeitet und orientieren sich an der jeweiligen positiven Rechtslage.
Einen Schwerpunkt bilden die Beiträge von Autoren aus Österreich und Deutschland. Wertvoll sind vor allem die Berichte über die Entwicklung in den früheren Ostblockstaaten, in Rumänien, Tschechien, Polen, Slowakei, Slowenien, Ungarn. Die politische Wende 1990 hat hier tiefgreifende Umbrüche im Verhältnis von Staat und Kirche wie in der Rechtsstellung der Kirchen zur Folge gehabt. Es fehlen jedoch einige europäische Staaten wie Dänemark, Schweden, Portugal, aber auch Großbritannien und Griechenland, sowie die baltischen Staaten. Trotz des Umfangs ist also keineswegs Vollständigkeit angestrebt und erreicht.
Schwerpunkte bilden einmal die Rechtsstellung und rechtliche Konflikte im Blick auf den Islam: Zoila Combalía, The Right to Freedom of Expression in Islam: A Comparative Perspective (101–132), Elif Medeni, Neuere Entwicklungen um den islamischen Religionsunterricht und die islamische ReligionslehrerInnenausbildung in Österreich (373–386), Hamideh Mohagheghi, Neue Aspekte in der Beziehung zwischen Muslimen und Staat in Deutschland (401–416). Die Kontroverse um die Beschneidung diskutiert Katharina Pabel (467–487). Hier finden sich mancherlei Informationen. Dasselbe gilt von dem anderen Schwerpunkt, der Rechtsentwicklung in der Europäischen Union. Dargestellt werden: Die römisch-katholische Vertretung in Brüssel, von Anna Echterhoff, »Die COMECE als Partner mit der Europäischen Union« (159–181), und die Repräsentanz der evangelischen Kirchen durch Patrick Roger Schnabel und Katrin Hatzinger; »Der Dialog zwischen der Europäischen Union und den Kirchen nach Art 17 III AEUV« ( 639–665). Stefan Mückl befasst sich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, »Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht in der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte« (449–465).
Hingewiesen sei ferner auf einige erwähnenswerte Einzelheiten und wenig bekannte Aussagen. Burkhard Josef Berkmann fordert im Blick auf Österreich höchste Sorgfalt im Umgang mit Ausgetretenen, weil die Motive und Gründe eines Kirchenaustritts sehr unterschiedlich sind (48). Interessant ist die Rechtslage in islamischen Ländern im Blick auf die Blasphemie (110). Ein schwieriges Thema ist in Spanien der Sexualkundeunterricht und das Elternrecht (252ff., Alejandro Gonzáles – Varas Ibáñez). In Rumänien ist die Frage des früheren Kircheneigentums ungelöst (285). In Spanien be­steht ein Rechtskonflikt zwischen der kirchlichen Verfügung über Kirchenbücher und dem Datenschutz (María Roca, 542 f.). In Italien ist das Kreuz in der Schule zu einem Rechtsfall vor dem Europäischen Gerichtshof geworden (Luis Miguez Macho, 387 ff.). In Slowenien ist das Verhältnis von Staat und Kirche aus politischen Ursachen sehr angespannt und sowohl die individuelle wie die kollektive Religionsfreiheit strittig (Andrej Saje, 549–569, veranschaulicht anhand des Gesetzes über Religionsfreiheit von 2007). Stefan Muckel berichtet über den Rechtsstreit der Bahai-Gemeinde mit dem Land Hessen über deren Körperschaftsstatus (437 ff.). Es werden viele Detailfragen und teilweise Spezialitäten aufgegriffen.
Auffallend ist außerdem das schwierige Verhältnis zwischen Staat und Kirche ausgerechnet in Luxemburg, wobei die geschichtliche Entwicklung zu bedenken ist: Matthias Schiltz, »Kirche und Staat in Luxemburg: Jüngere und jüngste Entwicklungen im ge­genseitigen Verhältnis« (587–616). Kenntnisreich ist der Beitrag von Karl W. Schwarz aus Wien, »Protestantische Theologenausbildung in mitteleuropäischer Perspektive (SOMEF). Religionsrechtliche Überlegungen« (667–686). Der deutsche Leser wird besonders die deutsche Entwicklung zur Kenntnis nehmen. Stefan Muckel erörtert die Verleihung der Körperschaftsrechte an Religionsgemeinschaften in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Erfordernisses der Gewähr der Dauer durch die »Zahl ihrer Mitglieder« (435–448). Sehr kenntnisreich und instruktiv ist der Überblick von Arnd Uhle, »Kirchenfinanzierung in Europa: Erscheinungsformen, Eignung, Zukunftsperspektiven« (749–788). Das Thema ist strittig und die Zukunft der Kirchensteuer ist unsicher. Heinrich de Wall, »Der Begriff der Religionsgemeinschaft im Deutschen Verfassungsrecht – aktuelle Probleme« (789–811) reflektiert die Geschichte des Begriffs und prüft vor allem seine Anwendbarkeit auf islamische Dachverbände. Schließlich legt Fabian Wittreck, »Perspektiven der Religionsfreiheit in Deutschland« (825–857), einen Überblick über derzeit strittige Fragen im deutschen Religionsrecht vor, wie Beschneidung, Blasphemie, Schwimmunterricht muslimischer Mädchen. Zeichnet sich deshalb im deutschen Staatskirchenrecht ein Paradigmenwechsel ab? Wittreck könnte einen Schwanen- oder Abgesang auf das bundesrepublikanische Religionsrecht anstimmen. Aber er unterlässt dies. Änderungen werden freilich sicherlich kommen.
Die Themen und Probleme sind in allen Beiträgen nahezu die gleichen: Die Rechtsstellung der Kirche im Staat, das Recht nichtchristlicher Religionen, Kirchenfinanzierung und Finanzierung von Religionsgemeinschaften, Religionsunterricht, Theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten, Grundrechtsschutz und Religionsfreiheit in Staat und Kirche. Die Rechtslage ist teilweise sehr verschieden und kompliziert, insbesondere in Ländern, die sehr stark säkularisiert sind und die Trennung von Staat und Kirche kennen. Der Band bietet in dieser Hinsicht reiches Material an Informationen und Problembeschreibungen an. Dennoch legt man ihn mit einer gewissen Verlegenheit aus der Hand. Es fehlen sowohl eine Einführung als auch Register, die die Vielzahl der Texte erschließen könnten, und vor allem gibt es keinen Hinweis auf die gemeinsamen fundamentalen Fragestellungen; nur dadurch wäre jedoch eine europäische Perspektive zu ermitteln, wie sie offenkundig die Herausgeber anstreben. Sinnvoll gewesen wäre des Weiteren eine Gruppierung der einzelnen Beiträge nach Ländern, Staatengruppen, Regionen. Die deutschen Autoren, die österreichischen und die aus den früheren Ostblockländern stammenden Beiträge hätte man jeweils zu einem Block vereinen können. So ist der umfangreiche Band in seiner jetzigen Gestalt vor allem eine Materialsammlung und Fundgrube für weitere Überlegungen zu Staatskirchenrecht und Religionsrecht. Anerkennung verdient die umfangreiche Sammlung von Informationen und Stimmen zum Religionsrecht in Europa.