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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

612-614

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, Reuter, Hans-Richard, Kurschat, Andreas, u. Stefan Leibold [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 513 S. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-151717-4.

Rezensent:

Johannes Eurich

Welchen Beitrag Religionen zur Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten geleistet haben und leisten, ist ein in der Forschung vernachlässigter Topos. Grundlegende Annahme des vorliegenden Bandes, der auf einen SFB an der Universität Münster zurückgeht, ist, dass die Wertegrundlagen der Sozialpolitik in vielen europäischen Ländern durch religiöse Orientierungen und religiöse Akteure nicht nur beeinflusst, sondern auch mitgeprägt worden sind. Allerdings sind die dabei zu bearbeitenden Zusammenhänge durch eine hohe Komplexität wie Diffusität gekennzeichnet. Denn bei der Entstehung moderner Wohlfahrtsstaaten ist ein Geflecht aus unterschiedlichen Faktoren zu analysieren, bei dem Konflikt-, Kooperations- und Transformationskonstellationen ineinandergreifen. Die Rolle religiöser Initiativen wie den Beitrag religiöser Wertmuster im Blick auf die Arrangements moderner Wohlfahrtsstaaten und ihre Begründungsfiguren in einer europäischen Vergleichsstudie freizulegen, ist Ziel des Sammelbandes. Er bearbeitet damit ein Desiderat der Wohlfahrtsstaatsforschung, denn die gängigen Theoriemodelle zum Sozialstaat wie Erklärungsansätze zu den Unterschieden in der Sozialpolitik kommen ohne den Faktor Religion aus.
In der Einleitung geben die Herausgeber einen kurzen Überblick über die verschiedenen Theoriebildungen der Wohlfahrtsstaatsforschung (referiert werden die Theorie der sozioökonomischen Determination, die Machtressourcentheorie sowie institutionalistische Theorien und internationale Hypothesen). Als das Gemeinsame dieser Ansätze wird identifiziert, dass sie sich an institutionellen Ergebnissen staatlicher Sozialpolitik orientieren und der Einfluss kultureller Faktoren, darunter auch religiöse Prägungen, außen vor bleibt. Mit dem in den letzten zwei Jahrzehnten einsetzenden cultural turn kommt jedoch eine Sensibilität für kulturelle Differenzen auf, die den religiösen Beitrag in der europäischen Wohlfahrtsstaatsentwicklung explizit aufnimmt.
Dementsprechend wird im zweiten Schritt der Forschungsstand zu Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit anhand sechs aktueller Ansätze dargestellt: Zunächst wird auf Heidenheimer zurückgegriffen, der als Erster – im Gefolge des religionssoziologischen Ansatzes von Weber und Troeltsch – die These äußerte, dass die unterschiedlichen Ausprägungen westlicher Wohlfahrtsstaaten auf den Einfluss christlicher Konfessionen zurückzuführen seien. Kaufmann differenzierte diesen Ansatz später nach drei Ebenen (ideelle Grundlagen, Funktion, sozialpolitische Ziele), nahm aber noch keine Systematisierung religiöser Faktoren und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklungen vor. Van Kersbergen entwickelt dage­gen in seiner Studie Social capitalism ein der Machtressourcentheorie verpflichtetes Erklärungsmodell für den Einfluss katholischer (sozial-)politischer Akteure auf die Wohlfahrtsstaats­entwicklung. Für die Position des Sozialkatholizismus sei vor allem der Wechsel von Barmherzigkeitstraditionen zu staatlicher Sozialpolitik ausschlaggebend. Anders sieht die Entwicklung in protestantisch ge­prägten Ländern aus: Manow führt – in Ergänzung zu Esping-Andersens Modell – Variationen zwischen dem angelsächsisch-liberalen Modell und dem kontinental-europäischen Modell auf Unterschiede zwischen lutherischen und reformierten Tradi-tionen zurück und erklärt zudem Unterschiede zwischen dem südeuropäischen, dem kontinentalen und dem skandinavischen Modell aus der unterschiedlichen Bedeutung von lutherischer und katholischer Soziallehre. In Deutschland habe sich eine eigene Entwicklungsdynamik aus der dominanten lutherischen Staatskirche und einer starken katholischen Minderheit ergeben. Manow und van Kersbergen haben auf ihre Arbeiten aufbauend ein gemeinsames Modell vorgelegt, das die Bedeutung des Wahlsystems (Zwei- oder Mehr-Parteien-System) mit gesellschaftlichen Konflikten, die in den einzelnen Ländern auf unterschiedliche Weise durch konfessionelle Traditionen beeinflusst sind, verbindet. Die Wohlfahrtsstaaten seien dann Folge unterschiedlicher politischer Koalitionen, die ihrerseits Konflikte z. B. zwischen Staat und Kirche zum Ausgangspunkt hatten. Ein weiterer – nicht unbedingt überzeugender – Versuch, die Bezüge zwischen Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit zu erhellen, stelle Kahls These einer Korrelation zwischen der jeweils dominanten Konfession und Armutspolitik be­reits in früher Neuzeit dar, aus der sich aufgrund der kulturellen Prägekraft der Religion eine langfristig wirkende »Wahlverwandtschaft« ergeben habe. Als letzter Ansatz wird auf die europäische Wohlfahrtsstudie WREP eingegangen, die jedoch vor allem die lokale Ebene der Wohlfahrtsproduktion untersucht hat.
Diese Ansätze fließen in die theoretischen Annahmen des Forschungsdesigns von 13 Länderstudien ein, mittels derer ein möglichst breites Variationsspektrum wohlfahrtsstaatlicher Arrangements abgedeckt werden soll. Leitmotive sind der Einbezug der Binnenperspektive religiöser Traditionen hinsichtlich ihres Einflusses auf die sozialstaatliche Entwicklung sowie die Untersuchung bislang vernachlässigter wohlfahrtsstaatlicher Systeme in den Ländern Süd- und Osteuropas einschließlich der Türkei. Um den Faktor Religion angemessen erfassen zu können, wird mit einer Differenzierung auf vier Ebenen gearbeitet: kulturelle Di­mension, institutionelle Konfliktkonstellationen, organisationsbezogener Wettbewerb und personelle Präsenz. Alle Fallstudien haben ein einheitliches Gliederungsschema für die Auswertung verwendet, welches die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung, die Wohlfahrtskultur und die Institutionen des Wohlfahrtssektors, jeweils auch mit Unterpunkten zum religiösen Faktor, umfasst.
Die große Stärke des Bandes liegt in der so gewonnenen ein-heitlichen Perspektive der einzelnen Länderstudien, welche einen vergleichenden Zugang zum Zusammenhang von Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in ausgewählten europäischen Ländern liefern, wie es ihn bislang noch nicht gibt. Den Herausgebern ist dabei wohl bewusst, welche Begrenzungen ein solches Unternehmen sowohl hinsichtlich der Reduktion der komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Spannungslinien, politischen Interessenkonflikten und religiös-kulturellen Prägungen methodisch aufwirft, als auch, wie schwierig ein Vergleich zwischen historisch höchst unterschiedlich verlaufenen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern ist. Die den Großteil des Buches ausmachenden Länderstudien geben eine Fülle an Beobachtungen, Zusammenhängen und Deutungen wieder, die reiches Material für weitere Studien bieten, hier aber nicht im Einzelnen besprochen werden können; vielmehr soll exemplarisch die Länderstudie zu Deutschland herausgegriffen werden: Diese ausgezeichnete Untersuchung gibt nicht nur einen konzisen Überblick über die herausragende Rolle, die der Wohlfahrtsstaat über alle Brüche der jüngeren deutschen Geschichte hinweg gespielt hat, sondern vermag auch aufzuzeigen, wie sowohl einzelne Akteure auf Grundlage ihrer religiösen Orientierung Reformen des Sozialstaates angestoßen haben (z. B. Wilfried Schreiber die Rentenreform 1957) als auch welchen Einfluss die christlichen Konfessionen zum Teil über ihre Wohlfahrtsverbände, zum Teil durch ihre Soziallehren auf die Entwicklung des deutschen Wohlfahrtsstaates genommen haben.
Der Band bietet eine Fülle von Beobachtungen und Aspekten, um im Anschluss an die vorherrschenden funktionalistischen und konflikttheoretischen Ansätze die Forschung zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung um den religiösen Faktor zu erweitern. Das in der Auswertung der Studien vorgestellte Schema verortet dementsprechend die Wohlfahrtsstaatsentwicklung der einzelnen Länder gemäß ihrem religiösen Faktor in einem dreifach abgestuften Modell. Mit Hilfe von David Martins Arbeiten zur religiösen Entwicklung in Europa und unter Rückgriff auf die im zweiten Schritt beschriebenen Theorieansätze wird dieses Schema dann in eine neue religionspolitisch orientierte Typologie der Wohlfahrtsstaaten überführt. Dieser den religiösen Faktor entscheidend gewichtende Deutungsansatz muss sich im fachlichen Diskurs bewähren; unstrittig scheint mir dabei zu sein, dass dieser sehr empfehlenswerte Band die weitere Forschung nachhaltig beeinflussen wird.