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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

510–512

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Biermann-Rau, Sibylle

Titel/Untertitel:

An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen. Eine Anfrage.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2012 (2. Aufl. 2014). 351 S. m. 18 Abb. = Calwer Paperback. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-7668-4204-6.

Rezensent:

Johannes Wallmann

Mit diesem Buch will Sybille Biermann-Rau, Pfarrerin in Albstadt-Ebingen, mit der angeblich wenig bekannten Judenfeindschaft Luthers und ihrer Wirkungsgeschichte im Dritten Reich bekannt machen. In populärer, auf wissenschaftliche Terminologie verzichtender Sprache handelt sie von der Judenpolitik der Nationalsozialisten und von den Reaktionen in der evangelischen Kirche. Sie bietet eine aus Zitaten und Meinungen anderer kompilierte Darstellung für einen großen Leserkreis. Was sie diesem nahebringen will, kündigt das Zitat von Karl Jaspers an, das am Anfang des Buches steht: »Was Hitler getan hat, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.« Zwar könne man Luther nicht allein die Wirkungsgeschichte seiner Worte anlasten, doch hätten sich führende Nationalsozialisten auf Luther als »Patron der Judenverfolgung« berufen. Auch sei das Versagen der Kirche im Dritten Reich auf Luthers Judenfeindlichkeit zurückzuführen.
B.-R. setzt mit einer Darstellung von Luthers Judenfeindschaft ein. Unter der Überschrift »Luthers antijüdische Äußerungen« wird zunächst seine judenfreundliche Schrift »Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei« von 1523 erwähnt. Aufmerksamkeit wird dieser Schrift, in der sich Luther vom mittelalterlichen Antijudaismus angeblich nur »etwas« entfernt hat, nicht geschenkt, ihre lange positive Wirkungsgeschichte wird nicht beachtet. Von den drei antijüdischen Spätschriften wird vor allem »Von den Juden und ihren Lügen« von 1543 behandelt. Dabei macht B.-R. die längst als fragwürdig erwiesene Voraussetzung, dass diese Schrift in der evangelischen Kirche jahrhundertelang kontinuierlich gelesen wurde. Die Feststellung eines nationalsozialistischen Autors aus dem Jahr 1933, vergebens blättere man in volkstümlichen Lutherausgaben nach dieser Schrift, Luther habe als Antisemit in der evangelischen Kirche kaum eine Wirkungsgeschichte gehabt (Ähnliches häufig in »Der Stürmer«), wird als unrichtige Behauptung eines Nationalsozialisten abgetan. Auch könne man, so ein eigenes Argument von B.-R., die Wirkungsgeschichte von Luthers Judenfeindlichkeit nicht auf die seiner Schriften beschränken. Unbedingt sei von der Einführung des »Judensonntags« durch Luther zu reden, eines besonderen Gedenktages an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Durch die lutherische Reformation habe dieser Tag für Jahrhunderte die Judenfeindlichkeit der evangelischen Gemeinden geprägt. An diesem Punkt, auf den B.-R. später zurückkommt, wird erkennbar, wie beschränkt ihre Kompetenz für ein Urteil über die Wirkungsgeschichte Luthers ist. Luther hat nie einen »Judensonntag« eingerichtet. Er hat nur an der altkirchlichen Perikopenordnung festgehalten, nach der am 10. Sonntag nach Trinitatis der Text Lk 19,41 ff. (Jesu Klage über die Zerstörung Jerusalems) vorgeschrieben war. Luther hat aber in seinen Predigten über diesen Text nicht an die Juden gedacht, sondern ihn als eine Ankündigung der Strafe Gottes über den Ungehorsam gegenüber seinem Wort verstanden, die Deutschland dazu führen sollte, sich mit den Juden zu identifizieren und Buße zu tun. Jahrhundertelang ist dieser Sonntag nach den Predigten Luthers in seinen Postillen nicht als »Judensonntag«, sondern als evangelischer Bußgottesdienst begangen worden (vgl. die B.-R. unbekannte Untersuchung von Irene Mildenberger »Der Israelsonntag. Gedenktag der Zerstörung Jerusalems«, 2004). Im 18. Jh. hat man ihn ein Fest der Vaterlandsliebe genannt. Erst im 19. Jh. erhielt jener Sonntag in der kirchlichen Umgangssprache die Bedeutung »Judensonntag«, was seit der Zeit Stoeckers Kirchenblättern Anlass zu abwertenden Urteilen über die Juden bot.
B.-R.s Darstellung der nationalsozialistischen Judenpolitik orientiert sich an dem Werk von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder »Juden – Christen – Deutsche« (1992–2004). Für die ersten Jahre des Dritten Reiches konstatiert sie, die Verflochtenheit evangelischer Kirchenführer in den Stoeckerschen Antisemitismus habe dazu geführt, dass in der Bekennenden Kirche zwar der Arierparagraph in der Kirche abgelehnt, für die Juden aber nicht eingetreten wurde. Von den wenigen, die es taten, nennt sie Dietrich Bonhoeffer, Elisabeth Schmitz und einige andere. Nicht erwähnt wird der Vorsitzende des evangelischen Kirchenausschusses Wilhelm von Pechmann, der unbedingt an der Spitze genannt werden müsste. Vermutlich wird er nicht genannt, weil es sich um einen dezidierten Lutheraner handelt. Dass 1933 niemand ein Wort der Kirche für die Juden so nachdrücklich einforderte wie die lutherische Judenmission, wird nicht erwähnt. Durchzogen ist das Buch von heftiger Voreingenommenheit gegen die »tiefverwurzelte antijüdische und obrigkeitsnahe lutherische Tradition«. Der Judensonntag sei nur in den lutherischen Kirchen eingeführt worden, während doch tatsächlich, wie Irene Mildenberger gezeigt hat, auch reformierte Kirchen an der Perikopenordnung festhielten. Falsch ist die Behauptung, die christliche Taufe begehrende Juden seien lieber zur reformierten als zur lutherischen Konfession konvertiert.
Zur Wirkungsgeschichte von Luthers Schrift von 1543 kommt B.-R. mit der Reichspogromnacht 1938. Ohne zu erwähnen, dass die Blütezeit der Deutschen Christen längst vorbei war, zählt sie die Theologen auf, die die Verbrennung der Synagogen mit Luthers berüchtigten »Ratschlägen« legitimierten. Es sind radikale Deutsche Christen, die vorgestellt werden, als ob es sich um bedeutende Vertreter der evangelischen Kirche gehandelt hätte. Friedrich Peter wird als Berliner Domprediger und früherer sächsischer Bischof präsentiert (144), obwohl er nie im Berliner Dom gepredigt hat und nie sächsischer Bischof war, sondern – auf Betreiben der Bekennenden Kirche bereits abgesetzter – DC-Bischof der Kirchenprovinz Sachsen. Im Mittelpunkt steht der Thüringer Landesbischof Martin Sasse, der nach der Reichspogromnacht eine begeisterte Flugschrift herausgibt, die mit den Worten beginnt: »An Luthers Ge­burtstag brennen die Synagogen«. Sasse war Angehöriger der in Thüringen beheimaten radikalen »nationalkirchlichen Bewegung« und als solcher selbst bei den Deutschen Christen ein Außenseiter. Er wird als führende Gestalt der evangelischen Kirche präsentiert, die nicht als Vertreter einer Extremposition und Außenseiter betrachtet werden könne. »Er ist der Bischof am Fuß der Wartburg.« Sasse und der württembergische Landesbischof Theophil Wurm werden nebeneinandergestellt, als ob es sich um gleichbedeutende Gestalten der evangelischen Kirche gehandelt habe. Hier verliert B.-R.s populäre Darstellung jegliches Niveau. Von dem schwindenden Einfluss der Deutschen Christen, die in ihrer Blütezeit in elf Landeskirchen die Führung übernommen hatten, bis zu ihrem Niedergang und zu ihrer Isolierung bei Kriegsbeginn fällt kein Wort. Gerhard Jacobi stellte als Vertrauensmann der Bekennenden Kirche 1942 fest: »Die Substanz der Kirche ist heute lediglich von den Thüringer DC aufgegeben (von unerheblichen kleinen Resten der sonstigen DC abgesehen). […] Zwischen den Thüringern und der übrigen Kirche besteht Kirchenspaltung«. Dem Leser des vorliegenden Buchs müssen diese Sätze wie von einem fremden Stern gesprochen klingen.
Breit kommt das bald nach der Pogromnacht errichtete Eise-nacher Institut zur »Entjudung von Kirche und Christentum« zur Sprache. Dass es auf Wunsch des nationalsozialistischen Kirchenministers Hanns Kerrl eingerichtet wurde, erfährt man nicht. Nur nebenbei wird erwähnt, dass das Institut von dem radikalsten Flügel der Thüringer Deutschen Christen finanziert und nur von einer kleinen Minderheit des deutschen Protestantismus unterstützt wurde. Natürlich ist es bedrückend, dass evangelische Theologen zur Mitarbeit bereit waren. Doch müsste erwähnt werden, dass darunter keiner der bedeutenden Theologen Deutschlands war. Wenn B.-R. pauschal schreibt, Mitarbeiter dieses Instituts seien »namhafte Theologen aus ganz Deutschland gewesen, insgesamt an die zweihundert Bischöfe, Konsistoriale, Professoren, Doktoren, Pastoren, Religionspädagogen« (194), denkt der Leser an einen bedeutenden Teil von Kirche und Theologenschaft. Ausführlich wird unter der Überschrift »Kirchliche Reaktionen« unter den Mitarbeitern des Instituts auf Theodor Pauls eingegangen, der gar kein Kirchenmann, sondern an einer Hochschule für Lehrerbildung tätig war. B.-R.s ständige Versicherungen, dass Sasse kein Vertreter einer Extremposition, Pauls kein Außenseiter und das Eisenacher »Entjudungsinstitut« keine radikal-deutschchristliche Randerscheinung war, müssen bei den Lesern den Eindruck erwecken, die evangelische Kirche sei im Dritten Reich in die Hände der Thüringer Deutschen Christen gefallen.
In der FAZ habe ich zum Reformationsfest 2013 gewarnt, mit der Fixierung auf Luthers judenfeindliche Schrift von 1543 auf Kosten der judenfreundlichen Schrift von 1523 und deren Wirkungsgeschichte sei die evangelische Kirche drauf und dran, dem erinnerungspolitischen Programm der Nationalsozialisten zu einem späten Sieg zu verhelfen. Genau das tut B.-R. Der Titel ihrer Schrift ist, nur vom Präsens ins Präteritum gesetzt, dem die Reichspogromnacht als Erfüllung von Luthers Rat verherrlichenden Pamphlet des Nationalsozialisten Martin Sasse entnommen. Mit der Bezeichnung der Christen jüdischer Herkunft als »getaufter Juden« prolongiert sie die nationalsozialistische Begrifflichkeit bis heute. Die evangelische Kirche hat keinen Grund, diesem fragwürdigen Buch stärkere Aufmerksamkeit zu schenken.