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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

561–563

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Dal Toso, Giampietro, u. Peter Schallenberg [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Nächstenliebe oder Gerechtigkeit?Zum Verhältnis von Caritastheologie und Christlicher Sozialethik.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014. 267 S. m. Abb. u. Tab. = Christliche Sozialethik im Diskurs, 5. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-77858-1.

Rezensent:

Anne Käfer

»In der Zusammenschau der drei Grundfunktionen der Kirche [d. i. liturgia, martyria, diakonia] stellt die diakonia also keinen Luxus dar, auf den man ohne Verlust von Wesentlichem im Bedarfsfall auch verzichten könnte, sie ist nicht der Milchschaum auf dem Cappuccino.« (125) So resümiert die Freiburger Professorin Ursula Nothelle-Wildfeuer in ihrem Beitrag zu einem Aufsatzband, der Vorträge einer Konferenz in sich versammelt, die der Päpstliche Rat »Cor Unum« und die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle im März 2013 in Rom veranstaltet haben. Thema der Tagung war das Gespräch zwischen Caritastheologie und christlicher Sozialethik. In der Dokumentation der Tagungsbeiträge sind neben dem Text von Nothelle-Wildfeuer vor allem Beiträge von Vertretern der römisch-katholischen Theologie und Kirche abgedruckt.
Zwei miteinander verbundene Themen durchziehen den Aufsatzband. Zum einen ist die Annahme leitend, dass es der Kirche wesentlich sei, diakonisch tätig zu sein und Caritas (Liebe) zu üben. Liebesdienste zeichneten das Wesen der Kirche aus, die selbst als »Sakrament« zu verstehen sei. »Das II. Vatikanum definiert […] die Kirche theologisch als Sakrament [vgl. Lumen gentium Nr. 1]. Ein Sakrament ist ein wirkmächtiges Zeichen, ein Zeichen also, das die Wirklichkeit schafft, die es bezeichnet, ein Zeichen der wirksamen und spürbaren Nähe Gottes.« (128) Nicht nur Nothelle-Wildfeuer, auch andere Autoren weisen darauf hin, dass erst die Caritastätigkeit die Kirche als Kirche auszeichne. Paolo Asolan, Professor an der Päpstlichen Lateranuniversität Rom, hält fest, dass der kirchliche Dienst der Nächstenliebe an Bedürftigen »keinesfalls als nebensächlich gegenüber dem kirchlichen Wirken oder als diesem nachfolgend betrachtet werden darf, sondern als wesensgleich und substantiell« (183). Dabei dürfe der kirchliche Liebesdienst »nicht zum Zwecke des Proselytismus instrumentalisiert werden« (183). Gleichwohl, das betont Robert Kardinal Sarah in seiner theologischen Einführung, dürfe der Liebesdienst der Kirche auch nicht »als eine ausschließlich soziale Aktivität« verstanden werden (12). Stets müsse deutlich sein, dass der kirchliche Liebesdienst Zeugnis der Liebe Gottes sei (13). Solcherart Überlegungen werden im Aufsatzband durchgängig gestützt auf zwei Enzykliken von Papst Benedikt XVI., seine Antrittsenzyklika »Deus caritas est« sowie »Caritas in veritate«. Die Theologie des emeritierten Papstes dient als Grundlage für die Reflexionen des Tagungsbandes.
Die Beiträge des Bandes weisen darauf hin, dass der Liebesdienst der Kirche notwendiges Zeugnis der Liebe Gottes sei. Zudem handeln sie davon, wie der geforderte Liebesdienst realisiert werden könne. Klaus Ritter (Deutscher Caritasverband) führt aus, »Quelle« jeglichen Caritas-Engagements sei Gott selbst (158). Die tätige Nächstenliebe sei im Heilswirken Gottes begründet. Mit dem Wissen um den Heilswillen Gottes seien die Christenmenschen »zur unbedingten Nachfolge [Christi] aufgerufen«. »In der Nachfolge des Heilandes sollen wir als Kirche Heil-Land für die Menschen werden.« (158) Die Rede von der Heils-Bedeutung der Caritas wirft die – im katholischen Kontext nicht weiter thematisierte – Frage auf, ob das Heil der Welt tatsächlich vom Wirken der Kirche abhängig gedacht werden kann und nicht vielmehr die allmächtige Liebe Gottes selbst die wirksame und spürbare Nähe Gottes wirkt.
Das zweite Thema, das den Aufsatzband durchzieht, ist die Frage nach der Realisation konkreter Gestalten kirchlicher Liebesdienste in einer mehr oder weniger sozialen und gerechten Gesellschaft. Damit das soziale Handeln der Kirche als genuin kirchliches Handeln, nämlich als Handeln aus Nächstenliebe erkennbar sein könne, bedürfe es – über die Erkenntnisse der Sozialethik hinaus – im Sinne der Caritastheologie entsprechender Handlungsweisen.
Mehrfach wird im Aufsatzband auf die Pflicht zur Solidarität mit den Bedürftigen und Benachteiligten sowie auf das Subsidiaritätsprinzip abgehoben. Dieses achte die Würde des Menschen, indem es den Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln befähige. Werde Solidarität nach diesem Prinzip organisiert, dann werde sie, so der Münchner Ordinarius Markus Vogt, »im christlichen Sinn« wahrgenommen (245).
Vogt hat in seinem Beitrag die Aufgaben der Kirche gegenüber der zukünftigen Weltbürgergesellschaft im Blick. Akademiedirektor Peter Klasvogt stellt entsprechende Überlegungen für die Pfarrgemeinde an. Er konstatiert, die koinonia, der Zusammenhalt in der Gemeinde, sei gegenwärtig erheblich bedroht (220). Zwar spiele in den Gemeinden das soziale Handeln gegenüber Benachteiligten in der Gesellschaft eine große Rolle. Jedoch »Caritas, die aus der innigsten Vereinigung mit Christus in der Eucharistie erwächst« und die »gewissermaßen das Markenzeichen der Gemeinde« sei, sei kaum mehr vorhanden (223). Dem gelte es entgegenzuwirken, denn es müsse, »wer im Namen und Auftrag der Kirche sozial-caritativ tätig ist, in Wort und Sakrament verwurzelt sein« (228).
Unter dem Titel »Christliche Nächstenliebe und unternehmerisches Handeln« schreibt Michael F. Keppel, der beruflich als selbständiger Krisenmanager tätig ist, zu einem dritten Bereich karitativen Handelns (189 ff.). Er reflektiert, wie karitatives Handeln in Institutionen wirklich werden könne, die gerade nicht zur Kirche gehören, und wie Caritastheologie über den Bereich der Kirche hinaus in die Praxis umgesetzt werden sollte.
Der Aufsatzband bietet ein reiches Spektrum an Beiträgen, die die Bedeutung der Caritas für das Handeln und Zusammenleben in der Welt, sei es als Kirche oder auch als einzelner Unternehmer, sehr aufschlussreich durchdenken. Sämtliche Texte thematisieren ihre jeweiligen Fragestellungen unter der einen großen Frage, mit der der Aufsatzband überschrieben ist: »Nächstenliebe oder Gerechtigkeit?« Gerechtigkeit steht nach Holger Zaborowski, Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik, »für Christen im Schatten der Liebe. Das bedeutet nicht, dass die Gerechtigkeit unwichtig wäre. Allerdings gehört ihr nicht das letzte Wort.« (82) Die Unterscheidungen, die Zaborowski zwischen Gerechtigkeit und Liebe trifft, sind anregend, überzeugen aber nicht alle. Beispielsweise leuchtet nicht ein, wieso »Gleichheit« nur für »Gerechtigkeit« relevant, in der »Liebe« aber um der Andersart igkeit und Einzigartigkeit geliebter Menschen willen nicht entscheidend sein sollte (70 f.). Schließlich ist dies die Pointe des Nächstenliebegebotes, dass zwischen Menschen kein Unterschied ge­macht werde, sie vielmehr alle gleichermaßen als »Nächste« an­gesehen werden. Die »Nächsten« gleichen sich sämtlich in ihrem Geschöpfsein, nicht allerdings in ihrer Bedürftigkeit, die es auszugleichen gilt, damit gerechte Verhältnisse herrschen. Gerade auf dem Boden der Nächstenliebe scheint ein christliches Verständnis von (Bedürfnis-)Gerechtigkeit entwickelt werden zu können.
Wie Zaborowski wertet auch Arnd Küppers (Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle) die Liebe höher als die Gerechtigkeit. Er streicht die Unverzichtbarkeit der Caritas für den Menschen und die gesamte Gesellschaft heraus: »Liebe ist […] kein bloßes superadditum zur Gerechtigkeit keine Beigabe, auf die in der gerechten Gesellschaft auch verzichtet werden könnte. Sondern der Mensch […] ist auf die Liebe existentiell angewiesen und auch die Gesellschaft ist es, wenn sie eine menschliche bleiben soll.« (155)
Die Themen und Argumentationsgänge der 16 Beiträge des Aufsatzbandes sind gerade auch für eine Lektüre aus evangelischer Perspektive zwar nicht unverzichtbar, aber lohnend.