Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

569–571

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nembach, Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Internetpredigten. Zur Sprache der Predigt in der globalisierten Welt.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2013. 195 S. m. 2 Tab. = Forschungen zur praktischen Theologie, 19. Geb. EUR 42,95. ISBN 978-3-631-64846-9.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Nach 14 Jahren ist in der Reihe »Forschungen zur praktischen Theologie« wieder ein Band erschienen. Der Herausgeber des Bu­ches (und der genannten Reihe), Ulrich Nembach, ist durch seine langjährige Tätigkeit im Rahmen der Begleitung und Bereitstellung der »Göttinger Predigten im Internet« besonders dazu prä-des­tiniert, das Thema des Buches einer Untersuchung zu unterziehen. Den Bedarf an Predigten aus dem Internet begründet er zuerst mit der »großen Arbeitslast, der heutige Predigerinnen und Prediger ausgesetzt sind« (7). Sie fänden nun mit einem Klick ins Netz willkommene Hilfe. Des Weiteren, so der Herausgeber, führten die strukturellen Veränderungen in Kirche und Gemeinde dazu, dass sich Gemeindeglieder dazu herausgefordert sähen, Gottesdienste selbst zu veranstalten, wofür sie im Internet Unterstützung und Begleitung fänden. Dazu gehöre vor allem eine »zeitgemäße, theologisch verantwortete Sprache«, die das Internet durchaus biete. Nembach fügt hinzu: »Homiletische Antworten früherer Generationen helfen nur bedingt weiter, weil ihre Welt eine andere war« (7). Um welche Generationen, Antworten (und Fragen) es geht, wird nicht ausgeführt.
Hier ist nicht der Raum, die impliziten und expliziten Prämissen der Bedarfsanzeige des Buches im Detail zu diskutieren, aber das im Dialog mit »früheren Generationen« zeitgenössisch gewordene homiletische Fachwissen reicht doch so weit, dass man mit Sicherheit sagen kann, dass aus Zeitgründen übernommene Predigten aus zweiter Hand keineswegs schon dazu führen, eine gute, in ihrer Relevanz einleuchtende oder im besten Wortsinn bewegende Predigt halten zu können. Die Predigtprobleme der Gegenwart sind viel komplexer, als dass der Rückgriff auf peerreviewte, im Internet bereitgestellte Muster schon ausreichte, den Herausforderungen gerecht werden, vor denen Predigerinnen und Prediger heute stehen.
Von seinen Prämissen her hätte man erwartet, dass ein solches Buch an irgendeinem Punkt einen nachvollziehbaren Vergleich zwischen »traditionellen« und »Internetpredigten« anstellt und – außer der globalen Greifbarkeit – den rhetorischen, sprachlichen, theologischen, ökumenischen usw. Gewinn solcher Predigten aufzuzeigen sucht. Leider fehlt ein solcher Beitrag. Nur zwei von zwölf Beiträgen gehen überhaupt auf Internetpredigten ein: Gottfried Brakemeier (47–55) geht vor allem der Frage nach, warum »Predigten im Internet eine erstaunliche Nachfrage haben«, ohne sich freilich auf den Diskurs mit vorliegenden Arbeiten zur Predigtrezeption einzulassen. Ulrich Nembachs Beitrag »Internetpredigt« (9–46) hingegen ist als ein gut informierender, ausführlicher Rechenschaftsbericht über seine Arbeit für die Internetpredigten zu lesen. Der Leser wird darüber hinaus über Gründe, Prinzipien und Intentionen für »›Predigten im Internet‹ (= Göttinger Predigten im Internet)« aufgeklärt. Der Vf. kommentiert zunächst das Internet als Massenmedium und weist auf formale Unterschiede in der Vernehmbarkeit bzw. Rezeptionsweise von Internetpredigten gegenüber Gemeindepredigten hin.
Warum unvermittelt zwei Abschnitte über den privaten Hörfunk eingeschaltet werden, was sie zum Verständnis der Internetpredigten beitragen könnten, was der »Glaube von Rundfunkredakteuren« (20) mit all dem zu tun hat und inwiefern er im Zusammenhang von Internetpredigten zu bedenken ist, wird vom Vf. nicht plausibilisiert (19–23). Unverständlich bleibt auch die Funktion des Kapitels »Schrift und Bekenntnis in den Internetpredigten« (25 f.), da in dieser Hinsicht nichts gesagt wird, was nicht in gleicher Weise für Pfarrer einer jeden Landeskirche gilt. Ähnliches trifft für die Frage nach dem Antwort-Potential von Predigten zu (26 f.), wobei starke Behauptungen mit nur schwacher Argumentation unterlegt werden: Nach dem Hinweis, dass es Paulus darum gegangen sei, die Theologie des Kreuzes in lebensnahe Praxis umzusetzen, wird festgestellt: »Um diese lebensnahe Praxis geht es den Göttinger Predigten im Internet. Sie gehen nicht deduktiv vor, wie es weitgehend in der Theologie heute geschieht.« (27)
Der Vf. wirbt für die Internetpredigten, indem er auf bestimmte Vorteile verweist: auf ihre Mehrsprachigkeit, auf ihre (zumindest chronologische) Aktualität, auf ihre Vielfalt an Antworten, die die verschiedenen Ländern zuzuordnenden Autorschaften mit sich bringen, auf Suchprogramme u. a. m. Dass die Internetpredigten nicht Theologen- oder Kirchensprache sprechen, sondern allgemeinverständlich sein sollen, ist freilich kein spezifisches Axiom des digitalen Zeitalters, sondern seit 50 Jahren einer der am häufigsten formulierten Ansprüche zeitgenössischer Homiletik überhaupt. Der Vf. geht davon aus, dass die Internetpredigten diesen Anforderungen durchaus gerecht werden (33 u. ö.). Hier wären ein paar exemplarische Beispiele dafür, was der Vf. für gute Predigtsprache hält und wie sie klingt, wünschenswert; noch aussagekräftiger wären entsprechende Analysen, wie sie für normale Kanzelpredigten vorliegen. Solange das nicht geschieht, darf bezweifelt werden, dass Internetpredigten kategorisch rhetorisch besser, vom Kirchenjargon emanzipierter, theologisch risikofreudiger und ar­gumentativ überzeugender sind als gedruckte zeitgenössische Predigten.
Die übrigen zehn Beiträge des Buches befassen sich mit diversen Aspekten der Predigtkultur, ohne näher auf Internetpredigten einzugehen. Juray Bándy definiert »Predigt als eine produktive und kreative Beschäftigung mit dem Bibelwort sowie als eine Auslegung, Applikation und Aktualisierung des Wortes Gottes« (41–46). Wie passt das zu Nembachs eingangs formulierter Prämisse über die Antworten früherer Generationen? Jerónimo Granados geht auf das Predigtkonzept evangelikaler Bewegungen und die Relevanz des Mediums »Bild« ein (57–72), Richart Hartmann beleuchtet »die Probleme der Gottesrede heute« mit Bezug auf die Liturgie (73–90), Tom Kleffmann (91–103) präsentiert einige Thesen zur »Krise der Predigt« als »Krise der Kirche«. Weil »der naturwissenschaftlich-technische Verstand die Sprache der Gegenwart bestimme«, grenze er »die überlieferten Begriffe dieser Gegenwart aus dem allgemeinen Gespräch« und der Predigt aus. – Dass sich diese Problemanzeige, wie immer man ihre Tragweite einschätzen mag, gegen die Prämissen der »Göttinger Internetpredigten« wendet, erweist sich als eine der Widersprüchlichkeiten der zum Teil disparaten homiletischen Grundsätze dieses Bandes. – Kleffmann fordert dementsprechend: »Die Predigt muss die biblische Verkündigung des Reiches Gottes, des Himmels, der Gerechtigkeit, der Vergebung, des Geis­tes, des ewigen Lebens auf die Situation des gottlosen Fürsichseins beziehen«, dabei darf das »Sprachvolk« nicht »von den Sprachformen der Bibel abgeschottet« werden (102).
Der Beitrag von Siegfried Krückeberg zur Rundfunkhomiletik (113–128) bietet Anregungen dazu, Erfahrungen aus dem Hörfunkbereich auf die Predigt im Gottesdienst zu übertragen »und beispielsweise in der Vorbereitung konsequent nach Aktualität, Ge­sprächswert und Nutzen« zu fragen (113), womit er der eingangs genannten Prämisse Nembachs wiederum näher steht als z. B. Kleffmann. Die Beiträge von Angela Rinn (129–146) mit einem Plädoyer für eine neue Predigtkultur (spannend, sexy, aktuell), von Mauro B. de Souza (147–158) über die Rolle der Predigt im Zeitalter der Globalisierung und David Zersen (181–193) zu den homile-tischen Berührungspunkten zwischen Welt- und Ortsgemeinde run­den das Buch ab. Besonders zu würdigen ist der homiletisch sorgfältig durchgearbeitete Aufsatz von Manuel Stetter: »Predigt und Argumentation. Zur Rolle diskursiver Sprachformen in der gegenwärtigen Homiletik« (159–179). Dieser Beitrag öffnet sich dem weitgespannten homiletischen Diskurs in dieser Frage und rückt gutes Argumentieren als ein zentrales Strukturelement zeitgenössischer Predigt neu in den Blick – wohl wissend, dass er damit Einsichten früherer Generationen folgt.
So bietet das Buch eine bunte Sammlung homiletischer Impulse, die durch ein gemeinsames Interesse an einer zeitgenössischen Predigtkultur verknüpft und so formuliert sind, dass sie zum Weiterdenken provozieren.