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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

592–593

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Nils Ole Oermann

Titel/Untertitel:

Alfred Jäger zum Gedenken

Zuweilen sagen Traueranzeigen mehr über einen Verstorbenen als längliche Nachrufe. Bei dem am 2. März 2015 in St. Gallen verstorbenen Systematischen Theologen Alfred Jäger ist dies der Fall, wenn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von seinen Schülern zu lesen war: »Wir trauern um unseren Kollegen und Wegbegleiter, der als theologischer Denker, akademischer Lehrer und liberaler Geist, als weitblickender Stratege, engagierter Berater und beharrlicher Mahner auch unter Widersprüchen mit seiner Person für das einstand, was er erkannt hatte und oft wie ein Prophet weitergab.«

Theologe, Lehrer, Liberaler, Stratege, Berater, Mahner, Persönlichkeit, gar »wie ein Prophet«: Auch wenn Alfred Jäger die letzte Dienstbezeichnung brausend zurückgewiesen hätte, sind die an­deren Substantive sämtlich Sachverhaltsbeschreibungen und keine Wertung: Denn gelehrt und geprägt hat er als Vertreter der Systematischen Theologie Generationen von Studenten an der Kirchlichen Hochschule in Bethel, Diakoniewissenschaftler in Deutschland und Europa und all jene, die ihn als beratenden Mahner und Ratgeber daheim in St. Gallen erleben durften. Die Mehrdimensionalität all dieser Rollen, die manchen seiner Kollegen überfordert hätte, war das Elixier, das den akademischen Unternehmer Alfred Jäger aufblühen ließ.

Das Prädikat »Unternehmer« hätte er sich im Übrigen gefallen lassen. Denn ein Unternehmer war für ihn schlicht einer, der den Mut hat, etwas auf eigenes Risiko zu unternehmen. Unternehmerisch denken lernte er an der als Handelshochschule gegründeten Universität St. Gallen, deren Hochschulpfarrer und Dozent er war und deren Studienmodell ihn zeitlebens prägte. Vielen auch seiner theologischen Studierenden eröffnete durch seine Beratung den Weg dorthin. 1977 wurde er nach Promotion in Basel in St. Gallen in Systematischer Theologie habilitiert.

1981 unternahm der theologische Unternehmer und unternehmungs- wie entscheidungsfreudige Theologe Jäger dann als liberaler Schweizer das Wagnis Ostwestfalen, um bis 2007 die Rolle des klassischen theologischen Lehrers in der gesamten Breite seines Fa­ches und bei den Studierenden so beliebt wie geachtet auszufüllen.

Doch schnell erkannte der ökonomisch gebildete Stratege Alfred Jäger das ungehobene Potential seiner Kirchlichen Hochschule, die doch im Herzen eines der bekanntesten diakonischen Zentren der Welt angesiedelt war. Seine Berufung fiel in eine Zeit, in der sich die Diakonie wirtschaftlich komplett neu ausrichten musste, um ökonomisch überlebensfähig zu bleiben. Was aber die meisten Ökonomen in so einer Situation nicht leisten können und wollen, nämlich eine Neuausrichtung kirchlicher Einrichtungen theologisch zu begründen und Diakonie als »Unternehmung« sui generis theologisch zu beschreiben und damit (wirtschafts)ethisch wie gegenüber den staatlichen Partnern zu qualifizieren, gelang Jäger schulbildend: Exemplarisch dachte er in Bethel und für zahllose diakonische Unternehmungen als beratender Stratege vor, was er später in seinem vielleicht bekanntesten Werk »Diakonie als christliches Un­ternehmen. Theologische Wirtschaftsethik im Kontext diako-nischer Unternehmenspolitik« (2001) konzeptionell und weithin rezipiert unterlegte.

Als Berater kämpfte er dann weniger im diakonisch-unternehmerischen als im kirchlich-akademischen Kontext wie viele als extern wahrgenommene Berater mit dem Schicksal so manches Propheten, die die größten Wahrnehmungsstörungen vor allem im eigenen Land registrieren.

Das lag wiederum nicht nur an seiner Rolle als Mahner, sondern vor allem an seiner Botschaft. Denn nicht erst in der sog. Unternehmerdenkschrift der EKD wurde deutlich, wie schwer man sich gerade in kirchlichen Zusammenhängen mit Begriffen wie »Unternehmer« und »Management« tut, die die Neuausrichtung der Diakonie mit all ihren Chancen und Problemen prägen und bestimmen sollten, die aber gerade kirchlich-theologisch zumindest im deutschen Kontext nur mit Skepsis rezipiert wurden.

Was andernorts und gerade in der Ökonomie selbstverständlich war, wurde theologisch kritisiert: Zu sehr wurden »Unternehmungen« und die sie leitenden Unternehmer und Manager – einschließlich jene in der Diakonie tätigen – assoziiert mit rücksichtslosem Profitstreben und reduziert auf einen strategischen Umgang mit Menschen. Dieses Missverständnis aufzubrechen, war eines der Lebensthemen von Alfred Jäger, mit denen er nicht nur seine Hochschule und seine Kirche mahnend wachrufen, sondern als Theologe die Diakonie in Deutschland und Europa nachhaltig prägen sollte.