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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

69–71

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bachmann, Claus

Titel/Untertitel:

Die Selbstherrlichkeit Gottes. Studien zur Theologie des Nürnberger Reformators Andreas Osiander.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997. XI, 314 S. gr.8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 7. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1589-8.

Rezensent:

Andreas Gößner

Die 1994 an der evangelisch-theologischen Fakultät Erlangen als Dissertation vorgelegte und nun in überarbeiteter Fassung erschienene Studie will eine offensichtliche Lücke in der Forschung zum Protestantismus des 16. Jh.s schließen. Sie bewegt sich im Grenzbereich von systematischer und historischer Theologie und thematisiert in der Darstellung Osiandrischer Theologie und ihres Streitpotentials gewiß keine Marginalie reformatorischer Theologie. Der im Untertitel anklingende Eindruck, der Vf. würde sich auf eine Reihe von Einzelaspekten der Lehre des Nürnberger und Königsberger Theologen beschränken, verflüchtigt sich bald nach Beginn der Lektüre des Buches: Der Vf. hebt doch gerade den Aspekt des - auch in Osianders Selbstwahrnehmung seiner theologischen Arbeit bewußten und gewollten - theologischen Systems hervor, dessen einzelne Glieder sich in beharrlicher Redundanz auf eine zentrale Vorstellung hin ausrichten und für das ein (Entwicklungen weitgehend entbehrendes) Kontinuitätsmoment zwischen dem frühen Nürnberger Prediger und dem späten Königsberger Theologieprofessor in Anspruch genommen werden darf. Somit ist durch den Gegenstand der Untersuchung vorgegeben, was dem Vf. auch gelingt: Das Profil der Systemtheologie Osianders darzustellen.

Als bisher nachhaltigste Osianderdeutungen können die Arbeiten Albrecht Ritschls und Emanuel Hirschs gelten. Letzterer hat die schärfsten Gegendeutungen (Erich Roth und darauf basierend: Martin Stupperich) erfahren. B. macht die Theologie Osianders von den Etikettierungen des osiandrischen Streites (den Stupperich zum Thema gemacht hatte) frei und sucht von daher, die Stringenz der Theologie Osianders zu rekonstruieren.

In Osianders theologischen Grundgedanken verbindet sich eine spekulative Gotteslehre mit dem reformatorischen Rechtfertigungsanliegen zu einem System. Dies führt dazu, daß die "als reines Präsens gedachte, auf pure Selbsterweiterung ausgelegte Alleinwirksamkeit Gottes ... der schlechthin organisierende Gedanke in Osianders Denken" (19) ist. Ihren klarsten Ausdruck finden diese Grundlagen bereits im "Nürnberger Ratschlag" von 1524/25. Die daraus gezogenen Konsequenzen bilden die Ursache für die Auseinandersetzungen mit dem Königsberger Osiander zu Beginn der 1550er Jahre. Doch werden in diesem Prozeß der Selbstauslegung Osianders keine historischen und biographischen Entwicklungslinien deutlich, vielmehr ist Osianders Theologie durch "ein Maß an Monotonie [gekennzeichnet], wie es nur entsteht, wenn ein einzelner Gedanke zur fixen Idee wird" (21). So wird denn auch die Lehre von der präsentischen Alleinwirksamkeit Gottes vom Vf. als "homogene Größe demonstriert" (21). Im "Schmelztiegel" (23) des Gottesgedankens spielt sich folglich auch die Übernahme theologischer Traditionen ab, wobei B. sein Augenmerk wiederholt auf Osianders (sehr selektive) Lutherrezeption richtet.

In Kapitel 1 (25-99) vollzieht B. die Zuordnung von Rechtfertigungs- und Gotteslehre, die dominiert werden von dem In-eins-Fallen von immanenter und ökonomischer Trinität. Die dadurch bedingte Absorption der Rechtfertigungslehre in Osianders Gotteslehre, wie sie schon im "Nürnberger Ratschlag" zugrundegelegt ist, findet ihren Gipfel in der ganzheitlich begriffenen - d. h. Schöpfung und Heilsgeschichte vereinnahmenden - Königsberger imago-Spekulation (78-94), wie sie im Traktat "An filius Dei fuerit incarnandus ..." von 1550 formuliert ist.

Da das alles umfassende Selbstverhältnis Gottes durch Adams Fall gestört ist, steht Osiander vor der Beantwortung der Frage nach der Wirksamkeit von Gesetz und Evangelium im Rahmen des Rechtfertigungsprozesses. Diesem Thema wendet sich B. in Kapitel 2 (101-152) zu. Die Rechtfertigung des sündigen Menschen kann nur durch Gottes Wort, das Gott selbst ist, in Gestalt des Logos-Sohnes erfolgen. Die bei diesem Gerechtmachungsprozeß wieder zum Tragen kommende göttliche Alleinwirksamkeit äußert sich "in der Weise von Predigt und Sakrament und in den Dimensionen von Gesetz und Evangelium" (101). Dabei konstruiert Osiander eine Trennung unserer gegenwärtigen Rechtfertigung vom historischen Leidensgehorsam Christi zugunsten eines präsentisch-ontologischen Zuganges der Rechtfertigung und schmälert dabei (in Unterschied zu Luthers Ansatz) die den sündigen Menschen rechtfertigende Sühneleistung des irdischen Jesus. Die schwerwiegenden Folgen dieser Konzeption sind bei Osiander besonders greifbar in einer Um- und Neuwertung trinitätstheologischer Topoi und der Lehre von Amt und Person des göttlichen Mittlers.

Die weite Kreise ziehenden Konsequenzen einer derart spekulativen Gotteslehre und Christologie finden ihren schwerwiegendsten Niederschlag in der Auffassung der Rechtfertigung als eines effektiven Geschehens, d. h. der zunehmenden Einwohnung Christi, also schließlich der Vergottung des Menschen. Den Kennzeichen der Rechtfertigung widmet der Vf. folglich auch das Kapitel 3 (153-210). Hier gilt für Osianders Theologie: "Das System der präsentisch-ontologischen Alleinwirksamkeit verwandelt die soteriologischen Leitbegriffe [Sündenvergebung, Glaube/Liebe und mortificatio] - bald energisch, bald behutsam - zu bloßen Variablen des Gottesgedankens" (153).

Zur Rekonstruktion Osiandrischer Rechtfertigungslehre greift B. verschiedentlich auf die Predigtnachschriften von 1535 zurück, die der Vf. gleichsam als Kompendien Osiandrischer Theologie wertet und die zugleich eine wertvolle Quelle für die Predigttätigkeit des Nürnberger Prädikanten darstellen, bei der er sich vor die Aufgabe gestellt sah, die spekulativen Elemente seiner Theologie in die Sprache seiner Hörer zu übersetzen. Der Vorgang der Rechtfertigung stellt sich dabei für ihn als fortschreitender Prozeß der Einwohnung Gottes im Menschen dar, die mit der proportionalen Abnahme der Sünde einhergeht. Am Beginn dieses Vorganges steht die Taufe.

Mit der besonders an der Exegese von Röm 6,3 f. ausgerichteten Tauflehre Osianders - der Vf. nennt ihn in diesem Zusammenhang einen "Kuriositätenliebhaber" (211) - befaßt sich Kapitel 4 (211-272). In diesem exegetischen Ansatz muß sich Osianders System der ontisch-präsentischen Alleinwirksamkeit Gottes am Prüfstein des Sakramentsverständnisses bewähren. Ohne Blessuren geht Osianders Konzept des Taufbegräbnisses aus dieser Prüfung freilich nicht hervor. Von besonderem Interesse ist dabei nicht zuletzt das im hermeneutischen Ansatz Osianders begründete Verständnis der Taufe als "stillschweigende Predigt" (259; vgl. bes. "Gründliche Unterrichtung" von 1528), die dem einzelnen Christen am elementarsten ’zusagt’, wobei das Wörtliche der Zusage gerade in der Zeichenhandlung der Taufe steckt. Die theologische Reflexion der aus dem ontologisch verstandenen Taufbegräbnis erwachsenden Konsequenzen läßt schließlich den Graben zwischen Lehre und Praxis in der Osiandrischen Theologie als unüberwindbar erscheinen.

Die Lektüre dieser sorgfältigen Studie wird von dem Eindruck begleitet, engagiert und zugleich kritisch durch die Theologie Osianders geführt worden zu sein. Es wird einem deutlich, daß sich Osiander in zunehmendem Maße im spekulativen Kokon seiner Theologie eingewickelt hat: Gottes Gottheit als Start- und Zielpunkt hat gewissermaßen ein Spiegelbild in der solipsistischen Art und Weise des Theologietreibens des ’Gottes in Preußen’ (vgl. Flacius, Wider die Götter in Preussen, 1552) erfahren.

Die "hochbeschwerlichen Reden" (Melanchthon, Antwort auf das Buch Osiandri ..., 1552) Osianders, die auch im Überfluß des Metaphernreichtums der vorliegenden Studie (häufig aus Osianders Sprache gespeist!) nichts von ihrem Potential verlieren, werden in B.s Arbeit in einer recht abstrakten Weise einer Zusammenschau zugeführt. Die methodische Grundentscheidung des Vf.s hat aber schließlich zur Folge, daß zwar die wesentlichen Prinzipien Osiandrischer Theologie analysiert werden, aber die besondere historische Situation der in Königsberg versammelten Theologen und die Bedingungen ihrer theologischen Existenz unberücksichtigt bleiben. Unter reformationsgeschichtlicher Fragestellung wäre jedoch eine Wahrnehmung beider Bereiche, für die Osiander und sein Werk exemplarische Bedeutung haben, wünschenswert gewesen. Daß mit der seit 1997 abgeschlossenen zehnbändigen Osiander-Gesamt-Ausgabe nun auch eine neue - weitestgehend auf dieser Edition als Quellenbasis beruhende - Gesamtdarstellung zur Theologie Osianders vorliegt, die das "Abenteuer Osiander" entschlüsselt, ist ein glücklicher Umstand.