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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

535–538

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Klopstock, Friedrich Gottlieb [Hrsg. von L. Bolognesi]

Titel/Untertitel:

Geistliche Lieder.

Verlag:

Bd. 1: Text. Berlin u. a.: De Gruyter 2010. XII, 288 S. = Friedrich Gottlieb Klopstock Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung Werke: III, 1. Lw. EUR 159,95. ISBN 978-3-11-022206-7. Bd. 2: Apparat/Kommentar. Berlin u. a.: De Gruyter 2013. VIII, 724 S. = Friedrich Gottlieb Klopstock Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abteilung Werke: III, 2. Lw. EUR 229,00. ISBN 978-3-11-030313-1.

Rezensent:

Johannes Schilling

»Klopstock«, haucht Lotte Werther tränenvoll und unter Handauflegung zu (Am 16. Junius). Aber er denkt dabei nicht an die »Geistliche(n) Lieder«, sondern erinnert sich »sogleich« an die »herrliche Ode«, die Frühlingsfeier. Aber auch die Geistlichen Lieder gab es damals schon; ein erster Teil war 1757 (mit der Vordatierung 1758) in Kopenhagen und Leipzig erschienen, ein zweiter war 1769 gefolgt. Aber an welches Lied des priesterlichen Dichters hätten sie denken sollen, die beiden Liebenden?
Die historisch-kritische Ausgabe der Werke Friedrich Gottlieb Klopstocks, nach des Autors langjährigem Lebens- und Wirkungsort und nach ihrem Entstehen auch »Hamburger Klopstock-Ausgabe«, erscheint seit 1974 in drei Abteilungen: Briefe, Werke, Addenda. Sie gehört zu den Langläufern unter den großen Editionsvorhaben, sieht aber nach nunmehr vier Jahrzehnten und 39 erschienenen Bänden ihrem Abschluss entgegen. (Eine Übersicht erhält man am besten auf der Seite der Staats- und Universitäts-bibliothek Hamburg unter »Die Hamburger Klopstock-Ausgabe«.) Die Ausgabe erscheint in der noblen Gestaltung des großen Hamburger Typographen Richard von Sichowsky (1911–1975; vgl. über ihn Richard von Sichowsky. Typograph, Hamburg 1982). Es ist erfreulich, dass man auf diese Weise auch Jahrzehnte nach seinem Tod ein Werk in Händen hat, dessen Gestalter das Höchste erstrebte und damit dem Dichter entsprechen wollte. K.s »Geistliche Lieder« sind 2011 und 2013 in zwei Bänden herausgekommen, einem schmalen Textband und einem entsprechend der Anlage der Ausgabe umfangreicheren Apparatband.
Im gegenwärtigen Evangelischen Gesangbuch findet sich nurmehr eine einzige Strophe K.s (EG 220), freilich in einer Bearbeitung, die den originalen Text grundlegend verändert und seinen poetischen und liturgischen Ort nicht mehr erkennen lässt. Martin Rössler hat diese Strophe im Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3: Liederkunde Heft 14, 2008, 38–43 behandelt, leider noch vor Erscheinen der Kritischen Ausgabe. Klopstocks Lied »Beym Abendmale« (Textband, 83–87) ist ein Wechselgesang zwischen »Chor« und »Gemeine«. »Das Chor« beginnt nach der Melo-die »Wachet auf, ruft uns die Stimme« wie folgt: »Herr, du wollst sie vollbereiten / Zu deines Males Seligkeiten! / Sey mitten unter ihnen, Gott! / Leben, Leben zu empfahen! / Laß sie, o Sohn, sich würdig nahen, / Durch dich vergessen Sünd und Tod! / Denn sie sind sünderein! / Sind, Mittler Gottes, dein! / Sind unsterblich! / Laß, laß sie sehn, / In deinen Höhn, / Von fern der Überwinder Lohn!« Danach antwortet »Die Gemeine« auf die Melodie »Jesus meine Zuversicht« mit einem langen Lied, bevor »Das Chor« zweimal einlädt »Nehmt und eßt zum ewgen Leben« und »Die Gemeine«, jetzt ebenfalls auf die Melodie des Chors, das Drama beschließt mit der Strophe: »Die dein Kreuz, in jenen Tagen / Der Märtyrer, dir nachgetragen, / Verliessen oft des Bundes Mal, / Um vorm Blutgericht zu stehen! / Mit dir bis in den Tod zu gehen, / Voll Freud in vieler Tode Qual! / Sey, Herr, den deinen Licht / Und Kraft, damit sie nicht / Deines Males / Hochheiligs Pfand / Entweihn! Gewandt / Von dir, umkehren in die Welt!« (87.150–161) Veränderte ein- und mehrstrophige Adaptationen dieses Liedes erfolgten schon sehr bald, noch zu K.s Lebzeiten; das bei Rössler als Vorlage benannte Wirtembergische Gesangbuch von 1791 findet sich im Apparatband S. 300 unter Nr. 29.
K. hat seine Geistlichen Lieder zwischen Januar 1756 und dem Herbst 1757 geschrieben. Es handelt sich in der ersten Sammlung um 35 eigene Lieder und 29 veränderte; die zweite Sammlung 1769 umfasst 30 eigene Lieder. Mit den beiden aus dem Nachlass in der Ausgabe erstmals veröffentlichten Liedern sind das insgesamt 96 Lieder, die auf 49 verschiedene Melodien gesungen werden sollten. Sie waren für den öffentlichen Gottesdienst bestimmt, fanden aber auch für die private Andacht Verwendung.
Den Bearbeitungen K.s wird sinnvollerweise der Text einer Vorlage gegenübergestellt. Es handelt sich um zahlreiche Lieder Luthers, aber auch Paul Gerhardts, Philipp Nicolais und anderer Dichter. Die synoptische Präsentation bietet die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen Vorlage und K.s »Fassung«. Die Herausgeberin bemerkt, dass kein zeitgenössisches Gesangbuch als Vorlage für K.s Bearbeitungen identifiziert werden konnte. (Immerhin findet sich in seinem Nachlass ein »Neu-vermehrtes Hamburgisches Gesang-Buch« von 1757.) Sie hat daher entschieden, die Vorlagen nach vorliegenden Editionen zu bieten; die Lieder Luthers etwa nach der Ausgabe von Markus Jenny (Luthers Geistliche Lieder und Kirchengesänge. Köln-Wien 1985 [AWA 4]), etliche Texte hat sie den Sammlungen von Wackernagel oder Fischer/Tümpel entnommen. Was K. gegenüber seinen Vorlagen an den Texten geändert hat, lässt sich im Großen und Ganzen erkennen, mangels einer identifizierbaren Vorlage aber nicht eindeutig oder gar buchstäblich erschließen.
Von K.s Liedern erzielten einige besonders weite Verbreitung. Dies kann man aus den außerordentlich verdienstvollen Tabellen im Apparatband entnehmen, die das Vorkommen der Lieder in Gesangbüchern bis ca. 1800 dokumentieren.
Demnach sind am erfolgreichsten gewesen sein »Danklied«, inc. » Auf ewig ist der Herr mein Theil« (Textband, 11 f.), die »Vorbereitung zum Tode« (ebd., 17–19), die »Fürbitte für Sterbende«, inc. »Du wollst erhören, Gott, ihr Flehn« (ebd., 50 f.), »Die Feinde des Kreuzes Christi«, inc. »Der Spötter Strom reißt viele fort!« (ebd., 66 f.) sowie »Der Tod«, inc. »Wie wird mir dann, o dann, mir seyn« (ebd., 72–74) auf die Melodie »Wie schön leuchtet der Morgenstern« – ein Lied, das, sieht man nur von der irritierenden Wiederholung »Gute Thaten« (Z. 59 f. ) ab, sich unter der Rubrik »Sterben und ewiges Leben« des EG auch nicht schlecht ausnehmen würde. Auch das oben behandelte Lied »Beym Abendmale« (ebd., 83–87) erfuhr beachtliche Verbreitung. – Von Klopstocks Bearbeitungen waren insbesondere »Nun lasset uns den Leib begraben« nach Michael Weiße und Georg Neumark (ebd., 158–163) sowie »Wach auf, mein Herz, und singe« nach Paul Gerhardt (ebd., 192–195) erfolgreich.
Noch das Evangelische Kirchengesangbuch hatte etwa im regionalen »Liederanhang […] für die Evangelischen Kirchen Hessens »Begrabt den Leib in seine Gruft« aufgenommen (EKG. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 1961, Nr. 408), ein Lied, das seinerseits eine Bearbeitung von Michael Weisse, »Nun lasst uns den Leib begraben« darstellt und als solches auch im Stammteil des EKG (174) vorkommt, im Stammteil des EG (520) in einer »ökumenischen Fassung« von 1978, die den Ausgangstext so stark bearbeitet hat, dass die Vorlage wohl noch zu erkennen, aber im Wortlaut nicht mehr wahrzunehmen ist. – Aus Klopstocks Zweiter Sammlung erfuhr das »Morgenlied«, inc. »Wenn ich einst von jenem Schlummer« (Textband, 250) einige Verbreitung.
Für Klopstocks Lieder setzte sich insbesondere Johann Andreas Cramer (1723–1788) ein, der den Dichter des Messias seit Kopen-hagener Tagen kannte, mit ihm in lebhaftem Briefwechsel stand und in seinen Ämtern als Professor der Theologie und Kanzler der Chris­tian-Albrechts-Universität zu Kiel seinem Förderer danken konnte. Der bedeutende, produktive und höchst wirksame Mann verdiente eine eingehende Studie, als Theologe, als Kirchenmann und nicht zuletzt als Verfasser geistlicher Lieder.
Der Apparatband gliedert sich in einen Allgemeinen Teil sowie Einzelapparate zu den Liedern und einen Anhang. Zu seinen besonderen Vorzügen gehört die breite Verzeichnung und Zitation von Testimonien. Sie bieten Mitteilungen zu Entstehung, Druck­-legung und Verbreitung der Lieder sowie Zeugnisse der Rezeption. Unter diesen ist die 1804 erschienene Abhandlung des Hallenser Theologieprofessors August Hermann Niemeyer (1754–1828), August Hermann Franckes Urenkel, über »Klopstock als Liederdichter« (Nr. 127; 132–142) besonders beachtenswert. In seinem Text setzt sich Niemeyer ausführlich mit Klopstocks Vorreden auseinander und kommt im Blick auf die Lieder selbst zu dem Urteil: »Die Klopstockischen Lieder zeichnen sich vor allen frühzeitigen neuern durch Würde der darin herrschenden Vorstellungen, durch Wärme der Empfindung, durch Auswahl, durch Schönheit, durch Erhabenheit des Ausdrucks aus« (136). Insgesamt ging es ihm darum, »das Andenken an einem [!] der ersten Männer unsers Zeitalters auch von Seiten seiner Verdienste um den heiligen Gesang erhalten zu helfen« (142). – Freilich, K.s Umdichtungen waren schon unter den Zeitgenossen nicht nach jedermanns Geschmack gewesen; eine bemerkenswerte Kritik im Geist des damals jüngst verstorbenen Hamburger Hauptpastors an St. Jacobi, Erdmann Neumeister (1671–1756) findet man auf S. 40–43, Nr. 32.
Poetologisch und für die Geschichte der Frömmigkeit von größtem Interesse sind Klopstocks Vorreden. Das betrifft seine Unterscheidung von »Liedern« und »Gesängen« ebenso wie einige Regeln für die Anfertigung guter Lieder oder die Frage nach dem »Kern der Religion«. Für eine Geschichte der Religiosität gibt es in diesen Bänden manches zu entdecken. Was Klopstock und seine Zeitgenossen unter Religion verstanden, erschließt sich nicht nur aus den Geistlichen Liedern, der »Einleitung« (Textband, 3–8) und dem »Vorbericht« (ebd., 97 f.), in dem Klopstock die Grundsätze seiner »Veränderungen« darlegt, sondern, wie gesagt, auch aus den Testimonien. Auch sie lassen noch nicht das Leben erkennen, das diese Texte freigesetzt haben, aber doch einen Vorschein oder Abglanz desselben.
Leider sind, wenn auch aus verständlichen Gründen, die Zeugnisse bis in die Zeit um 1800 begrenzt. Man hätte sonst auch in diesem Band erfahren können, dass Gustav Mahler die ersten beiden Strophen des Liedes »Die Auferstehung« »Auferstehn, ja, auferstehn wirst du« (54) in seiner Zweiten Symphonie (1895) vertont hat. Und dass der Dichter Johannes Bobrowski (1917–1965), der Klopstock als seinen »Zuchtmeister« ansah, unter den zahlreichen Ausgaben der Werke seines Zuchtmeisters auch mehrere Exemplare der Geistlichen Lieder besaß, kann man bei Dalia Bukauskaite, Kommentierter Katalog der nachgelassenen Bibliothek von Johannes Bobrows­ki, Trier 2006, in Erfahrung bringen. Die Wirkung auch von Klopstocks Liedern war um 1800 nicht ganz vorbei.
Auch wenn die Zahl der Lieder begrenzt ist, wäre ein Verzeichnis der Überschriften und Liedanfänge am Ende von Band 1 nützlich (es steht am Ende von Band 2). – Gegen die Zitation der Lutherbibel 1545 nach der Ausgabe von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke (München 1972) ist grundsätzlich nichts einzuwenden; praktisch ist sie nicht, und für eine historisch-kritische Ausgabe näherliegend wäre die Benutzung der Weimarer Lutherausgabe gewesen. – Paul Gerhardts Lieder hätte die Herausgeberin besser als bei Fischer-Tümpel in der schönen Faksimile-Ausgabe der Geistlichen Andachten (1667) von Friedhelm Kemp (Bern und München 1975) zitieren sollen; inzwischen liegt mit Dorothea Wendebourgs Ausgabe Geistliche Lieder bei Reclam (Stuttgart 2012; RUB 19058) eine gut zugängliche und zuverlässige Edition vor. – Band 2, 20, Anm. 4: Paul Graffs Werk ist ursprünglich 1937/38 in Göttingen bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen; der Nachdruck der Ausgabe erschien 1994 bei Hartmut Spenner in Waltrop. – 22, Anm. 6: Barbara Stroeves Dissertation ist online zugänglich.
Der größte, ja, ein beinahe unverzeihlicher Mangel dieser Ausgabe von »Liedern« ist das Fehlen der Musiknoten zu den Melodien. Denn »Lieder« sind eben keine Gedichte, sondern zum Singen bestimmt, zu einem Singen, das Klopstock selbst für die Hauptsache am Gottesdienst hielt: »Das Singen ist wieder der wichtigste Theil der Anbetung, weil es das laute Gebet der Gemeine ist …« (Textband, 8,1f.). Die Melodieangaben finden sich entsprechend allenthalben unter den Liedüberschriften. Es ist ja schön, dass die Herausgeberin auf S. 626 und 652 f. des Apparatbandes auf die einschlägigen Werke verweist, in denen man die Melodien finden kann, aber man hätte doch zu jedem Lied im Apparatband (nicht im Textband, denn die Ausgaben, nach denen die Edition gemacht ist, haben keine Melodien) eine Edition oder einen Abdruck der Melodien nach der in den Jahren des Entstehens geläufigen Version erwartet. Gewiss, es würde oder wird sich nicht in allen Fällen ebendie Melodiefassung feststellen lassen, die Klopstock selbst kannte, aber eine geläufige zeitgenössische Version war und ist erreichbar.
Wer verstehen möchte, was die Generation vor Schleiermacher unter Religion verstand, wird aus Klopstocks Liedern manches in Erfahrung bringen können. Auch deshalb wäre es zu begrüßen, wenn der Verlag in angemessener Frist eine Studienausgabe des Textbandes zu einem Preis herausbrächte, der die Verbreitung und Lektüre dieser Lieder befördern könnte.