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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

779 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Achtner, Wolfgang, Kunz, Stefan, u. Thomas Walter

Titel/Untertitel:

Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen.

Verlag:

Darmstadt: Primus 1998. VII, 199 S. 8. Kart. DM 29,90. ISBN 3-89678-078-6.

Rezensent:

Reinhard Wunderlich

Der Jazz-Trompeter Miles Davis war der Ansicht, daß die Zeit nicht die Hauptsache sei, sondern das einzige. In wie einzigartiger Weise die Theologie im Thema Zeit fundamental fokussiert werden kann, ist aus dem anzuzeigenden Buch in elementarer Verständlichkeit und exemplarischer Interdisziplinarität ersichtlich.

Die Autoren sind zwei Theologen und ein Physiker. Ausgangs- und Endpunkt ihrer Überlegungen ist die Zeit-Erfahrung. Die gegenwärtige Zeit-Erfahrung sei gekennzeichnet durch die "Ambivalenz von leerlaufendem Aktionismus und erschöpfter Lethargie", die Erfahrung der Gegenwart werde "einer zukünftigen, sich beständig überstürzenden Erlebnisabfolge geopfert." Zielpunkt der Überlegungen der Autoren ist der Mensch, "der sich in der Gegenwart loslassen kann, seine Unrast stoppt und zur Ruhe findet." (3)

Methodisch streben sie eine theoriegesteuerte Wahrnehmung an, die von einem Modell vom Menschen ausgeht, das möglichst viele Aspekte seines Lebens und damit seiner Zeit-Erfahrungen abdeckt, ein offenes System also. Ihr theoretischer Ansatz, den Sie als heuristisches Prinzip verstehen, geht aus von einem tripolaren Zeitgefüge. Jeder Mensch steht 1.) in einem Selbstbezug, 2.) in einem Weltbezug und 3.) in einem religiösen Bezug. Damit ergeben sich die drei Pole von endogener Zeit, exogener Zeit und transzendenter Zeit.

Bei dem unmittelbaren inneren Erleben von Zeit (13-114: "Zeit des Menschen") wird der Mensch durch elementare biologische Rhythmen bestimmt, die allerdings von der bewußten Zeitwahrnehmung überlagert werden (13-27), so daß im Laufe der Geschichte der Menschheit unterschiedliche Synchronitäten und Asynchronitäten zwischen Naturzeit und Ich-Zeit beschrieben werden können (113), bis dahin, daß heute der Pol "transzendente Zeit" ganz verschwunden scheint. Geschichtlich geurteilt erkennen die Autoren drei Stufen des Bewußtseins: mythisch-zyklische Zeiterfahrungen im alten Ägypten (27-40), in Mesopotamien (40-56) und schließlich bei den Hebräern (56-67), bei denen sich erstmals gegenläufig "die Zeitoffenheit als Dimension und Perspektive des Glaubens" abzeichnet (67); rational-lineare Zeiterfahrungen, die spätestens mit der Erfindung der Uhr sozial verbindlich wurden, den Naturwissenschaften zugrunde liegen (115-141: "Zeit der Welt") und immer stärker auch ein Grenzbewußtsein für die Tragfähigkeit des damit verbundenen Fortschrittsdenkens freisetzen (106 f.); und schließlich mystisch-holistische Zeiterfahrungen von Plotin bis Schleiermacher, wo letztlich unentschieden bleiben muß, ob es sich um Seins- oder Selbsterfahrungen handelt (10; 113).

Mit den Kategorien mystischer, prophetischer (Ansage zukünftigen Gotteshandelns, wo sich transzendente und anthropologische Faktoren mischen; 11) und epiphaner Zeiterfahrung (Einbrechen göttlicher Zeitfülle und Möglichkeiten; 11) stoßen die Autoren in die religiösen Sphäre vor, die allerdings nur über die Wirkung der jeweiligen Transzendenz erfaßt werden kann: "Zeit Gottes" (142-169). Sie ist, was unseren westlichen Kulturkreis betrifft, orientiert am Leben eines einzigen Menschen: Jesus von Nazareth in der Tradition des hebräischen Aufbruchs und in der Vision einer "Zukunft des Zukünftigen", die das wirklich "Neue" schafft (vgl. 172). "Es ist deutlich: das tripolare Gefüge von transzendenter, endogener und exogener Zeit findet sich bei Jesus in einer dynamischen - zur Zukunft offenen (!) - Balance, die auf Befreiung und Heilung des Menschen und der ganzen Schöpfung hin ausgerichtete ist." (158)

Damit heben die Autoren in ihren systematischen Schlußüberlegungen zur "wahren Zeit" (170-183) ab auf eine - auch naturwissenschaftlich gebotene - Verschränkung der Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im biblischen Glaubensverständnis leuchte dabei eine Balance des tripolaren Zeitgefüges auf, die gegenwärtigen vermeintlichen Bewältigungsversuchen der Zeit (mythische Regression, rational-lineare Technokratie, mystische Weltflucht; 180) eine überlebensnotwendige Alternative biete: Rückkehr zu menschlichen Eigenzeiten, Synchronisation von Natur- und Geschichtszeit, langfristig auch von ökonomischer und ökologischer Zeit, vor allem aber Offenheit gegenüber der "Zeit Gottes" als "Quelle des Lebens" (183).

Das Buch bietet neben exegetisch und geistes- bzw. religionsgeschichtlich Bekanntem, das sinnreich in übergreifende Zusammenhänge gebrachte wurde, vorzügliche Übergänge in naturwissenschaftliche Detailfragen (samt ihrer historischen Entwicklung) und darüber hinaus eine klare interdisziplinäre Strukturierungshilfe bei dem wohl nie abgegoltenen Bemühen, über Zeit zu reden, bei dem bekanntlich schon Augustinus sein "will ich einem Fremden es erklären, weiß ich es nicht" eingestanden hat.