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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

567–568

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Baschera, Luca, Berlis, Angela, u. Ralph Kunz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gemeinsames Gebet. Form und Wirkung des Gottesdienstes.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 248 S. = Praktische Theologie im reformierten Kontext, 9. Kart. EUR 29,20. ISBN 978-3-290-17758-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Nach der bekannten Beschreibung Friedrich Schleiermachers ist das gottesdienstliche Geschehen wesentlich dem darstellenden und nicht dem wirksamen Handeln zuzuordnen, also der Kunst und dem Fest als Unterbrechung des auf das Bewusstsein wirkenden, zielgerichteten Handelns. Die in diesem Band versammelten Beiträge, die auf eine Tagung des »Interdepartementalen Kompetenzzentrums Liturgik« an der Universität Bern zurückgehen, wollen angesichts dieser Grundannahme nach der anderen Seite fragen – nach der pädagogischen, sozialen, kirchlichen und kulturellen Wirkung des Gottesdienstes. Als Schlüsselbegriff wird von den Herausgebern und den meisten Autoren die Kategorie des Formativen herangezogen: Die Liturgie stellt subjektive, persönliche und soziale Realitäten nicht nur dar, sondern erschafft diese auch.
Das wird besonders in dem einleitenden, programmatischen Beitrag von Luca Baschera und Ralph Kunz (9–37) entfaltet: »Wird der Gottesdienst expressiv aufgefasst, stellt er ein Geschehen dar, dessen primäres Subjekt der Mensch als kulturell Handelnder ist. Daraus ergibt sich, dass der Gottesdienst grundsätzlich als Ausdruckshandeln des menschlichen Subjekts definiert wird. Diesem Gottesdienstverständnis stellen wir das ›formative‹ gegenüber. Es zeichnet sich dadurch aus, dass dem Gottesdienst erstens eine konstitutiv prägende Wirksamkeit auf die feiernde Gemeinde zugesprochen wird und zweitens nicht der Mensch, sondern Gott als primäres Subjekt dieses Handelns betrachtet wird.« (19) Diese These wird nicht nur im Gespräch mit der deutschsprachigen und europäischen Liturgiewissenschaft expliziert, sondern im weiteren ökumenischen Horizont, besonders in Bezug auf den in Grand Rapids lehrenden reformierten Theologen James K. A. Smith (19–33). Smith geht es um die »Bildungsrelevanz« der Liturgie, um die »formative importance of worship« (25). Die Teilnahme am Ritus »formatiere« den Menschen. An diesem Punkt ist allerdings zu berücksichtigen, dass die deutsche Kategorie der »Bildung« etwas anderes bedeutet als das »Formative«, weil bei der Bildung der Mensch immer als Subjekt beteiligt ist und so auch das Expressive mit in den Prozess der Selbstbildung (!) gehört. Insofern dürfte es sich bei dem Gegensatz des Expressiven und des Formativen doch eher um einen relativen Gegensatz handeln, wobei dem Gegensätzlichen damit nicht die erklärende Kraft abgesprochen werden soll.
In diese Richtung geht in einleuchtender Weise der Beitrag von David Plüss (»Die Musik liturgischer Bildung«, 81–98) im Anschluss an Schleiermacher: Dieser habe der Liturgie »auch eine transformierende und in einem theologischen Sinn bildende Kraft« zugetraut (82).
Gottfried Wilhelm Locher und Frank Mathwig (99–119) fordern ein, dass die Reformierten deutlicher sagen, was sie positiv als ihr liturgisches Spezifikum definieren – und nicht nur das, was sie nicht sind. – Bruno Bürki (121–144) bestätigt die Hauptthese des Buches, dass der Form der gewohnten Liturgie eine »prägende oder eben ›formative‹ Funktion zukommt« (122), und weist darauf hin, dass vom geordneten gottesdienstlichen Leben her »eine ganze reformierte Zivilisation geprägt wurde« (123 f.). – Von David Holeton (Prag) wird die Formativ-These auf die anglikanische Liturgie bezogen: »Lex orandi, lex credendi in Anglican Formation« (145–162). Hier wird deutlich, dass die Kategorie des Formativen kaum bildungs- und subjektivitätstheoretisch vermittelt ist, sondern primär im Sinne der Wirkung der Liturgie auf Individuen und Kirche verstanden wird: »All prayer has a formative effect on the communities that come together in worship. […] The lex orandi does form the lex credendi and, consequently, the lex agendi. […] The Christian community assembled in prayer is engaged in ›doing theology‹.« (162)
Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf den reformierten Beiträgen, und es ist in der Tat ein sehr guter Einfall, gerade die – via negativa! – auf Signifikanten und Formen konzentrierte reformierte Liturgie im Hinblick auf ihre formierende Wirkung und Kraft hin zu bedenken. Insofern setzt der Band sowohl für geläufige Lesarten des Reformierten als auch für das Schleiermachersche Erbe ungewohnte und zum Nachdenken anregende Impulse. – In diesen Zusammenhang passt auch bestens die von Bernd Wannenwetsch schon mehrfach vertretene These von der formativen Dimension des Gottesdienstes im Hinblick auf Ethos und Ethik, die er in diesem Band an den Lesungen und an ihrer Widerständigkeit gegenüber allen Subjektivismen stark macht (61–79).
Daneben stehen in dem Band andere konfessionelle Traditionen: Alexander Deeg beschreibt aus lutherischer Sicht den Gottesdienst vor allem als gemeinsames Gebetshandeln (39–60), wobei er die »Verdrängung des Gebets und die Homiletisierung der Liturgie« beklagt (40). Ein falsches Verständnis des Pädagogischen habe zurückzustehen zugunsten des Doxologischen. – Paul Avis (Exeter) stellt die »formative significance« des »Book of Common Prayer« im Anglikanismus heraus (163–182): Dort gibt es keine Einheit stiftenden Personen (wie den Papst, Luther oder Calvin) und keine Bekenntnisschriften – was aber die Anglikaner haben, ist ein einigendes Gebet- und Liturgiebuch! (166) – Thomas Roscher und Holger Eschmann führen in die methodistische (183–207), Matthijs Ploeger (209–230) und Angela Berlis (231–245) in die altkatholische Sicht des Formativen der Liturgie ein.
Der Band umfasst damit ökumenische Aspekte der reformatorisch-altkatholischen Liturgiefamilie und rückt die neue Kategorie des »Formativen«, neben dem Darstellerischen, Künstlerischen und Performativen, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Weiterzuarbeiten ist vor allem im Hinblick auf eine sachgemäße Bestimmung von Liturgie und Bildung, so dass die abgegriffenen Stereotypen von der »Pädagogisierung« der Liturgie aus der Diskussion verschwinden. Pädagogik und Bildung sind – ebenso wie Psychologie und Soziologie – vor allem Reflexionskategorien. Einen nicht-pädagogischen Gottesdienst kann es insofern nicht geben, als jeder Mensch lernt, solange er atmet. Auf diesen Zusammenhang weist die Kategorie des »Formativen« hin, welche die Diskussion in der nächsten Zeit sicher befruchten wird. Für diesen Anstoß sei den Herausgebern und Autoren gedankt.