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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

531–533

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Benyoëtz, Elazar [Hrsg. v. H.-H. Skupy]

Titel/Untertitel:

Zeit ist Aufgabe. Worte Sahaduthas.

Verlag:

Fernwald: litblockín-Verlag 2014. 80 S. = Aus der Sammlung Skupy, 1. Kart. EUR 15,00. ISBN 978-3-923915-02-6.

Rezensent:

Claudia Welz

Dieses Büchlein, das in einer limitierten Edition von 350 Exemplaren gedruckt und Elazar Benyoëtz zu seinem 77. Geburtstag von seinem Freund Hans-Horst Skupy überreicht wurde, wird eröffnet durch eine Auswahl aus dem ersten deutschen Aphorismenband des Dichters, der 1969 unter dem Titel Sahadutha in Berlin erschien und heute vergriffen ist.
Jegar-Sahadutha ist der aramäische Ausdruck, den der Syrer Laban laut Gen 31,47 für den Steinhaufen des Zeugnisses verwendet, der seine Freundschaft mit Jakob besiegelt und (neben Gott) Zeuge zwischen ihnen ist. Die Worte Sahaduthas sind, wie George Itamar 1969 treffend in seinem Nachwort schrieb, »Bezeugung des Gedachten und Geglaubten« – stammen sie doch aus den Reisetagebüchern des seit 1939 in Jerusalem lebenden Aphoristikers und reflektieren seine Erfahrungen im deutschsprachigen Raum, wo er seit 1964 jüdische Schriftsteller aufsuchte und die Bibliographia Judaica ins Leben rief: ein Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, das nach der Schoa auch den Toten ihre Stimme zurückgeben sollte. Unter der Leitung von Renate Heuer sind seither 20 Bände erschienen. Das Archiv umfasst ca. 45.000 Namen zwischen den Jahren 1750 und 1950. Auch diese gigantische Erinnerungsarbeit legt Zeugnis ab. Die Nachricht vom Tod Renate Heuers, der Sahadutha einst gewidmet war, trug 2014 dazu bei, dass B. seine Zustimmung zur Wiederveröffentlichung ausgewählter Aphorismen gab – wie auch Sahadutha selbst zustimmte, »sich nach und nach vom Buch lossagte und als für sich sprechende Person« in fast allen Büchern von B. für diesen »ein Wort einlegte« (74).
»Zeit ist Aufgabe« (9–32) bildet den ersten Teil des Bändchens. Hier sind etwa acht bis neun Aphorismen auf einer Seite linksbündig aneinandergereiht, mit einem Punkt abgeschlossen, jedoch ohne erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang. Dies ändert sich im zweiten Teil, der unter dem Titel »Das Heute ist von Ewigkeit, doch nicht von heute« mittig aufgestellte, aus verschiedenen anderen Werken des Dichters zusammengerufene Worte Sahaduthas enthält (33–65), nur drei bis sechs pro Seite, ohne Punkt, mit kursivierten Überschriften, wobei jede Seite eine kleine Komposition für sich darstellt, die thematisch und klanglich mit den vorausgehenden und nachfolgenden Seiten abgestimmt ist. Man kann gut nachvollziehen, dass B. weder 1977 einer unveränderten Neuauflage Sahaduthas zustimmen wollte noch Sahadutha in die Aphorismensammlung aufnehmen wollte, die 2010 unter dem Titel Fraglicht. Aphorismen 1977–2007 publiziert wurde. Dies geht hervor aus seinem Nachwort mit dem Titel »Auf das Ende zu erschließt sich mir mein Ausgangspunkt« (67–74). Es ist aus Briefzitaten montiert und garniert mit vielsagenden Aphorismen wie z. B. »Erobere ich die deutsche Sprache, besiege ich das Dritte Reich« (69). Am Ende stehen biographische Notizen (75–77), die offenbaren, dass er sich auch nach seinem Rabbinerexamen zunächst vor allem der hebräischen Lyrik widmete.
Ein deutscher Schriftsteller wollte er nicht sein, aber gern Sahadutha heißen. Letzterem übergibt er denn auch explizit das Wort (35). Sahadutha begibt sich prompt ins Gespräch mit anderen Benyoëtz-Pseudonymen: »Seine Begabung, sich die dümmsten Fragen zu stellen, machte ihn zum Weisen«, schrieb Lazarus Trost (in dessen Name ›Elazar‹ nachklingt mit der Botschaft ›Gott hat geholfen‹) angeblich am 24. März 1937, B.s Geburtstag, in seinem »Nachruf auf Kosal Vanit« (hinter dem sich ebenfalls der das vanitas-Motiv evozierende, Kohelet schätzende und gern gegen sich selbst denkende Dichter verbirgt). Der imaginäre Nachruf auf sich selbst wird somit gleichzeitig zum Omen und zum Lebensrückblick. Über dieses Leben heißt es am Anfang derselben Seite: »Das Ende geht mit mir, bis ich zum Schluß gekommen bin« (41). Und sodann, ein wenig später, in seinem Sprachwitz unschlagbar: »Das könnte ich gewesen sein! Ich schau mich um. Ich war’s« (46). Auf der nächsten Seite findet sich eine eloquente Fortsetzung mit dem Titelsatz »In der Regel tanzt man nicht aus der Reihe«. Ja, in der Regel!
Bezeichnenderweise sind nicht alle Sahadutha-Aphorismen aus früheren Büchern versammelt. Nicht integriert ist u. a. »Liebe hat keine Gönner, und auch die verbotene nur Neider« (Der Mensch besteht von Fall zu Fall, 2002, 100). Umgekehrt entdeckte ich zu meiner Freude auch mir noch unbekannte Aphorismen, die das kreative ›Weiterleben‹ Sahaduthas bezeugen, z. B. die unter der Überschrift Fanaterra stehenden Aphorismen zu Judentum, Chris­tentum und Islam, welche das Problem verfeindeter Parallelgesellschaften ansprechen und nach dem islamistischen Terrorangriff auf die Charlie Hebdo-Redaktion und Juden in Paris eine erschreckende Aktualität gewonnen haben: »Der Islam mag eine Herausforderung sein; er ist keine Anfechtung. Bedrohlich ist das Gegenüber, gefährlich das Nebenan […] Möglich, daß der Islam Europa erobert, doch wird es nicht kraft des Buches geschehen« (61).
Hier kündigt sich schon eins der drei Hauptthemen an, um die B. kreist: Zeit, Sprache und Glaube. Letzterer »hat nichts, worauf er sich stützen kann. Und allein darin liegt seine Macht.« (16) Was wäre die Alternative zum unbegründbaren Gottesglauben? Dies wird durch einen Doppelsatz beantwortet, der in einer einzigartigen, bei B. sonst ganz unüblichen Kombination ein Frage- mit einem Ausrufezeichen zusammenbringt: »An Gott glauben ist schwer? Wie schwer ist es, an den täglich, stündlich versagenden Menschen zu glauben!« (21) Der Mensch versagt nicht zuletzt im Bemühen, die rechten Worte zu finden. Worte erschließen und verdecken zugleich: »Das Wort ist Fenster und Vorhang« (39). Daher der poetische Wunsch, dass »Licht wird und Wortschnuppen fallen« (38), doch löst sich die Spannung dadurch nicht: »Die Sprache überwinden und zugleich aus ihr schaffen, das ist das Paradoxon, an dem die Dichtung geprüft wird.« (20) Der subversive Versuch, mithilfe der Sprache etwas Unaussprechliches zum Ausdruck zu bringen, zeigt sich auch in der von Gegensatzpaaren geprägten Be­schreibung des Zeitlichen und der Temporalität menschlichen Daseins: »Das Unzeitgemäße hat zu jeder Zeit seine Stunde« (71) und: »Du kannst dich nicht ewig machen, aber erlebt, und so: unvergeßlich.« (16) Wider das Vergessen richtet sich, dem Vergehen der Zeit zum Trotz, der wiederholte Imperativ: »Nimm dir nicht die Zeit, / nimm dir nicht die Zeit« (52). Der tautologische Zweizeiler führt die Leser in einen performativen Selbstwiderspruch: Man will sehen, ob man recht gesehen hat, liest nach und muss sich – der Aufforderung entgegen – Zeit nehmen und sich an das zuvor Gelesene erinnern.
Kurz: Dieses Büchlein ist ein Kleinod, das nicht nur Kennern ans Herz gelegt sei, sondern allen, die bereit sind, mithilfe der minimalistischen Form des Aphorismus über große Fragen nachzudenken, und sich von ungeahnten Sinnzusammenhängen überraschen lassen wollen.