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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

512–515

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Rathke, Heinrich

Titel/Untertitel:

»Wohin sollen wir gehen?«. Der Weg der evangelischen Kirche in Mecklenburg im 20. Jahrhundert. Erinnerungen eines Pastors und Bischofs und die Kämpfe mit dem Staat.

Verlag:

Kiel: Lutherische Verlagsgesellschaft 2014. 199 S. m. Abb. Geb. EUR 17,95. ISBN 978-3-87503-173-7.

Rezensent:

Gert Haendler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

[Rathke, Heinrich:] »Kirche für andere – Kirche mit anderen«. Festschrift für Dr. Heinrich Rathke zum 85. Geburtstag. Hrsg. v. G. Altenburg u. K.-M. Siegert unter Mitarbeit v. Ch. Meyer u. J. P. Wurm. Wismar: Redarius-Verlag 2014. 258 S. m. Abb. = Mecklenburgia sacra, Sonderbd. 1. Lw. EUR 18,90. ISBN 978-3-941917-07-1.


Zur Goldenen Hochzeit 2005 entstand bei Familie Rathke der Gedanke, für die Kinder eine Familien-Chronik zu schreiben. Daraus wurde ein spannender Beitrag zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Der 1928 geborene Heinrich Rathke war Pfarrerssohn in Mecklenburg und spürte die Spannungen um Kirche und Pfarrhaus seit 1933. Bei Kriegsausbruch wurde sein Vater eingezogen und verwundet, Fronturlaube waren selten. 1943 holte man den Schüler Heinrich Rathke als Flakhelfer. 1946 kehrte der Vater heim in sein Pfarramt, dem 17-jährigen Sohn war die Heimkehr verschlossen, denn in der sowjetischen Zone wurden junge Männer oft als potentielle »Werwölfe« verhaftet, verurteilt und nach Sibirien gebracht. R. bestand in Lübeck das Abitur und begann Theologie zu studieren, erst in Kiel, später in Erlangen, wo Gustav Stählin eine Arbeit über Paulus bei Ignatius von Antiochien so gut fand, dass er einen Ausbau zu einer Doktorarbeit empfahl und ihn als Assistenten nach Mainz mitnehmen wollte. Die Verlobung mit einer fränkischen Pastorentochter und die Übernahme in die bayerische Landeskirche ließen eine helle Laufbahn erwarten.
Aber im Sommer 1953 rief ihn der mecklenburgische Bischof Niklot Beste zum Dienst in der alten Heimat. R. folgte mit seiner Verlobten, in deren Freundeskreis freilich kaum Verständnis für diesen »Weg nach Sibirien« bestand. 1954/55 fing R. an als Vikar in Althof bei Bad Doberan, 1955 wurde Hochzeit noch in Bayern gefeiert, gleich danach übernahm R. die Pfarrstelle Warnkenhagen und zog in ein uraltes Pfarrhaus, das zunächst ohne Wasseranschluss war. Hier wurden vier Kinder geboren. Das Gemeindeleben wuchs, aber nachts offenbarte sich ein Gemeindeglied, das zur Bespitzelung des Pastors eingesetzt worden war. Ehepaar R. ging nicht zur Wahl und geriet unter Druck, auch Kirchenälteste rieten zum Nachgeben. Er erlebte die Kollektivierung der Landwirtschaft, man bat ihn zur Mitarbeit in der Dorfmission, das Problem der Jugendweihe begann. 1959 wurde er in die Landessynode gewählt. Aber auch die Promotion kam in Rostock noch zum Abschluss mit Konrad Weiß als »Doktor-Stiefvater«, die Doktorarbeit über Ignatius von Antiochien wurde in erweiterter Form 1979 im Akademie-Verlag Ostberlin gedruckt.
1962 wurde R. Pastor für die Rostocker Südstadt – ein sozialistisches Neubaugebiet, das selbstverständlich ohne Kirche geplant war. R. ließ aus Schwerin einen Zirkuswagen heranschaffen, der am Rand eines Gartengebiets stand. Trotz umstrittener Legalität begannen Gottesdienste mit steigender Besucherzahl. Die Zirkuswagengemeinde wurde in der DDR bekannt. 1970 wurde R. Pastor für Volksmission in Güstrow, 1971 begann seine Zeit als Landesbischof in Schwerin damit, dass er einem hohen Stasioffizier die Tür wies. R. trug Verantwortung für 350 Pastoren und 400 Gemeinden, zu seinen ersten Maßnahmen gehörte die Gleichstellung der Pastorinnen. Er wollte aber nicht nur eine »Pastorenkirche«, sondern es ging um rund 1000 Mitarbeiter. R. schildert den Büroalltag in Schwerin und die Zusammenarbeit mit verschiedenen Menschen und Gremien. Dabei drängten sich Grundsatzfragen zum Weg der Kirche auf. 1971 hielt R. auf der Synode des DDR-Kirchenbundes das Referat »Kirche für Andere – Zeugnis und Dienst der Gemeinde«. Beziehungen zu Bonhoeffer liegen vor Augen. Er erlebte Gemeinschaft in der Konferenz der Kirchenleitung und in der Bischofskonferenz. Es kam zu Gesprächen mit der russisch-orthodoxen Kirche und den Lutheranern in Estland und Lettland. Reisen führten nach Kasachstan und Zentralasien, wo man den deutschen Gast mit den Liedern »Ach, du lieber Augustin« und »Freut euch des Lebens« begrüßte. R. griff die Liedtexte in seiner Predigt auf, er war dankbar für ungewöhnliche Erfahrungen der »Kirche mit Anderen«.
Das Kapitel »Die öffentliche Verantwortung der Kirche« zitiert aus dem Bischofsbericht 1975: Ideologisierung und Militarisierung erschwerten das Leben, zumal die Kinder, die in der Schule zur Unwahrhaftigkeit erzogen wurden, hatte R. als siebenfacher Vater vor Augen. Aus dem Protokoll des Gesprächs vom 6. März 1978 zi­tiert er ausführlich, um ungerechten Verurteilungen entgegenzuwirken. Vor allem der Schlusssatz ist deutlich: Entscheidend für das Staat-Kirche-Verhältnis sei, »wie es der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Lage vor Ort erfährt«. Grotesk sind Details über den Besuch von Helmut Schmidt 1981 in Güstrow.
1984 blieb R. bei seiner Entscheidung, das Bischofsamt nur be-fris­tet zu führen. Er übernahm die Pfarrstelle in der Kleinstadt Crivitz, die er wieder als Baustelle erlebte. R. fragt: »Kann unser Tun in der Kirche mehr sein als die Arbeit auf einem Baugerüst?« Dabei spürte man in jenen Jahren zunehmend die allgemeine Unzufriedenheit, die auf Veränderungen drängte. Das Kapitel »Die Wende« schildert die Enttarnung der Stasi in Crivitz, die besonders dramatisch verlief, weil in der Nähe das Hauptquartier der Stasi für den Norden der DDR lag. An vier Personen verdeutlicht R. die Veränderung: Der Tierarzt Bernd Seite, seit Jahren Mitglied der Landessynode, wurde Ministerpräsident in Schwerin, Innenminister wurde Pastor Gottfried Timm, Pastor Joachim Gauck in Rostock wurde in die Volkskammer gewählt und Beauftragter für die Stasi-Akten, Pastor Markus Meckel wurde Außenminister der DDR. R. leitete einen Vertrauensrat für Opfer und Mittäter der Stasi. Als bischöflicher Visitator für Gemeinden der ehemaligen Sowjetunion reiste er 1992 rund 25000 km. Die Theologische Fakultät Rostock verlieh die Ehrendoktorwürde an R., »der für viele zum Halt und zur orientierenden Gestalt innerhalb des ostdeutschen Protestantismus geworden ist«. Zeitgenossen, die die Vorgänge erlebt haben, werden sich dankbar erinnern. Jüngere Leser können hier erfahren, wie ein tapferer Mensch sich in der DDR für die Kirche eingesetzt, über sie nachgedacht, sie erlebt und mitgestaltet hat.
Am 14. Dezember 2013 fand in Schwerin ein Symposium mit 250 Gästen zum 85. Geburtstag von Heinrich Rathke statt. Der zweite hier anzuzeigende Band versammelt als Festschrift die dort ge-haltenen Referate. Drei Grußworten (von Andreas von Maltzahn, Joachim Gauck und Karl-Matthias Siegert) folgen biblisch-theolo-gische Zugänge.
Nach einer Bibelarbeit von Heinrich Stühmeyer zur Emmaus-Geschichte sprach Heino Falcke über die Bedeutung von Rathkes Vortrag 1971 vor der Bundessynode in Eisenach damals und heute. Ulrich Müller bot eine systematische Betrachtung über Staat und Kirche in Deutschland im 20. Jh. und Gerhard Altenburg eine biblisch-theologische Nachbetrachtung zum Symposium. In Teil 2 »Gelebte Geschichte – Kirche für andere in Mecklenburg« kommen Mitarbeiter von R. zu Wort. Dietlind Glüer schildert die Anfänge der Rostocker Südstadtgemeinde, Ralf Schlenker informiert über Martin Kuske, der sich gemeinsam mit R. über Bonhoeffers Formel »Kirche für andere« Gedanken gemacht hat. Arvid Schnauer erinnert an den Rostocker Kirchentag 1983 »Vertrauen wagen« mit höchst interessanten Zahlen. Uwe Schnell berichtet vom Aufbau der Krankenhausseelsorge in Rostock. Er nennt Hindernisse und Dankschreiben von Chefärzten, die der SED angehörten. Matthias Kleiminger schreibt über die Dorfmissionsbewegung, die als Experimentierfeld für Gemeindeaufbau auch für R. von Bedeutung war. Heiko Lietz bezeichnet die Arbeitsgruppe Frieden als Beispiel für den christlichen Friedensdienst und einen regionalen Vorläufer der Ökumenischen Versammlung. Lietz war oft Außenseiter, aber R. hat immer seine Hand über ihn gehalten.
Auf die neueste Entwicklung geht Karl-Matthias Siegert ein mit einem Bericht über den Fusionsprozess zur Nordkirche aus der Sicht eines Landessuperintendenten. Jens Langer stellte seine Predigt im Mai 2012 vor der Pastorenschaft Mecklenburgs zum Abschied von der mecklenburgischen Landeskirche unter die Worte »Abschied und Sendung«. Teil 3 »Das Land ist hell und weit – Grenzen öffnen« beginnt mit Erinnerungen eines Hamburger Pastors an eine Begegnung 1979 »Als die Nordkirche noch Ost-Westkirche war«. Christa und Heiner Möhring berichten über »Heinrich Rathke und die fernen Nächsten in Kasachstan«. Jutta Schnauer schildert ihren Weg zur Pastorin, der ihr zunächst versperrt war; sie zitiert aus damaligen – heute kaum fassbaren – kirchenamtlichen Bedenken (u. a. von 1929). Jörg Mothes, 1998–2003 Beauftragter für die Stasiakten in Schwerin, nennt Beispiele für den tapferen Einsatz von R. gerade auf diesem Gebiet. Teil 4 »Kirche für andere – Impulse für eine lebendige Praktische Theologie heute« bringt ein Referat von Eberhard Winkler, der 1965/66 Vikar bei R. in der Südstadtgemeinde war und von 1969 bis 1998 als Professor für Praktische Theologie in Halle lehrte. Ganz im Sinne von R. warnt er: »Was für die Kirche konstitutiv ist, darf nicht der Marktlogik von Angebot und Nachfrage überlassen werden«. Die Frage nach Effektivität hat ihr Recht, aber sie »entscheidet nicht über die Notae ecclesiae«. Winkler zeigt an vielen Details, wie R. in der praktisch-theologischen Diskussion nachwirkt.
Der jetzige Rostocker Praktische Theologe Thomas Klie war 2004 berufen worden und kennt R. wohl wenig. Klie urteilt distanziert »Kirche für andere im Leben der Anderen – Von Pathosformeln und der Macht des Faktischen«. Die von R. entwickelten Formeln haben wohl auf die Umweltarbeit und die Friedensarbeit in der DDR gewirkt und insofern die Friedliche Revolution mit vorbereitet. Aber sie gehören zu der kurzen Phase »Kirche im Sozialismus« und haben »vorerst ausgespielt«. Mit dieser Einschätzung steht Klie freilich im Widerspruch zu allen anderen Beiträgen des Bandes und zum Trend der Festschrift. Klies kritischer Beitrag wird das gute Verhältnis von R. zur Rostocker Fakultät kaum trüben. Hier sei an den Beitrag von R. erinnert »Von der öffentlichen Verantwortung des Evangeliums von Jesus Christus – Erfahrungen auf dem Weg mit der Theologischen Fakultät Rostock«, den er 2004 für den Sammelband schrieb »Die Theologische Fakultät Rostock unter zwei Diktaturen« (hrsg. von Heinrich Holze). Der aus der Jugendarbeit in Parchim stammende Wolfgang von Rechenberg erinnert sich lebhaft an Begegnungen mit R. in den 80er Jahren. Er berichtet über »Das Modell TEO – Tage ethischer Orientierung«, das in den 90er Jahren auch aus Impulsen von R. her entstand.
Der Band schließt mit Dankesworten des Jubilars und Farbbildern. Unter einem Foto von R. stehen Worte von ihm: »Ihr habt mir dabei geholfen, dass ich weiß, was ich damals eigentlich sagen wollte«. Übersichten mit Lebensdaten und Schriften des Jubilars können zur weiteren Beschäftigung anregen. Der Band bietet aber auch sonst interessante Details mit Quellenbelegen, die wertvoll sind und aus denen manches zu lernen ist.