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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

520–522

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Avis, Paul

Titel/Untertitel:

In Search of Authority. Anglican Theological Method from the Reformation to the Enlightenment.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2014. 416 S. Kart. US$ 34,95. ISBN 978-0-567-02648-4.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Paul Avis, Kanoniker an der Kathedrale von Exeter, Honorarprofessor an der dortigen Universität sowie Seelsorger von Königin Elisabeth II., ist Kirchenhistoriker und ein ausgewiesener Kenner des Anglikanismus und der Kirche von England. In den vergangenen Jahrzehnten hat er das Problem der Autorität in der Kirche – im weitgespannten Sinn von Macht, Vollmacht, Kompetenz und Zuständigkeit – in einer Reihe wichtiger Werke behandelt (Author-ity, Leadership and Conflict in the Church, Mowbray 1992; Beyond the Reformation? Authority, Primacy and Unity in the Conciliar Tradi-tion, T & T Clarke 2006; Becoming a Bishop: Theological Handbook of Episcopal Ministry, Bloomsbury T & T Clark, im Druck). In Fortsetzung seiner Arbeiten Anglicanism and the Christian Church: Theological Resources in Historical Perspective, T & T Clark 22002, und The Identity of Anglicanism: Essentials of Anglican Ecclesiology, T & T Clarke 2008, legt er jetzt den ersten Band einer Trilogie vor, die unter dem Gesamttitel In Search of Authority den Quellen der Autorität in der anglikanischen Theologie nachgeht. A. zufolge muss eine theologische Behandlung des Autoritätsthemas drei Problemfelder untersuchen: die Quellen der Autorität, die Strukturen der Autorität und das Kräftespiel der Autorität im Leben der Kirche (XI). Allein die erste Frage ist Thema seiner Trilogie. Deren erster Band behandelt die Zeit von der Reformation bis zur Aufklärung, die beiden folgenden Bände sollen die Entwicklungen im 19. und dann im 20. und 21. Jh. zum Thema haben.
Die Darstellung folgt einem einfachen historischen Narrativ. In den beiden ersten Kapiteln behandelt A. die »Authority in the theology of the Reformation«, wobei er sich zunächst auf »Polemics and the Bible« (1–61) und dann auf »History and tradition« konzentriert (63–91). Das dritte Kapitel ist Richard Hooker gewidmet (93–129). Die nächsten drei Kapitel behandeln die klassische anglikanische Theologie, zunächst »Method, Scripture and tradition« (131–168), dann »The authority of reason and the validity of tradition« (169–207) und schließlich »Doubt, risk and probability« (209–235). Das siebte Kapitel befasst sich mit »Aspects of the Anglican En­lightenment« (237–268), das achte mit den »Founders of the Enlightenment attitude«, nämlich John Locke, Isaac Newton und den Deisten (269–287), und das neunte mit den »Exponents of the Anglican En­light­enment« William Law, John Wesley, Joseph Butler und Edmund Burke (289–344). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (345–383) sowie ein Namenregister schließen den Band ab.
Insgesamt bietet der Band mit seiner Konzentration auf theologische, philosophische und literarische Zeugnisse zur Autoritätsfrage einen guten Überblick über die Entwicklungen der anglikanischen Theologie bis zum Ende des 18. Jh.s. Deutlich wird, dass sich die Frage nach den Quellen der Autorität und die Antworten auf diese Fragen in Auseinandersetzung mit dem Denken der jeweiligen Zeit immer wieder verändert haben, so dass der Anglikanismus als ein sich in steter Veränderung befindliches Phänomen in den Blick kommt. Neben der Reformationsepoche ist dabei vor allem die Aufklärungszeit prägend. A. setzt deutliche Akzente. Für ihn sind Ri­chard Hooker und Joseph Butler die beiden Zentralfiguren der ang-likanischen Theologie dieser beiden Epochen. Ihrem Denken wird bleibende Bedeutung auch für die Folgezeit zugeschrieben.
Die theologiegeschichtliche Darstellung der erörterten Theologen und Entwicklungen ist informativ und gründlich und zeichnet meist ein verlässliches Bild der behandelten Positionen. Aus der Perspektive reformatorischer Theologie ist bemerkenswert, dass A. durchgehend versucht, der Theologie Luthers gerecht zu werden, indem er das Bild seiner Theologie von den gängigen Rezeptionsschablonen in der anglikanischen Tradition zu befreien sucht. Luther ist für A. nicht so sehr ein Neuerer als vielmehr ein Exponent der mittelalterlich-mystischen Theologie. Im Gefolge der finnischen Lutherdeutung rückt A. manches zurecht, was anderswo unkritisch tradiert wird. Durchgehend stellt A. nicht nur dar, sondern bewertet die analysierten Positionen auch theologisch. Nur gelegentlich gibt es vermeidbare Fehler (Richard Swinburne ist nicht zur römisch-katholischen Kirche, sondern zur orthodoxen Kirche übergetreten: 325). Aber es zeigen sich theologisch auch immer wieder blinde Flecken. Um es an einem Punkt zu verdeutlichen: A. kann dem sola scriptura nicht viel abgewinnen, weil er es ausschließlich als Exklusivitätsformel für die Quelle des theologischen Wissens versteht. Zwar sieht er richtig, dass für Luther »the Word was not primarily a text, but a dynamic reality, spoken more than written« (26), er erwähnt die Bedeutung des Geistes für Luthers Schriftauslegung (29) und er betont auch zu Recht, dass die Gleichsetzung von Schrifttext und Wort Gottes nicht auf Luther, sondern auf eine spätere Entwicklung im Protestantismus zurückgeht. Aber Luthers Prinzip sui ipsius interpres (29) versteht er im Kern als Methodenpostulat, dunkle von hellen Textstellen her zu deuten – eine Regel, die man der Sache nach schon bei Aristoteles finden kann. Hier zeigt sich ein Grundmangel des Buches, das nur nach der Quelle bzw. den Quellen theologischen Denkens fragt, aber nicht nach der Norm des theologischen Denkens. Dass es bei der scriptura um Quelle und Norm geht und dass die Funktion als Norm noch ganz andere Fragen aufwirft als die Rolle der Schrift als Quelle, wird nicht bedacht. Damit hängt zusammen, dass A. Schrift, Bibel und Wort Gottes immer wieder als Wechselbegriffe gebraucht und nicht klar zwischen scriptura, der Schrift im theologischen Gebrauch, der Bibel als gedrucktem Buch und der Wirksamkeit des Wortes Gottes unterscheidet. Es wundert kaum, dass ein Prinzip sola scriptura, das als Das Buch der Bibel allein! missverstandene wird, theologisch wenig einleuchtend ist.
An diesem Punkt hätte es der Untersuchung gutgetan, sich auf eine gründlichere Erörterung der hermeneutischen und theologischen Fragen einzulassen, die mit dem Schriftprinzip aufgeworfen werden. Bei aller Bemühung um differenzierte Darstellung folgt A. vertrauten Fehlinterpretationen, die es sowohl außerhalb wie innerhalb der protestantischen Traditionen gibt. Weil die Grundbegriffe der Untersuchung (Autorität, Quelle, Schrift, Vernunft, Erfahrung etc.) nicht systematisch geklärt, sondern im Sinn der jeweils erörterten Positionen verwendet werden, bleiben die begrifflichen und sachlichen Vieldeutigkeiten und Unklarheiten bestehen und werden in A.’ Darstellung der historischen Debatten und Positionen nur reproduziert, aber nicht einer Klärung zugeführt. Ohne theologische Klärungen kann aber auch eine noch so gründliche theologiegeschichtliche Darstellung theologisch nicht klar sein. Das Buch bietet viel Material. Doch die theologische Debatte ist noch zu führen.