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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

547–549

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jung, Matthias

Titel/Untertitel:

Gewöhnliche Erfahrung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 234 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-152483-7.

Rezensent:

Doris Hiller

Erfahrung, Lebenswelt, Sinndeutung gehören längst zum Begriffs­inventar wissenschaftstheoretischer Debatten. Es handelt sich um eine diskursive Begrifflichkeit, die nicht von definitorischer Abgeschlossenheit lebt, sondern von den Herausforderungen des interdisziplinären Dialogs. Zu einem solchen lädt das von Matthias Jung, Professor für Moral- und Rechtsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau, vorgelegte Buch ein.
Mit der vorgeschlagenen Qualifizierung von Erfahrung als ge­wöhnliche wird der Begriffsgebrauch über seine erkenntnistheoretische Spezifizierung hinaus erweitert, indem seine umfassende und methodisch offene Bedeutung als Orientierungsgröße aufgerufen wird. Die Erweiterung besteht darin, dass neben das Kognitive gleichberechtigt das Emotionale und das Willentliche als Inventar des Erfahrungsbegriffs treten. Dieser von J. konstatierte Holismus der Erfahrung kann nicht ohne Erkenntnisverlust so­wohl im wissenschaftlichen als auch im alltagskonnotierten Verständnis von Erfahrung unterlaufen werden.
In einer breit angelegten, aber auf das Notwendige verdichtet dargestellten Debatte um das Verhältnis von Wissenschaft und Erfahrung kristallisiert sich ein Begriff des Gewöhnlichen heraus, der jenseits allen pejorativen Gebrauchs als Drehmoment eines reflexiven Zugangs zur Wirklichkeit verstanden wird. Orientierung der eigenen Argumentation bietet der amerikanische Pragmatismus in Gestalt von William James und John Dewey. Ziel des Buches ist es, gewöhnlicher Erfahrung die erkenntnisleitende Würde zukommen zu lassen, die ihr mit der »Wertschätzung des gewöhnlichen Lebens« als »bedeutendste kulturelle Innovation seit Beginn der Neuzeit« (214) gegeben ist. Erreicht wird diese kulturtheoretische und epistemische Hochschätzung des Gewöhnlichen in vier Abschnitten.
In einem ersten Kapitel wird das Verständnis des Erfahrungsbegriffs entwickelt und erläutert, ausgehend von der Tatsache, dass Erfahrung unser einziger Zugang zur Wirklichkeit ist. Die ge­wöhnliche, ins Handeln verflochtene Erfahrung ist von der me­thodischen Erfahrung der Wissenschaften zu unterscheiden. Auch wenn beide Erfahrungsweisen in der kognitiven Dimension von Erfahrung verbunden sind, ist die gewöhnliche Erfahrung darauf nicht beschränkt, sondern weitet den Horizont auf die emotionale und volitionale Dimension aus. Das Gewöhnliche reduziert den Erfahrungsbezug nicht, sondern gibt ihm seine holistische Tiefe, die wiederum dem wissenschaftlichen Zugang vorausgeht.
J. bleibt aber bei dieser nicht ungewöhnlichen Erkenntnis der Differenz von Erkenntnis und Erfahrung nicht stehen, sondern analysiert diese in einem zweiten Kapitel, das dem Wissen gewidmet ist. Leitthese ist auch hier die Vorgängigkeit der Erfahrung vor dem Wissen, d. h. Erfahrung geht nicht im Wissen auf, sondern ist mehr als das. Virulent wird der Diltheysche Begriff der Lebenswelt in seiner pragmatischen Wendung eines erfahrungsbasierten Weltzugangs. Entscheidend ist, dass im Horizont des Wissens ebenfalls eine Unterscheidung von epistemischem und gewöhnlichem Zugang zu treffen ist, hier im Gegenüber von Wissenschaft und Alltagsvernunft.
Vor allem Letztere ist in Verbindung mit gewöhnlicher Erfahrung prägend für die Ausbildung von Werten, dem Thema des dritten Kapitels. Werte sind keinem Expertenwissen vorbehalten, sondern differenzieren sich in sozialer Interaktion aus, geleitet und artikuliert in gewöhnlicher Erfahrung, die auch den Wertepluralismus befördert. Eine kognitiv motivierte Steuerung des Pluralismus führt zu einer Wertegeneralisierung mit stabilisierenden Effekten für Gesellschaften. Hier ist die zweite Grundthese J.s formuliert, wenn er davon ausgeht, dass weltanschauliche Gesamtdeutungen der Wirklichkeit, in denen Wertegeneralisierungen eine zentrale Rolle spielen, in der Struktur gewöhnlicher Erfahrung angelegt sind (154). Ihr ist das abschließende vierte Kapitel gewidmet. Um zu einem Deutungsrahmen werden zu können, der Geltungsanspruch erheben kann und dem Kontingenzen eingeordnet werden können, müssen Weltanschauungen konkret Erfahrenes generalisieren. Dies gelingt nicht methodisch geleitet, sondern nur aus dem Gewöhnlichen heraus, das in sich den Zug zum Ganzen enthält.
Die totalisierende Tendenz des Gewöhnlichen, die gewöhnliche Erfahrung als Ort beschreibt, an dem die in unterschiedlichen Er­fahrungssphären zunehmend ausdifferenzierten Deutungsperspektiven auf Wirklichkeit und ihre Handlungsorientierungen miteinander ins Gespräch gebracht werden können, wirkt hypertroph. Allerdings wird gerade mit dem Zugang über das Gewöhnliche das Spezifische wieder an seine Grundlage erinnert und die Kluft zwischen Wissenschaft und gewöhnlicher Erfahrung kann in eine produktive, erkenntnis- und handlungsleitende Spannung umgewandelt werden. J.s Buch bietet die Ansätze dazu, die in den Einzelwissenschaften weiter ausgearbeitet werden können.