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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

545–547

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gerhardt, Volker

Titel/Untertitel:

Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2014 (3. Aufl. 2015). 357 S. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-406-66934-7.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Auch wenn die Frage nach Gott ein uraltes Thema der Philosophie ist, so ist doch die philosophische Theologie in der Gegenwart marginalisiert. Umso beachtlicher ist es, wenn jetzt einer der bedeutenden deutschen Philosophen sich dieses Themas annimmt – gut 100 Jahre nach Nietzsches Verkündigung des Todes Gottes. Der Ausgangspunkt Volker Gerhardts ist die Überzeugung, dass der Mensch ohne Sinn nicht leben kann. Den Sinn »kann man in Übereinstimmung mit einer zweieinhalbtausendjährigen philosophischen Tradition das Göttliche nennen, das in der Suche nach einem personalen Gegenüber als Gott angesprochen werden kann« (25). Diesen Grundgedanken entfaltet G. in sechs Schritten.
Im ersten Kapitel (39–63) weist G. den in der Religionskritik oft unterstellten Gegensatz von Glauben und Denken/Wissen zu-gunsten deren Verschränkung zurück, da man an das glaubt, was man nicht vollständig denken/wissen kann. Zugleich kommt dem Begriff des Ganzen eine tragende Rolle zu, denn der Mensch versteht sein Ganzes nur im zugehörigen Gegenüber zum Ganzen der Welt – und dieses Ganze bezeichnet G. als das Göttliche. »Um das Selbst und Welt umspannende Ganze anzuerkennen, ist freilich die existenzielle Bereitschaft nötig, mich als das Ganze, das ich bin, mit dem in Anspruch genommenen Ganzen des Daseins in einer alles tragenden, in allem wirkenden und mir entsprechenden Einheit verbunden zu sehen« (61 f.).
Diesen Überlegungen verleiht G. im zweiten Kapitel (64–110) ein philosophisches Fundament, indem er mit kurzem Rückblick auf Heraklit und Parmenides ausführlich Platons Erörterung des Gottesproblems darlegt. Hier ist Gott »das Ganze, in dem sich das Ganze der Welt mit dem Ganzen des Selbst vereint, ohne das Ganze des Selbst mit dem der Welt zusammenfallen zu lassen« (88). Für die moderne Erfahrungswelt ist Kants Widerlegung der Gottesbeweise wichtig. G. zeigt aber auf, dass damit Gott nicht philosophisch erledigt ist, denn es geht Kant in dem bekannten Diktum aus der Kritik der reinen Vernunft darum, »das Wissen aufzuheben, um dem Glauben Platz zu machen« (96). Kant hat zwar die gegenständliche Rede von Gott destruiert, aber mit seiner Postulatenlehre Gott als moralische Größe eingeführt, »an die man bereits glaubt, wenn man davon ausgeht, dass ein unter ethischen Prinzipien geführtes Leben auch im Ganzen des Daseins nicht sinnlos ist« (98). Damit hat G. seine Ausgangsthese philosophisch abgesichert und sich die Basis für die folgenden Reflexionen über das Göttliche als den Sinn des Sinns erarbeitet.
Konsequent analysiert er im dritten Kapitel (111–147) den dieses Buch tragenden Begriff des Sinnes in seiner ganzen Weite: Er ist es, »der uns in Empfindung und Wahrnehmung, in sozialer Verständigung und psychischer Befindlichkeit sowie in Erkenntnis und Verstehen die innere Einheit mit der Welt vermittelt« (112). Der überzeugende und vernünftige Sinn ermöglicht den Menschen die Beziehung zur Welt bei ihrer gleichzeitigen Eigenständigkeit und leitet so die Orientierung im Leben an. In dieser Leitungsfunktion des Sinnes »geht die Leistung der Vernunft in die des praktizierten (Vernunft-)Glaubens über« (144). An dieser Stelle des fließenden Übergangs zum religiösen Sinn wird durch G.s Hinweis auf die Rationalität des Glaubens dieser nicht rein stimmungsmäßig nur auf Gefühle gegründet: »Der Glauben muss die ganze Person in ihrem ganzen Dasein erfassen, also für ein ganzes Leben gültig sein, für das man selbst einsteht und für das man in der Lage ist, Rechenschaft zu geben« (146) – womit die innere Bezogenheit von Vernunft und Glauben deutlich wird und das Thema des vierten Kapitels (148–208), die Relation von Glauben und Wissen, erreicht ist.
Das Wissen bestimmt G. grundsätzlich als Medium sachhaltiger Mitteilung, womit, unabhängig von kulturellen Differenzen »die Daseinsform des Menschen als wissensbasiert zu bezeichnen« (154) ist. Die Relation von Glauben und Wissen sieht G. in ihrer Wechselseitigkeit: »Im Bewusstsein der existenziellen Bedeutung einer Entscheidung ist das Wissen auf den Glauben nicht weniger an-gewiesen als der Glauben auf das Wissen« (166), denn jeder wissende Mensch glaubt an die Bedeutung des Wissens. Diesen Sachverhalt bezeichnet G. als »epistemische Überzeugung« (177), die im menschlichen Selbst gründet und als das individuelle »Leben tragende Gefühl tiefer Überzeugung« erlebt werden kann (178), das aber nicht antipodisch zum Wissen steht, sondern dieses steuert. Das religiöse Gefühl ist dabei als Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Ganzen ausgezeichnet, als »Gewissheit, im Universum seine Heimat, sein Zuhause zu haben« (188). Diese religiöse Zugehörigkeit konkretisiert G. am Erleben der Liebe, unter Bezug auf das Johannesevangelium und Platon.
In der Weiterführung dieser Überlegungen entfaltet G. im fünften Kapitel (209–266) die These seines Buches vom Göttlichen als dem Sinn des Sinns. Das Göttliche ist hier nicht gegenständlich, als Person, gedacht, sondern das Ganze, das unsere Welt umfasst und trägt. Ohne das Göttliche hat die Welt keinen Sinn. Ein solcher universeller Sinn ist aber nicht als eine einzige objektive Bedeutung vorgestellt, da er sich dem Individuum jeweils erschließt. Ein solches Göttliches ist also nicht wahrhaft transzendent, sondern gehört »als Moment der Welt« (223) zu unserer je eigenen Welt. Hier kommt dem Glauben eine unüberbietbare Bedeutung zu: »Die individuelle Vernunft eines Menschen kann gar nicht anders, als die universelle Vernunft aller in Anspruch zu nehmen, um angesichts einer unbekannten Zukunft wenigstens plausible Anhaltspunkte für die jetzt zu treffenden Entscheidungen zu finden. Diese Zuversicht, mit der wir die mangelnde Reichweite einzelner Gründe im Vertrauen auf einen vernünftigen Zusammenhang aller Dinge überschreiten, so dass wir ohne Einbuße an Tatkraft und Anteilnahme im Leben stehen, nenne ich Glauben« (236). Der Glauben gibt damit den Menschen die Kraft weiter zu gehen, »als er es mit den strengen Mitteln bloßer Vernunft vermöchte« (237). Kurz: Wer in diesem Vertrauen lebt, glaubt an das Göttliche.
Dieses transzendentale Verständnis des Göttlichen überführt G. im sechsten Kapitel (267–318) in ein mögliches personales Verständnis. »Es ist das Gefühl persönlicher Ergriffenheit, das uns er­laubt, das Göttliche nach der Art einer Person anzusprechen« (278). In dieser rationalen Theologie mit ihrer Voraussetzung der Vernunftidee eines Ganzen kommt die Fassung des Göttlichen als Imagination einer Person sowohl der Anschaulichkeit als auch dem Gefühl des Glaubens entgegen. Damit aber sind konkrete Aussagen über Gott als Person ausgeschlossen. »Das personifizierte Göttliche wird als der Stifter, Zeuge und Garant eines Sinnes erfahren, in dem ich mein Leben zu verantworten habe. Denn das Göttliche eröffnet die Perspektive auf eine Bedeutung, in der die Welt vom Menschen verstanden werden kann« (286). Dieser religiöse Glaube ist damit philosophisch vorbereitet, aber theoretisch nicht für jeden Menschen verständlich zu machen.
In seiner Skizze eines möglichen religiösen Glaubens auf der Basis des Johannesevangeliums und der Paulusbriefe zeigt G., dass das Christentum die antike Welt- und Selbsterkenntnis produktiv aufgenommen hat und mit dem Aufstieg der Wissenschaften selbst gewachsen ist. Die besondere Beziehung des Menschen zu Gott zeigt sich, »indem wir dem Ganzen gegenüber auf unserer personalen Zuständigkeit bestehen, kommt uns das Göttliche in einer sich uns öffnenden Weise entgegen. Darin nimmt es die Gestalt des uns erwidernden Gottes an, von dem es in alten Texten heißt, er habe den Menschen nach seinem ›Bild‹ geschaffen. In dieser Rede kommt die Priorität zum Ausdruck, die wir Gott selbst einräumen, wenn wir ihm die Stellung eines Anwalts des Ganzen zuerkennen« (318).
Im Schlussteil (319–340) weist G. am Beispiel von Charles Darwin noch einmal daraufhin, dass die Einheit von Wissenschaft und Leben nur in einem auf der Liebe fundierten Glauben gewahrt werden kann. Religion ist also keine Weltflucht, vielmehr gibt die exis­tenzielle Kraft des Glaubens den sich als Person begreifenden Menschen die Kraft zur Selbstbehauptung.
G. hat mit diesem Ansatz, dessen Reichhaltigkeit hier nur verkürzt dargestellt werden konnte, eine philosophische Theologie für die Gegenwart eigenständig und stringent begründet. Es ist zu hoffen, dass die vielen Anstöße, die von diesem Buch ausgehen, von theologischer und philosophischer Seite aufgenommen und weitergeführt werden.