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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

579–581

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Raiser, Konrad

Titel/Untertitel:

Ökumene unterwegs zwischen Kirche und Welt. Erinnerungsbericht über dreißig Jahre im Dienst der ökumenischen Bewegung.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 496 S. = Ökumenische Studien/Ecumenical Studies, 42. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-643-12376-3.

Rezensent:

Hans Jürgen Luibl

»Erinnerungsbericht« nennt Konrad Raiser den Rückblick auf 30 Jahre Ökumene, geschrieben aus seiner Sicht als »privilegierter Zeitzeuge« (Einleitung), chronologisch ausgerichtet entsprechend den Phasen seines Arbeitslebens: von 1969 bis 1983 in verschiedenen Funktionen innerhalb des ÖRK in Genf, von 1983 bis 1993 als Professor für Systematische Theologie/Ökumenik in Bochum (verbunden mit einer Fülle ökumenischer Ämter und Aufgaben) und schließlich als Generalsekretär des ÖRK bis zum Ruhestand 2003. Wer sich auf diesen Erinnerungsbericht einlässt, findet sich wieder in der spannenden und spannungsgeladenen Geschichte der Ökumene, speziell des ÖRK im letzten Drittel des 20. Jh.s und erhält detaillierte (Hintergrund-)Informationen.
Lebendig werden unter anderem die Diskussionen um Rassismus und Militarismus, die Kontroverse um die »synkretistische« Rede der koreanischen Theologin Chung Hyung Kyung in Canberra 1991 oder die Entwicklung der Dekade zur Überwindung von Gewalt. Dass diese Geschichte nicht immer einfach zu lesen ist, gerade wenn sie sich am Procedere ökumenischer Gremienarbeit orientiert, mag dieses Zitat zeigen: »Wichtig für die weitere Programmplanung wurde […] die Empfehlung, unverzüglich nach der Vollversammlung einen ›speziellen Prüfungsausschuss‹ einzuset zen, der in Kooperation mit den, vom neuen Zentralausschuss ernannten Kerngruppen der künftigen Kommissionen und Ar­beitsausschüsse und im Einklang mit der Finanzplanung einen Rahmenplan für die spezifischen Aktivitäten in den Programmeinheiten und Untereinheiten ausarbeiten und dem Zentralausschuss zur Beschlussfassung vorlegen sollte.« (83) – Ausschuss-Gremien-Ökumene ist eine Welt für sich. Beeindruckend aber ist die Bandbreite des ökumenischen Engagements von R., ist seine Kompetenz, strukturelle mit inhaltlich theologischen Fragen zu verbinden. Dabei zieht sich wie ein roter Faden die Verknüpfung von Glaube als Weltverantwortung durch die Geschichte der Ökumene. Oder anders gesagt: Ökumene ist die Verwirklichung des Glaubens in weltweiter Verantwortung, Aufgabe jeder Kirche und des Miteinanders der Kirchen.
Wie sich diese Grundausrichtung in der Arbeit des ÖRK darstellen und umsetzen lässt, ist im Erinnerungsbericht festgehalten. Dabei benennt R. immer wieder auch Grundprobleme, die sich an aktuellen Kontroversen entzünden. Ein zentrales Problem, vielleicht sogar das Schlüsselproblem, sind die Frage der ekklesialen Qualität des ÖRK, seine Bedeutung für die Ökumene im Ganzen, seine Stellung zu den (Mitglieds-)Kirchen, Fragen der Verbindlichkeit nach innen und der Wirkkraft nach außen. Der ÖKR ist, so die Basisformel, die Gemeinschaft der Kirchen. Doch diese Gemeinschaft ist in sich differenziert. Dabei gibt es etwa die Dauerspannung zwischen den protestantischen und den orthodoxen Kirchen – eine Spannung, die sich vom unterschiedlichen Kirchenverständnis bis in die Bedeutung der ethischen Fragen für das Miteinander der Kirchen niederschlägt. Immer neu auszutarieren ist auch das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche oder zu kirchlichen Weltbünden usw. Manifest werden die Spannungen innerhalb des ÖRK etwa in der finanziellen Unterstützung durch die Kirche, die im Laufe der Zeit schwindet, oder bei der Besetzung von Ausschüssen. Entsprechend gehören Leitbilddiskussionen, neue Programmentwicklungen und Restrukturierungen der Arbeitsformen zum Hauptgeschäft des ÖRK und nehmen im Buch auch einen breiten Raum ein. Dabei lässt sich nach R. eine langsame Veränderung im Selbstverständnis des ÖRK ausmachen: vom ÖRK als einer Art Ökumenezentrale der Gemeinschaft der Kirchen, die ihren Mitgliedern auf dem Weg der Ökumene in die Welt vorausgeht, ihnen kritisch gegenübersteht und sozial-prophetisch in den Herausforderungen der Welt agiert – hin zu einem Verständnis der Ökumene als konziliarem Prozess, in dem der ÖRK hilfreiches Instrument auf dem Weg der sichtbaren Einheit der Kirchen für die eine Gemeinschaft aller Menschen ist.
Am Ende entwickelt R. die Vision der Ökumene für das 21. Jh.: den ökumenischen Raum, »der einem Kraftfeld gleicht, das der Geist Gottes zwischen den Kirchen geschaffen hat, in dem der ÖRK als Treuhänder agiert und eine Art kooperativer episcopé oder Aufsicht ausübt« und in dem Shalom für die ganze Welt sich eröffnet (446–451). Gerade diese Schlussvision der Ökumene für das Leben macht umgekehrt die Schwäche dieser Art Ökumene und des ÖRK deutlich. Es bleibt ein abstraktes Leitbild ohne die kritische Kraft des Utopischen, denn es fehlen die verantwortlichen Träger dieser Vision, es fehlen die weltweit theologischen oder institutionellen Verbindlichkeiten, es fehlen die konkreten Programme und Aktionsformen. Es ist, als sollte über die steigenden Differenzen und Konflikte im ÖRK und in der Welt-Ökumene ein Mantel des Heils gestülpt werden. Dabei wird auch heiliggesprochen, was nicht an sich heilig ist, etwa die Zivilgesellschaft; sie wird zur säkularen Schwester des konziliaren Prozesses, die den ökumenischen Raum erschließt: »Leitendes Interesse zivilgesellschaftlicher Prozesse ist die Verbesserung von Lebensqualität durch die Schaffung verläss-licher und sinnvoller Zusammenhänge – nicht in erster Linie die Ausübung von Macht oder die Akkumulation von Kapital.« (437)
Letzteres schreibt R. der Politik und der Wirtschaft zu. Dass Zivilgesellschaft lebensdienlich ist, Politik und Wirtschaft Leben nur beherrschen wollen, ist in dieser Pauschalität zu hinterfragen und im Blick auf so manche zivilgesellschaftlichen Prozesse, in denen gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen machtvoll inszenieren, schlicht zu bestreiten. Und ob eine z. B. europäische Zivilgesellschaft sich wirklich so konziliant und konziliar definieren und christlich vereinnahmen lässt, ob sie überhaupt den Kirchen in ihrem Raum Mitsprache gibt, bleibt abzuwarten. Aber umgekehrt: Wäre es nicht auch möglich, aus der Dauerkrise der Öku-mene, wie R. sie selber klar schildert, die zu einer Krise moderner Einheitsideen und deren Groß-Gemeinschaften gehört, andere Schlüsse zu ziehen: Statt immer neue und umfassendere Einheitsvorstellungen zu entwickeln, ließe sich nicht Kraft für ein neues Miteinander aus der Verabschiedung von verpflichtenden Einheitsideen und All-Lösungen gewinnen?
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, warum R. das Ökumene-Leitbild etwa der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«, lediglich als Modell für Kon­fessionsfamilien ansieht. Gerade hier wird Einheit nicht abstrakt definiert, sie konstituiert sich nicht unter Absehung von pluraler Kirchlichkeit oder unter Ausblendung von Differenzen in der ethischen Orientierung, sondern als Gemeinschaft der Unterschiede(nen) in der Kraft der Versöhnung. In der Bilanz, die dieser Erinnerungsbericht insgesamt und im Kapitel 9 (399–451) ganz explizit sein will, fehlt eine kritische Reflexion, die sich aus der von R. selbst wahrgenommenen und vielfach thematisierten Krise der Ökumene, ihren Konflikten und Differenzen ergeben könnte.
Überraschend ist auch, dass Rezeptionsfragen, von der Wahrnehmung des ÖRK bis hin zur Umsetzung von Programmen für die Weiterentwicklung eines Ökumene-Konzepts, kaum in den Blick kommen, wären doch Rezeptions- oder eben Nicht-Rezeptionsprozesse ein wesentlicher Teil eines konziliaren Prozesses, der auf Gemeinschaft aus ist und nachhaltig sein will. Das macht, bei allen ökumenischen Perspektiven, die Grenze des Erinnerungsberichts aus. Zudem hätte das Buch im Blick auf Schreibfehler ein besseres Lektorat verdient gehabt – auch manche Schreibverwirrung hätte so vermieden werden können: »Ungarn und Budapest boten sich als Tagungsort an.« (115) Ist Budapest nicht ein Ort in Ungarn?
Bleibt am Ende die Frage nach der Bedeutung des Titels »Ökumene unterwegs zwischen Kirche und Welt«, der mehr Verwirrung als Orientierung schafft. Dabei stellt sich Ökumene als eigenständige Größe zwischen den statischen Blöcken Kirche und Welt dar. Das mag eine Selbstbeschreibung des ÖRK sein, weniger geeignet für Ökumene, die, so R., eine verpflichtende und verheißungsvolle Glaubens-Bewegung der Kirche und der Kirchen aufeinander zu und in die Welt hinein ist und bleibt.