Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

726-732

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Christian Neddens

Titel/Untertitel:

Christus ohne Theologie
Neues zum Christusbild in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts

In der letzten Dekade waren eine ganze Reihe prominenter Ausstellungen dem Verhältnis von Kunst und Religion gewidmet. Große Aufmerksamkeit erzielten etwa Corpus Christi in Hamburg (2003), Belief in Singapur (2006), Traces du sacré in Paris (2008), Medium Religion in Karlsruhe (2009) oder Animismus in Berlin (2012). Religion ist in der Kunst präsent, auch wenn Sakralkunst kaum noch eine Rolle spielt. Das Christusbild als zentrales Motiv christlicher Ikonographie hat Teil an dieser Ambivalenz. Es bleibt gegenwärtig, wenn auch auf verborgene und verfremdete Weise.

1. »Wiederentdeckung des Sakralen« zwischen 1910 und 1930


Eine Rückkehr religiöser Themen in die unterschiedlichen Kulturbereiche – trotz oder wegen der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (G. Lukács) der Moderne – lässt sich vor allem für die Zeit zwischen 1910 und 1930 feststellen. Nicht nur bei Theologen stand »die selbsterlebte Tatsache des sich offenbarenden Gottes« (W. Herrmann) im Vordergrund, auch in der Kunst wurde neu nach der Gestalt ursprünglichen religiösen Erlebens gefragt.

Eine stringent konzipierte Ausstellung im Essener Folkwang-Museum The Empty Cross. Expression und Religion in Werken einer Schweizer Privatsammlung1 (2011) dokumentierte dieses neu aufgebrochene Interesse. Am Beispiel Emil Noldes, Karl Schmidt-Rottluffs und Louis Soutters präsentierte Kurator Tobias Burg anschaulich die religiöse Grundspannung des Expressionismus und machte diesen (in Anlehnung an G. F. Hartlaub) als eine Art künstlerisch-religiöse »Erweckungsbewegung« kenntlich. Gleichwohl eine Erweckung voller Ambivalenzen, wie der Ausstellungstitel, der auf eine großformatige Fingerzeichnung Soutters zurückgeht (The Empty Cross, 1939) zum Ausdruck bringt: Das leere Kreuz als Zeichen der Auferstehung kann zugleich Symbol ebenjener »Obdachlosigkeit« verlo-rener Gottespräsenz sein. Der Basler Neutestamentler Hartmut Raguse hat die Werke im Katalogteil aus theologischer Perspektive knapp kommentiert – eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, die leider nicht immer selbstverständlich ist.

Bei dem Band Christus. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne (2012)2 handelt es sich um den erweiterten Ertrag zweier Kolloquia 2009 und 2011, die die Ausstellung »Christus an Rhein und Ruhr« in Bonn und Kevelaer begleiteten. (Der schöne Katalog zu dieser Ausstellung, der eine große Anzahl – teils unbekannter – Werke zum expressionistischen Christusbild versammelte, ist leider vergriffen.) Die Kuratorinnen Gertrude Cepl-Kaufmann und Jasmin Grande vermitteln in ihrem Eröffnungsbeitrag anschaulich, wie Kunstausstellungen längs des Rheins im frühen 20. Jh. die Frage nach einer zeitgemäßen Form des Religiösen in der Kunst aufwarfen. »In bemerkenswerter Weise kam es im Zuge der Suche nach Leitbildern zur Wiederentdeckung spiritueller Grundschichten, ja zu einer Renaissance Christi und einer sakralen Welt.« (52) War die Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne ein »Jahrhundertphänomen« (52) oder eher eine rheinisch-katholische Ausnahmeerscheinung? Der auf das katholische Rheinland fokussierte Sammelband beantwortet diese Frage nicht, legt aber überzeugende Indizien für die Strahlkraft dieses Phänomens vor.

In Umkehrung des Titels fragt der Begleitband zunächst nach der Entdeckung der Moderne in der Sakralkultur des rheinischen Katholizismus. War der im Rheinland dominierende Katholizismus fähig, eine Brücke zur Moderne zu schlagen? Thomas Ruster, katholischer Systematiker an der Universität Dortmund, diagnos­tiziert das Scheitern dieses Modernisierungs-Projekts. Sein Fazit: Die Auseinandersetzung mit der Moderne hat in katholischen Milieus in die Selbst-Säkularisierung, in den Faschismus oder in die Selbst-Ghettoisierung des Glaubens geführt. Es sei Theologie und Kirche nicht gelungen, »eine Form für das Reich Gottes in der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts zu finden« (70). Hanns Peter Neuheuser und Jürgen Wiener sekundieren mit einer Analyse der Vision einer »Rekatholisierung der Welt« (117) im katholischen Aktionismus und des sich in den 1920er Jahren rasch ausbreitenden triumphalen Christkönigskults.

Weitere Beiträge widmen sich »Orten, Medien und Ereignissen« sowie »Künstlern, Komponisten und Schriftstellern«, die an der Wiederentdeckung des Sakralen beteiligt waren. Erkennbar wird die wichtige Bedeutung des Kölner Instituts für religiöse Kunst und des Quickborn für den Expressionismus im katholischen Umfeld. Und erkennbar wird das Interesse der Kulturschaffenden unterschiedlicher Profession an religiös geprägten Formen, Ritualen und Handlungsmotiven. Durchgängig zeigt sich dabei die erwähnte ungeheure Ambivalenz des Christusbildes in der Moderne. Vor allem nach dem Weltkrieg blüht eine Vielfalt christlicher, heidnischer und profaner Erlösungsphantasien auf (R. Manheim).

Ein Ausblick »Zur Christusthematik nach 1945« rundet den Sammelband ab. Dabei zeigt sich in Anne-Marie Bonnets »Überlegungen zur Rolle der Darstellung Christi in der Kunst der Moderne und Gegenwart« ein forschungstheoretisches Dilemma, das sich in kunstgeschichtlichen Studien gegenwärtig häuft. Bonnet meint die »spezielle Problematik der Doppelnatur Christi […] als spezifische Bedingung seiner bildlichen Präsenz« (379) ausblenden zu können, zieht aber gleichwohl theologisch-anthropologische Schlüsse aus dem dergestalt reduzierten Christusbild. Das führt zu hermeneutischen Schwierigkeiten.

Denn das Christusbild in der Moderne zeichnet sich gerade durch das kom­plexe Ineinander bildtheoretischer, identifikatorischer und religiöser Reflexionsebenen aus. Damit zehrt es von der Tradition, für die die Auseinandersetzung mit Christus als dem Gegenüber, in dem der Betrachter sich selbst und den ganz Anderen zugleich entdeckt, seit jeher wichtiges Thema seiner Darstellung ist. Wird die theologische Frage ausgeblendet, lässt sich das Christusbild nur als Reflexionsmedium des Künstlers über die eigene gesellschaftliche oder künstlerische Position deuten. Das ist dann auch das Ergebnis Bonnets: »Seit Beginn der historischen Moderne bedienten sich Künstler immer wieder des Bildes Christi« (380), um den »eigene[n] Status wie auch die Manifestation einer eigenen Kunstvorstellung« (375) zu formulieren. Das ist zwar auch richtig. Aber eben nur ein Teil der Wahrheit.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Aufsatz seinen Schwerpunkt bei den bekannten Selbstthematisierungen künstlerischer Exis­tenz setzt (L. Corinth, J. Ensor, M. Kippenberger) und mit Chris­tus-Travestien Michael Jacksons und Madonnas endet. Das Chris­tusbild in der Moderne erschöpft sich aber zum Glück nicht in Aufmerksamkeitssteigerung und Selbstreferentialität.

Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen künstlerischer Darstellung, Identitätsstiftung und religiösem Sinn der Zeichen häufig komplex, was die Beiträge von Friedhelm Mennekes und Erich Witschke verdeutlichen. Während Mennekes aus den exzentrischen Installationen Joseph Beuys’ den genuin theologischen Impetus extrahiert, dekonstruiert Witschke die gängigen theologischen Überinterpretationen der seines Erachtens eher autothematischen Arbeiten Arnulf Rainers.

Insgesamt setzen die Beiträge die These der Kuratorinnen, »dass die Kunst der Moderne mit Christus schwanger ging« (Ausstellungskatalog 2009, 202), durchaus ins Recht. Was aber heißt das? Kehrt das Sakrale in die Kunst des 20. und 21. Jh.s zurück? Oder ist es im Gegenteil nur noch Material für völlig andere Aussageabsichten? Oder ist diese Entgegensetzung selbst eine Scheinalternative, die aus einem verengten Begriff von Religion und autonomer Kunst resultiert? Ausstellungskatalog und Kolloquienband bemühen sich in vorbildlicher Weise, Experten unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu Wort kommen zu lassen, um das Phänomen des Religiösen in der Kultur zu deuten. Doch stehen die Ergebnisse weithin unverbunden nebeneinander. Die interessante Frage wäre aber, wie sich religiöse und bildtheoretische Dimension im konkreten Kunstwerk miteinander verbinden.

2. Der verborgene Christus – westliche Kunst seit den 1960er Jahren


Aus der großartigen Wittenberger Sammlung christlicher Kunst hatte das Kunsthaus Stade 2013/2014 etwa 130 meist druckgra-phische Werke ausgestellt. Der Katalog Jesus Reloaded3 fasziniert durch das breite Spektrum künstlerischer Positionen, das einen repräsentativen Einblick in das Christusbild im 20. Jh. ermöglicht. Die Werke sind ausführlich kommentiert. Andrea Fromm, die die Ausstellung zusammen mit Tom Beege kuratiert hat, bespricht Positionen des Christusbildes der ersten, Tom Beege solche der zweiten Jahrhunderthälfte. Dabei trifft das Kuratoren-Duo dieselbe folgenreiche hermeneutische Entscheidung wie vor ihnen schon Bonnet (die auch explizit rezipiert wird):

»Es ergibt wenig Sinn, im Rahmen der Ausstellung und des vorliegenden Kataloges eine Bestandsaufnahme aus theologischer Sicht vornehmen zu wollen, da die wenigsten der hier präsentierten Künstler ihre Darstellungen aus einem streng christlichen Impetus heraus schufen. […] Viel mehr verrät uns das Christusbild in der Kunst über die seelischen Erschütterungen und die geistige Verfassung des Menschen in einem bewegten und zerrütteten Jahrhundert. […] Die Kuratoren der Ausstellung richteten ihr Augenmerk daher auf die persönlichen und historischen Umstände, in denen sich ein Künstler zur Zeit seiner Auseinandersetzung mit dem Bild Christi befand.« (9)

Woher rührt diese merkwürdige Unsicherheit gegenüber der theologischen Dimension des Bildes, woher die Fiktion einer von ihrer Zeit abgelösten Theologie? Das Christusbild als Selbstdarstellung des (glaubenden) Subjekts (Odilon, Corinth oder Ensor) war auch beherrschendes Thema in der Theologie der Jahrhundertwende (W. Herrmann). Der politische Christus der 1960er/1970er Jahre begegnet natürlich nicht nur auf Graphiken Heisigs oder Cremers, sondern auch bei Dorothee Sölle oder Leonardo Boff.

Die teils stereotyp psychologisierenden Interpretationen A. Fromms erwecken den Eindruck, quasi alle Künstler hätten im Christusbild ihre narzisstische Kränkung verarbeitet, Rouault ebenso wie Ensor, Barlach wie Gauguin, Beckmann wie Corinth. Das macht skeptisch. Und wer genauer hinsieht, findet erstaunliche Fehldeutungen: Zu einem Holzschnitt Barlachs mit dem Titel »Christus in Gethsemane« heißt es im Katalog, Jesus krieche »auf allen vieren vollkommen entkräftet den Berg hinauf. Kein Kreuz wird auf seinem Rücken erkennbar, wodurch Barlach die Kreuztragung als inneren Zustand beschreibt.« (65) Offensichtlich wird hier Gethsemaneszene und Kreuztragung verwechselt.

Die Facetten des Christusbildes nach 1945 werden in differenzierter Weise von Tom Beege nachgezeichnet, thematisch sortiert und – endlich – auch hinsichtlich der intendierten Betrachterposition reflektiert: »der Zuschauer soll selbst der Leidende sein« (123). Das Christusbild transformiere in dieser Zeit immer stärker zum vom biblisch-kirchlichen Kontext gelösten Zeichen, das frei verfügbar wird: »Jesus Reloaded«.

Diese zunehmende Diversität konstatiert auch Martien Brinkman, Professor für Interkulturelle Theologie an der Universität Amsterdam. Während er bereits 2009 über »The Non-Western Je­sus« publiziert hatte, fragt er in Jesus Incognito (2013)4 nach dem »westlichen« Jesus in der säkularen Kultur seit 1960. Ihm zufolge sind christologische Motive in der westlichen Kultur auf verborgene Weise nach wie vor präsent. Unter dem verborgenen Christus versteht Brinkman fiktive Figuren, die die Relevanz christologischer Themen in heutigen Lebenszusammenhängen neu zum Ausdruck bringen – und zwar nicht nur in US-amerikanischen Me­dien, sondern ebenso in Film, Kunst und Dichtung Europas.

Brinkman interessiert sich kultur- und mentalitätshermeneutisch vornehmlich für das in der Kunst implizite Gottes- und Menschenbild. Was bei Bonnet und Fromm als Problem erkennbar wurde, wird bei ihm in eine zu bearbeitende Fragestellung transformiert: Wie können Religions- und Kunsthermeneutik zu einer ge­meinsamen Sprache und Methodik gelangen? Denn theolo-gische und speziell christologische Reflexionen stellen einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der westlichen Gegenwartskultur und eben auch der Kunst dar, so Brinkman. Ein zentrales Kennzeichen der westlichen Kultur und ihrer kontextuellen Theologie ist für Brinkman ihre hochgradige Individualisierung: »The Western individual closed in on himself finds his counter in the hidden Christ of Western art« (211).

Richard Harries, ehemaliger Bischof von Oxford und renommierter anglikanischer Theologe, ist überzeugt, dass sich das Interesse an religiösen Themen in der Kunst der Moderne nach dem 2. Weltkrieg sogar noch intensiviert habe. Deshalb setzt er in seiner 2013 erschienenen Studie The Image of Christ in Modern Art5 den Fokus auf die Kunst in Großbritannien nach 1945. »Interest in contemporary art with a spiritual dimension or religious theme is keener today that it has been since Victorian times.« (1) Harries stellt ein breites Spektrum moderner Kunst aus dem sakralen und nicht-sakralen Bereich vor, die sich teils versteckt, teils offen mit christologischen Motiven befasst. Sein Überblick zur christlichen Kunst in Großbritannien dürfte für die meisten deutschen Leser viel Unbekanntes bieten, insbesondere in den Kapiteln zur Kunst der zweiten Jahrhunderthälfte und der Gegenwart. Harries schildert die Wiederentdeckung des Sakralen nach dem 2. Weltkrieg, die stark durch kirchliche Auftragsarbeiten befördert wurde. Ab den 1950er Jahren stellt er eine zunehmende Individualisierung der künstlerischen Stile fest und damit einhergehend den Versuch, auch religiöse Themen in einem völlig neuen und individuellen Gewand zu präsentieren. Von den USA ausgehend beeinflussen in dieser Zeit abstrakter Expressionismus und Popart die britische Kunstszene. Im letzten Kapitel stellt Harries – zumeist auf der Basis eigener Interviews – Gegenwartskünstler vor, die sich explizit mit christ-licher Ikonographie befassen: »a vibrant contemporary scene« (117), wie er urteilt. Künstler, die sich nur beiläufig auf christliche Themen beziehen, wie Mark Wallinger, Bill Viola oder Damien Hirst, werden bewusst nicht behandelt. Unter den 14 vorgestellten Positionen gilt Harries’ besondere Aufmerksamkeit Roger Wagner, verbinde er doch in seinen hochmetaphorischen, naturalistisch-surrealen Gemälden auf beispielhafte Weise Modernität und künst-lerische Autonomie mit einer christlichen Glaubensauffassung. Hierin sieht Harries den Ansatz eines transformativen »christlichen Symbolismus«, dessen Dialektik des Verborgenen dem Glaubensverständnis der Moderne entspreche: »the divine has to be recognised in and through the essentially hidden, as Kierkegaard insisted« (7).

3. Drei exemplarische Projekte zeitgenössischer Kunst


Aus dem gegenwärtigen Ausstellungsspektrum seien schließlich drei kontrastierende Projekte vorgestellt. Der Band Zeitgenössische Kunst zur Bibel6 dokumentiert eine Aktion der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Herford-Mitte vom Herbst 2012. Deren Pfarrer Johannes Beer hatte Kunstschaffende um ein Werk zur Bibel gebeten und Arbeiten von 91 teils namhaften Künstlern erhalten. Der Kerber-Verlag hat daraus einen ansehnlichen Bildband erstellt.

Was aber ist unter »Kunst zur Bibel« zu verstehen? Bibelillustrationen sind wunderbar – unvergesslich waren mir als Kind die aufgerissenen Augen des geheilten Blinden (Kees de Kort) oder die runzeligen Hände des alten Simeon (Walter Habdank). Doch nicht Illustrationen will dieser Katalog präsentieren, sondern eine Be­gegnung autonomer Kunst mit Inhalten der Bibel initiieren, »sodass ein Dialog auf Augenhöhe entsteht«. Beer: »Seit über 20 Jahren mache ich nun Ausstellungen in kirchlichen Räumen und arbeite mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Wir nehmen uns gegenseitig ernst und respektieren die gegenseitigen Bedingungen. […] Und dann geschieht er eben, der ersehnte Dialog auf Augenhöhe« (15). Ob das auf diese Weise gelingen kann? Die Kunstformen des Pfarrers/der Pfarrerin jedenfalls, Predigt oder Liturgie, kommen im Katalog ebenso wenig vor wie die Stimme der Gemeinde (Anliegen der liturgy- oder site-specific art). Präsentiert werden auf je einer Doppelseite ein Kunstwerk und ein vom Künstler ausgewähltes Bibelwort. Also: Kunst und Bibel auf »Augenhöhe«? Ist damit ihre Gleichrangigkeit als Quellen der Glaubenserkenntnis gemeint? Offensichtlich sind solche Fragen bei der Konzeption der Ausstellung nicht reflektiert worden, was diesem an sich schönen Projekt leider etwas von seiner innovativen Kraft nimmt. – Versammelt ist ein Kaleidoskop der Gegenwartskunst. Ästhetisch Ansprechendes ist dabei (W. Kreutzberg, K.-L. Lange oder B. Zimmer), menschlich Anrührendes (R. Escher, N. Schlegel oder G. Staufenbiel) und theologisch Reflektiertes (S. Gille, J. Habedank oder F. Storck).

Allein die Tatsache, dass manche Künstler keine spezifische Bibelstelle angeben können und wollen, stellt die Sinnhaftigkeit der häufig eher assoziativen Text-Bild-Verbindungen in Frage. Das fällt vor allem bei Werken abstrakter oder konkreter Kunst auf, des Informel oder der Farbfeldmalerei. Günter Malchow etwa stellt eine seiner seriellen Arbeiten zur Verfügung, die auf der Künstler-Homepage ohne narrative Bezüge auskommen. Warum wird dann »P 30/3-2005« im Katalog Apg 2,1–4 zugeordnet? Wer hat diese Zuordnung vorgenommen? Ein Linolschnitt von Walter Kreutzberg, der wie die meisten seiner Werke auf seiner Homepage ohne Titel erscheint, wird für den Katalog »Stern von Bethlehem« ge­nannt. Auch Mi-Kyung Lees Bildserie, aus der das präsentierte Werk »Genesis 1,1–10« entnommen ist, kommt auf ihrer Künstler-Homepage ohne narrative Titel aus. Der Verweis auf Genesis 1 wirkt eher nachträglich hinzu assoziiert. Die Beispiele ließen sich vermehren. Diese Zufälligkeiten haben aber auch ihr Gutes: In der Gemeindearbeit ließe sich das Material wunderbar einsetzen, um selbst biblische Verse oder persönliche Erfahrungen zu assoziieren und darüber ins Gespräch zu kommen. Interessant ist für die Gemeinde eben nicht die eine biblische Assoziation des Künstlers, sondern die Begegnung zwischen eigenem Glaubens- und Erfahrungsschatz und dem Kunstwerk. Der Katalog schafft dafür einen Anfang. Darin bestehen sein Verdienst und seine Begrenztheit.

Erstaunlich ist – um auf das Thema der Sammelrezension zurückzukommen –, dass bei 128 ausgestellten Arbeiten zur Bibel – abgesehen von wenigen Ausnahmen (A. Schriever, G. Staufenbiel) und etlichen Kreuzen – das Christusbild nicht oder nur zitatweise vorkommt!

Über die Kunstausstellung Golgatha7, die 2013 im post-katholischen Köln zu sehen war, schreibt der Schriftsteller Jürgen Raap einleitend: »›Golgatha‹ ist ein Topos, der […] auch im frühen 21. Jahrhundert sicherlich noch seine künstlerische Aktualität hat, wie die Kuratoren mit dieser Ausstellung beweisen wollten.« Zu sehen seien aber nicht sakrale Kunstwerke im eigentlichen Sinne, sondern rein profane Arbeiten, die daher »eher Statements zur Reli-gion ohne Ansprüche auf Transzendentales« sind und zugleich verdeutlichen, »wie sich in unserer realen Erlebniswelt und damit auch in der zeitgenössischen Kunst Metaphysisches und Alltägliches gegenseitig durchdringen« (6). So unentschieden wie diese Be­schreibung einer nicht-transzendenten, aber metaphysisch durchdrungenen Kunst, ist auch die eher unspektakuläre Ausstellung selbst. Das Christusbild wird als Symbol für die Frage nach sozio-ökonomischer Macht, psychischer Identität oder auch spiritueller Orientierung aufgegriffen. »Im kommerziell aufgeladenen Kunstbetrieb der Gegenwart hat sich das ursprüngliche kultische Moment, das dem (sakralen) Bild innewohnt, […] gründlich abgenutzt.« (7) Bleibt dann also nur Konsum und Konsumkritik? Man könnte es fast meinen, betrachtet man Lutz Ellerbrocks Löffelchris­tus oder das Angelhakenkreuz, in dem sich Werner Neumann kritisch mit der Institution Kirche auseinandersetzt. Michael Schulz gipst einen Korkenzieher mit Christuskopf und Lisa Cieslik heftet Plastikverpackungen ans Kreuz. Doch bleiben auch solche konsumkritischen Arbeiten noch den übermächtigen Diskursen des Marktes, dem sie sich zu widersetzen meinen, verhaftet.

Ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Projekt ist die Ausstellung Christus heute8 des griechischen Künstlers und Architekten Makis Efthymios Warlamis, die 2011 im Museum Waldviertel und 2012 im Byzantinischen Museum Thessaloniki zu sehen war. Dieses Projekt mit seinen über 200 Christusbildern wirkt wie der unzeitgemäße Kontrapunkt zum beliebigen Christus der Gegenwartskunst. Warlamis verstößt absichtsvoll gegen alle Gebote zeitgenössischer Kunst: Die Arbeiten sind traditionsbetont, sie bestehen großenteils aus Zitaten östlicher Ikonenmalerei und alter Meister, die mit eigenen Bildfindungen synthetisiert werden. Und die Ausstellung will in nicht zu übersehender Weise verkündigen. Doch gerade in dieser Unzeitgemäßheit sieht Warlamis seine Ak­tualität: Die Gegenwartskunst »agiert mit dem Unmöglichen, mit dem Noch-Nie-Da-Gewesenen. Und da ich ein Künstler der Gegenwart bin, folge ich diesem Prinzip. Es ist wahrlich unmöglich, Christus zu malen, aber gerade diese Unmöglichkeit macht mein Christus-Projekt möglich.«

Im Zentrum seines Projekts steht die massive Präsenz des Antlitzes Christi, das den Betrachter einlädt, eigene, innere Christus-Imaginationen zu entdecken. In seriellen Arbeiten wird dieses Antlitz übermalt, wie ein Palimpsest abgeschabt, fragmentiert und verfremdet. Die Dialektik von Entzug und Präsenz bildet den roten Faden dieser Ausstellung, die weniger einer üblichen Präsentation von Kunstwerken gleicht als der Inszenierung einer mystago-gischen Reise in das Geheimnis des Christusbildes.

Die geradezu erlebnispädagogische Inszeniertheit lässt sich aus dem Katalog nur ansatzweise rekonstruieren. In einer Videoinstallation wird etwa das bildliche Erscheinen und Verschwinden Christi projiziert. In einem Ausstellungsraum bittet ein geschnitzter Jesus die Besucher zu Tisch. Irritierend ist das allemal – genauso wie die dem Katalog beigefügten Texte des Künstlers mit ih-rer eigentümlich realistisch-surrealen Frömmigkeitssprache: »Das Achiropiiton – das heißt ›ohne meine Hände‹ – es entsteht eben. Manchmal muss ich ein Bild verbrennen, mit 600 Grad Celsius erhitzen und in diesem Verwandlungsprozess taucht Er unverhofft auf, ohne mein Tun, ohne meinen Beitrag. Und da ich ihn gut kenne, weiß ich immer: Er ist es!« Wer das Sehereignis dieses mystischen Christusglaubens verstehen will, sei auf das Frontispiz des Katalogs hingewiesen: Es zeigt Warlamis und den Komponisten Mikis Theodorakis, zusammengestellt als Szene »Apokathilosis« (Kreuzabnahme). Beide haben hier etwas Christusartiges, die Pose, das Stigma – ohne eindeutig als Christus erkennbar zu sein. Denn den inneren, verborgenen Christus in sich und im Nächsten möchte Warlamis in mystischen Seherfahrungen erschließen.

Diffus, verborgen, aber merkwürdig präsent – so ließe sich der Christus der Gegenwartskunst vielleicht beschreiben. Um die Transformationen des Religiösen in der modernen Kunst jedoch angemessen zu erfassen und zu deuten, wird es notwendig sein, die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu wirklichem Dialog zu ertüchtigen, allen voran Kunstgeschichte und Theologie bzw. Religionswissenschaft.

Fussnoten:

1) Museum Folkwang [Hrsg.]: The Empty Cross. Expression und Religion in Werken einer Schweizer Privatsammlung. Ausstellungskatalog Museum Folkwang. Göttingen: Steidl Verlag 2011. 104 S. m. Abb. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-86930-382-6.
2) Bonnet, Anne-Marie, Cepl-Kaufmann, Gertrude, Drenker-Nagels, Klara, u. Jasmin Grande[Hrsg.]: Christus. Zur Wiederentdeckung des Sakralen in der Moderne. Düsseldorf: düsseldorf university press 2012. 498 S. m. Abb. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-943460-06-3.
3) Hildburg, Ina, u. Sebastian Möllers [Hrsg.]: Jesus Reloaded. Das Chris­tusbild im 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog Stade. Köln: Wienand Verlag 2013. 160 S. m. zahlr. Abb. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-86832-183-8.
4) Brinkman, Martien E.: Jesus Incognito. The Hidden Christ in Western Art since 1960. Amsterdam u. a.: Rodopi Verlag 2013 (Brill). VIII, 240 S. = Currents of Encounter – Studies on the Contact between Christianity and Other Reli-g-ions, Beliefs, and Cultures, 47. Kart. EUR 60,00. ISBN 978-90-420-3623-9.
5) Harries, Richard: The Image of Christ in Modern Art. Farnham u. a.: Ashgate Publishing 2013. 186 S. m. 82 Abb. Kart. £ 19,99. ISBN 978-1-4094-6382-5.
6) Beer, Johannes [Hrsg.]: Zeitgenössische Kunst zur Bibel. Bielefeld u. a.: Verlag Kerber 2012. 204 S. m. zahlr. Abb. = Kerber art. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-86678-720-9.
7) Golgatha. Eine Ausstellung aus der Reihe »Kunst – Religion – Gesellschaft«. Ausstellungskatalog. Hrsg. v. W. Neumann, R. Heckmann u. H. Zolper. Textbeitrag v. J. Raap. (abrufbar unter http://issuu.com/peerboehm/docs/golgatha).
8) Warlamis, Makis E.: Christus Heute. Ein Konzept von M. E. Warlamis. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Waldviertel 2011. Schrems: I.DE.A Designcenter 2011. 114 S. m. Abb. Kart. ISBN 978-3-90055247-3.