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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

524–526

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Meding, Wichmann von

Titel/Untertitel:

Luthers Lehre. Doctrina Christiana zwischen Methodus Religionis und Gloria Dei. Bd. 1: Ihre historische und literarische Gestalt.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2012. 440 S. m. 20 Abb. Geb. EUR 51,95. ISBN 978-3-631-59419-3.

Rezensent:

Gesche Linde

Der vorliegende Band ist der erste eines insgesamt zweiteiligen Werkes. Sämtliche Literaturangaben finden sich nicht in dem ersten, hier rezensierten, sondern ausschließlich in dem zweiten, 2014 erschienenen Band (überschrieben: »Ihr« – d. h. der Lehre Luthers – »Aufbau und ihr Auftrag«). Der Autor Wichmann von Meding, evangelischer Theologe, geboren 1939, war als Privatdozent an der Universität Kiel tätig. Sein Anliegen besteht darin, Luthers Lehre, die zugleich als »Lebenseinsicht« (20) ausgewiesen wird, in »ihre[r] Einheit und Gliederung« (20) bzw. »Struktur und Gestalt« (17) darzustellen, und zwar – dies wird als Neuerung eingeführt – Luthers ureigener Intention zufolge. Das Problem, auf das der Vf. zu reagieren beansprucht, besteht mithin darin, dass die bisherige Forschungsliteratur Luthers Lehre verfremdet habe, indem sie die Frage nach »Grundlage und Aufbau seiner Theologie« (17) ausgeblendet bzw. sie es nicht vermocht habe, »den Bau der Lehre« (103) tatsächlich zu finden. Die Frage, ob eine solche Dichotomie zwischen potentiell verfälschender, da interessengeleiteter Interpretation einerseits und originalgetreuer Darstellung andererseits wissenschaftstheoretisch zu halten ist (die Rezensentin hat so ihre Zweifel), wird nicht diskutiert; doch vermutlich artikuliert sich in dieser Unterscheidung ein seinerseits durch und durch lutherisches Zutrauen zur Aussagekraft des äußeren Buchstabens. In der Tat lautet die zuversichtliche These des Vf.s, dass es »keiner Intuition [bedürfe], seine [Luthers] Äußerungen richtig miteinander ins Benehmen zu setzen« (99), denn »[e]r selbst habe die ganzheitliche Sicht […] vielfach angegeben« (99 f.). Auf diese Weise wendet der Vf. die Hermeneutik Luthers als seines Forschungsobjekts (Luther) auf dieses selbst (Luther) an, wie er umgekehrt davor warnt, auf Luther Systeme mit »[p]hilosophischen Implikationen« zu beziehen, die »Luther […] nicht anerkannte« (98).
Dass die daraus resultierende Distanzlosigkeit Programm ist, zeigt sich auch daran, dass der Vf. sich nicht scheut, als den eigentlichen Akteur der Geschichte Luthers bzw. der Reformationsgeschichte hin und wieder Gott selbst aufzurufen. »Gott […] begann schon am 31.10.1517 zu reformieren.« (39) »Überraschend nutzte Gott Luthers thesenhafte Bitte, Illegitimes zu überdenken, als Beginn seiner Reformation.« (40) Vielleicht erklärt sich aus diesem souveränen Wissen die beinahe durchgängige Polemik gegenüber dem römischen Katholizismus wie gegenüber einem an die gegenwärtige Eventkultur angepassten Protestantismus und gegenüber »Multireligiosität«, wobei dieser Begriff einen »Wechselbegriff für Polytheismus« (17) bilde. Der Vf. bezieht zweifelsohne Stellung; doch in der Rolle als (vermeintlicher) Provokateur, der gegen »irenische Gleichgültigkeit« kämpft (69), gefällt er sich auch: »Dessen [des Polytheismus] Vertreter werden nun kaum weiterlesen.« (17) »Am Ende [des Buches] wird sich alles in einem einzigen unzeitgemäßen […] Wort bündeln und sehr direkt sein.« (20)
Die grundlegende Voraussetzung des Vf.s (die indessen, was methodisch nicht ganz unproblematisch ist, zugleich auch Ergebnis sein wird) lautet, dass Luthers Theologie von hoher »gedankliche[r] Stringenz« (97), innerer »Kohärenz« (100) und Einheitlichkeit (vgl. 434) sei. Dementsprechend hält er es auch nicht für betont erforderlich, zwischen allzu eng gefassten Werkphasen zu unterscheiden; und selbst die gängige Frage nach der Datierung der sogenannten reformatorischen Wende behandelt er nicht so, dass dabei ein positives systematisches Kriterium sichtbar würde (be­stritten wird nur, dass der »Rechtfertigungslehre« ein »systema-tischer Anfangsstatus« zukomme, 39): Es habe sich um einen allmählichen Prozess gehandelt. »Luthers Umkehr zum Glauben begann, als er im Kloster Psalmen sang, ohne sie verstehen zu müssen, ihrer Wucht aber nicht ausweichen konnte.« (22) »Gewissenhafte Arbeit führte nach den Bußthesen zu Gottes reformatorischer Theologie.« (39) Luther sei zunehmend gereift, ab dem Stichdatum 1525 trete der Terminus der iustitia dei passiva auf (vgl. 59); und so sei eine Phase des Irrens (1483–1505) von einer Phase des Klärens (1505–1525) und einer Phase des Lehrens (1525–1546) abgelöst worden (vgl. 60). Diesem Ansatz entspricht, dass der Vf. sich für »Einzeldarstellungen« (20) weniger interessiert (obwohl solche ja durchaus zur Revision von Gesamtdarstellungen führen können).
Die Kontinuitätsthese mag erklären, weshalb das erste Kapitel des Bandes (von insgesamt zweien), überschrieben »Luthers Lehre, historisch gesehen«, nur zwei Unterkapitel umfasst: »Skizze der theologischen Existenz Luthers«, ein biographischer Abriss in theologischer Absicht, und »Sechs Konzepte der Theologie Luthers«, ein chronologischer Überblick über die Luther-Gesamtdarstellungen seit dem 19. Jh., der mit Ringlebens »Gott im Wort« (2010) und Ebelings »Wie ist Luthers Theologie als ein Ganzes darstellbar?« (Luther-Jahrbuch 77/2010) endet (nicht erwähnt werden Korschs Luther-Einführung, zuerst 1997, und Leppins »Martin Luther«, ebenfalls 2010). Das Ziel der Argumentation besteht darin zu zeigen, dass diese Gesamtdarstellungen sich zu sechs »Rezensionstypen« (417) zusammenfassen lassen, von denen im Ergebnis fünf als unsachgemäß ausscheiden werden (nämlich diejenigen, die bei »Buße, Ethik, Gotteslehre, Heilsgeschichte«, 146, vgl. 101, sowie der Schrift ansetzen) und nur ein einziger haltbar sei: der, welcher von Christus als dem lebendigen Wort Gottes seinen Ausgangspunkt nehme. Luthers Theologie sei in allen Bereichen christozentrisch und darin »theonom« (434), sie »verortet alle Kunst der Vernunft im Hören auf Christus das Wort« (434). Die Methode, die der Vf. wählt, um zu diesem Resultat zu gelangen, besteht darin, die von Luther gewählten Literatur- bzw. Redegattungen auf ein einheitliches »organisierende[s] Zentrum« (103) hin zu prüfen. Dem dient das zweite Kapitel des Bandes, das Luther nacheinander als ›Beter‹, ›Bibelübersetzer‹, ›Dogmatiker‹, ›Eristiker‹, ›Historiker‹, ›Katechet‹, ›Liturgiker‹, ›politischen Vf.‹, ›Prediger‹, ›Priester‹, ›Professor‹, ›Seelsorger‹ und ›Theologen‹ vorstellt (unter dem letzten Stichwort wird Luthers Verhältnis zu den Juden erörtert, für das der Vf. Problematisierungen aus heutiger Sicht als unhistorisch ablehnt). Besonderes Gewicht kommt dabei den Vorlesungen zu (vgl. 366), dann auch den Predigten, den dogmatischen Schriften und den Bibelübersetzungen (vgl. 416).
Mühsam fand die Rezensentin die stilistischen Eigenarten, die ihr die Lektüre erschwerten. Dazu gehörten Andeutungen, die im Vagen verblieben, wie die folgende: »Seine [sc. Luthers] Gott zuhörende Theologie stört jede natürliche Religiosität, auch die derzeit beliebte« (20) – aber welche wäre das? Dazu gehörten summarische Beurteilungen ohne jede nähere Präzisierung: »Der Reformator war ein spätmittelalterlicher Mensch. […] Volkstümliches […] prägte ihn wie humanistische, mystische, apokalyptische Traditionen. Mit allen rang er.« (22) Dazu gehörten aphorismenartige Weisheiten: »Man muß die hören, die hören lernten, auch Luther.« (7) »Luther war kein Aufrührer, rührte aber viel auf.« (21) Dazu gehörten assoziative Sprünge: »Sein [sc. Luthers] Nein zur aris­totelischen Substanzontologie, sein verbales Denken in Relation hätte, festgehalten und fortentwickelt, nicht derart hilflos gemacht wie das Ausschalten des Substanzbegriffs durch die Quantenphysik.« (16) Und dazu gehörten auch pauschal-undeutliche Verurteilungen wie etwa die folgende, gegen Oswald Bayer gerichtete: »Aus Unwahrheit befreien noch so sympathische Versuche nicht, einen stets präsenten Professor zu präsentieren. Einer mit dem Untertitel ›Eine Vergegenwärtigung‹ erschien 2003. Er erwies ›Luthers Aktualität‹ aus seiner Apokalyptik. Das überzeugt weniger als Rothens Notiz von 1990: ›Nicht zurück, sondern vorwärts zu Luther gelte es sich zu suchen […]‹.« (16; vgl. 89 ff.) Letztlich gilt für den Vf. das, was er seinerseits Harnack vorwirft: Man müsse bei der Lektüre einen »altväterlichen, ja pathetischen Stil« »ertragen« (67). Zugleich sind die Sätze durchweg mit Zitaten gespickt, die eine breite Kenntnis der Forschungsliteratur belegen. Das alles wirft die Frage nach dem anvisierten Publikum auf. Der Vf. beansprucht, mit dem »vorliegende[n] wissenschaftliche[n] Text […] auch kritische Christen an[zu]sprechen« (19). Aber für Leser, die mit Luther nicht schon bestens vertraut sind, ist das Buch offenkundig nicht geeignet; für ein reines Fachpublikum wiederum bemüht es sich nicht ausreichend um die Details, in denen ja bekanntlich der Teufel steckt. Insgesamt liest es sich über weite Strecken wie ein Selbstgespräch. Hier hätte man dem Vf. gerne empfohlen, was Astrid Lindgren künftigen Kinderbuchautoren ans Herz legte: Es sei mangelnder Respekt, über die Köpfe der tatsächlichen Leser hinweg und auf deren Kosten mit einem nur gedachten Leser Einverständnis herzustellen.