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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

573–575

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Winter, Stephan

Titel/Untertitel:

Liturgie – Gottes Raum. Studien zu einer Theologie aus der lex orandi.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pus­tet 2013. 644 S. = Theologie der Liturgie, 3. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-7917-2491-1.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Diese Erfurter katholische Habilitationsschrift, die bereits im Jahre 2009 angenommen wurde, konnte erst vier Jahre später publiziert werden, was gewiss nicht zuletzt mit den Massen an verarbeitetem Stoff und entstandenem Text zusammenhängen dürfte. Auch der Rezensent benötigte ein gehöriges Maß an Zeit, um das extrem umfangreiche Buch zu studieren.
Der Band enthält in zehn unterschiedlich langen Kapiteln Studien zu drei ineinander verwobenen Fragestellungen: Zunächst geht es erstens (dem Titel entsprechend) um das systematische Thema der lex orandi für das Verständnis der lex credendi, also um jene Grundsatzfrage der Liturgietheologie und Dogmatik, wie sie in letzter Zeit besonders in der amerikanischen und in der italienischen Liturgiewissenschaft unter der Überschrift der »theologia prima« verhandelt wurde. Auch W. ist der Ansicht, dass die litur-gischen Vollzüge »selber Theologie« sind, »insofern sie geschicht-liches Bleiben der Offenbarung in rituell-symbolischer Form sind« (51). Dass die Liturgiewissenschaft auch eine systematische Disziplin ist, kann und will ich nicht bestreiten – ganz im Gegenteil. Gerade deswegen halte ich es aber für sinnvoller, die Theologie als Reflexionskategorie von der gefeierten Liturgie als Quelle und Ausgangspunkt aller Theologie begrifflich zu unterscheiden. Im Übrigen ergänzt W. die geläufige Gegenüberstellung von lex orandi und lex credendi noch durch die ethische Perspektive der lex bene operandi (61–73; vgl. 155.551 u. ö.): »In der Gestalt der Liturgie offenbart sich das Reich Gottes in seiner vollkommenen Gnadenhaftigkeit, der seitens der Menschen eine Ethik der Großzügigkeit entspricht.« (61) Zu diesem ersten Themenkomplex gehören das einleitende 1. Kapitel zur Liturgietheologie (20–73), das 3. Kapitel »Zur Bedeutung der Lichtkategorie für die theologische Erschließung der Semantik von ›Handeln Gottes‹« (158–228) sowie der systematisch-theologische Ausblick am Schluss des Buches, in dem die Kategorie des »Handelns Gottes« im Gespräch mit katholischen Autoren (an erster Stelle: Karl Rahner) zu klären gesucht wird, um die Reichweite einer Theologie des Gebetes im Kontext der christlichen Rede von Gott auszuloten (Kapitel 9 und 10, 536–581).
Sodann geht es zweitens um die Theorie und Theologie des liturgischen Raumes, und zwar im buchstäblichen Sinne des Kirchenraumes wie im metaphorischen Sinne; hierzu gehören Unterthemen wie das Kirchenjahr, der Bedeutungsraum von verschiedenen Theologoumena sowie theologisch-existenzielle Raum-Metaphern. Hier tritt besonders das 5. Kapitel durch die ausführliche Beschäftigung mit Rudolf Schwarz’ Buch »Vom Bau der Kirche« (237–288) hervor. Im Hinblick auf Schwarz’ Raumkonzept heißt es: »Einen Altar, der für einen irgendwie als cultus debitus verstandenen Gottesdienst steht, gibt es in einem solchen liturgischen Raum nicht mehr« (273). Das Attribut »raumtheologisch« wird darüber hinaus in dem gesamten Buch verwendet, um verschiedenste Aspekte des eigenen Vorgehens zu charakterisieren. Die Raum-Metapher wird demnach als integrierende Perspektive verwendet (was dem kulturwissenschaftlich vielfach konstatierten »spatial turn« entspricht).
Den Kern und materialen Hauptpunkt der Untersuchung aber bildet drittens eine ausführliche Exegese, systematische Einordnung und praktische Reflexion der Gebetstexte (Antiphonen, Kollekten und Präfationen) in den römisch-katholischen Weihnachtsmessen. Die weihnachtlichen Kapitel 6–8 umfassen fast die Hälfte des umfangreichen Werkes (289–535) und machen damit den eigentlichen Forschungsbeitrag aus, auf den man künftig immer wieder zurückgreifen wird.
Wurde in letzter Zeit in der Praktischen Theologie mehrfach konstatiert, dass das gegenwärtige Christentum zu einer Art von »Weihnachts-Christentum« (Matthias Morgenroth) mutiert (ist), so zeigt sich W. daran interessiert, den theologisch-soteriologischen Zusammenhang der Festgeheimnisse von Ostern und Weihnachten deutlich werden zu lassen. Wie Weihnachten im 4. Jh. wohl weniger die Umcodierung von paganen Wintersonnenwende-Feiern war, sondern eher eine christliche Reaktion mit Überbietungsanspruch auf die damals weit verbreitete Religiosität der »Solarisierung« war – was es noch in Liedzeilen wie »Er ist die rechte Freudensonn’« zum Ausdruck kommt (501 [Evangelisches Ge­sangbuch 1,3]) –, so lässt sich auch im Hinblick auf unsere Gegenwart konstatieren: »Religion und Religiosität verschmelzen gerade im weihnachtlichen Kontext auf das Engste miteinander.« (523) Im Weihnachtsfest werden die Religiosität der Feiernden und das Mysterium zugleich Realität. Leitend für W. ist die Annahme, »dass sich nach altem römischen [sic] Verständnis das eigentliche Festgeheimnis und dessen Feier nicht voneinander trennen lassen: Wer die Geburt Christi liturgisch begeht, der erlebt sie auch immer wieder!« (374)
Für das Verständnis des Kirchenjahres schlägt W. entsprechend das Bild der Spirale vor. Das Christusereignis habe für den Glauben zwar »endgültig ein linear strukturiertes Zeitverständnis etabliert«, weil dieses durch die Herrenfeste den Rhythmus der Zeit bestimme; gleichwohl bleiben zyklische Vorstellungen weiterhin bestimmend und das »Spiralenbild deutet an, dass es dabei also eine gewisse Kreisbewegung gibt. Diese schraubt sich aber immer höher, ›dem Himmel entgegen‹, und ist auf die endzeitliche Vollendung hin ausgerichtet.« (534)
Die mit den weihnachtlichen Texten gesetzte Kommunikation zwischen Gott und Mensch kann nach W. vor allem als heiliger Tausch, als sacrum commercium beschrieben werden (426 f.). Die eucharistische Gabe muss darum von Gott »für den heiligen Austausch bereitet werden« (504). Dabei bleibt dem menschlichen Geber »nur die inständige Bitte, dass dies geschehen möge, wobei sich die Intention letztlich nicht auf die materiellen Gaben richtet, sondern auf den Geber bzw. seine Gesinnung: Die Bitte hat Partizipation der Feiernden an der göttlichen Natur zum Ziel, die sich durch den Empfang des Leibes und Blutes Christi ereignen möge.« (Ebd.) Schließlich wird im Rückgriff auf Karl Rahner das Gebet als der »religiöse Akt schlechthin« verstanden, denn dieses hat als »ausdrückliche Realisierung unserer natürlich-übernatürlichen Bezogenheit auf den persönlichen Gott des Heils« zu gelten (559).
W. hat ein äußerst aspekt- und materialreiches – man vergleiche allein das gigantische Literaturverzeichnis von 54 engbedruckten Seiten (582–635) – Werk vorgelegt, das besonders im Hinblick auf das Thema Weihnachten in römisch-katholischer Sicht künftig maßgeblich sein wird. Die genannten drei hauptsächlichen Themenbereiche interagieren in dem Buch wie gezeigt auf mehrfache Weise; sie werden nicht nur nacheinander, sondern auch miteinander verhandelt, so dass dem Gedankengang mitunter nicht leicht bzw. erst im Zusammenhang des Ganzen zu folgen ist. Das Schwierige für den Leser besteht vor allem darin, dass der Untersuchung – wie auch der gewählten Gliederung – sowohl Phänomenkategorien (Licht, Raum, Weihnachten) als auch Reflexionskategorien (lex orandi/lex credendi, Handeln Gottes) zugrunde liegen, so dass die historischen, systematischen und praktischen Diskurse ineinander verschlungen sind. Gerade deswegen wäre ein (knappes) Sachregister hilfreich gewesen, um die leitenden Kategorien leichter aufeinander beziehen zu können und die Rezeption dieses opus magnum zu erleichtern.