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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

772–775

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Vaahtoranta, Martti

Titel/Untertitel:

Restauratio Imaginis Divinae. Die Vereinigung von Gott und Mensch, ihre Voraussetzungen und Implikationen bei Johann Gerhard.

Verlag:

Helsinki: Luther-Agricola-Gesellschaft 1998. 350 S. 8 = Schriften der Luther-Agricola-Gesellschaft, 41. ISBN 951-9047-46-8.

Rezensent:

Johann Anselm Steiger

Der finnische Theologe Martti Vaahtoranta legt eine überaus profund gearbeitete und gelehrte systematisch-theologische Studie vor, mit der er in Helsinki promoviert worden ist. Die Arbeit bringt nicht nur der Gerhard(G.)-Forschung im engeren Sinne eine wesentliche Bereicherung, sondern verdient Beachtung bei all denen, die sich mit der lutherischen Orthodoxie befassen. Und deren Zahl wächst seit den letzten Jahren stetig.

Die vorliegende Untersuchung vereint systematisch-theologische und theologiehistorische Fragehorizonte. Sie macht es sich zur Aufgabe, anhand des Werkes von G. die weit verbreitete These zu überprüfen, derzufolge die lutherische Orthodoxie mit der Neurezeption der spätmittelalterlichen Mystik "zu einer Rationalisierung, Schematisierung und Objektivierung" (40) der Theologie Luthers geführt habe, ins Mittelalter zurückgefallen und durch die vermeintliche mystische Überbietung der iustificatio in der unio die Rechtfertigungslehre in den Schatten gestellt habe. An die neuere finnische Luther-Forschung (Mannermaa, Peura u. a.) sich anschließend (vgl. 38), die von der - hier nicht erneut zu diskutierenden These - ausgeht, daß bei Luther die Rechtfertigung des Sünders auch eine reale Vereinigung Gottes mit dem Menschen impliziert, wirft der Vf. die Frage auf, ob in diesem Blickwinkel die unio-Thematik bei G. tatsächlich als eine Distanzierung von Lutherschen Grundlagen angesehen werden darf.

Eine der hervorstechenden Stärken in der methodologischen Anlage dieser Studie ist in dem Umstand zu sehen, daß sie auf einem breiten Quellenfundament aufruht und - anders als die meisten bisherigen Arbeiten zu G. - nicht nur die im engeren Sinne dogmatischen Werke G.s (allen voran die ,Loci’), sondern auch Predigten, Erbauungsschriften, Disputationen und Bibelkommentare heranzieht (vgl. 22 f. und Quellenverz.), so daß erfreulicherweise immer auch G.s praktische Umsetzung seiner Theologie in den Blick gerät. Ganz bewußt verzichtet der Vf. darauf, G.s unio-Lehre im theologiehistorischen Kontext zu verorten, sondern entscheidet sich dafür, die Thematik "rein systemimmanent" (26, vgl. 46) zu erörtern.

Ist diese Beschränkung verständlich und, um eine Schneise durch die G.-Quellenflut schlagen zu können, auch gewissermaßen notwendig, so hätte dennoch ein Vergleich der Position G.s mit ausgewählten Äußerungen etwa Hutters, Balduins, Nicolais oder auch Arndts hier und da zu einer Schärfung der Analyse beitragen können. Gleichwohl wiegt dieses Manko nicht derart schwer, da sich der Vf. an bereits vorliegende Studien zur Entwicklung der lutherischen unio-Lehre (v. a. Th. Mahlmann) anlehnen kann und es ihm die gewählte Vorgehensweise zudem erlaubt, die unio-Thematik breit, d. h. unter Berücksichtigung ihrer anthropologischen, christologischen, sakramentstheologischen, hermeneutischen und ekklesiologischen Zusammenhänge zu entfalten.

Die Einleitung verortet die der Untersuchung zugrundeliegende Leitfrage kenntnisreich und umsichtig im Kontext der Forschungsgeschichte. Das 1997 erschienene G.-Buch des Rez., das in vielerlei Hinsicht zu ähnlichen Ergebnissen kommt, konnte der Vf. nicht mehr berücksichtigen. Auf die Einleitung folgen vier größere Kapitel. Zunächst werden die gedanklichen Voraussetzungen der unio cum Christo-Thematik bei G. geklärt - zuerst in anthropologischer Hinsicht (Kap. 2) durch die Abhandlung der Rede von der imago Dei, des totalen Verlusts der eigentlichen imago durch den Sündenfall und des partiellen Fortbestands derselben in der analogen imago, sodann in christologischer Hinsicht (Kap. 3) durch den Aufweis der unio personalis der menschlichen und göttlichen Natur in Christus als sachlichem Rahmen der unio des Glaubenden mit dem Gottessohn. In Kap. 4 zeigt der Vf. auf, inwiefern die leibliche Präsenz Christi im Wort der Verkündigung und in den Sakramenten bei G. in Analogie zur personalen Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in Christus gedacht ist (vgl. 128. 138 f. u. ö.). Zwar ist die unio sacramentalis von der unio personalis insofern unterschieden, als sie nicht unauflösbar oder gar ewig ist (143 f.). Gleichwohl aber bringt sich hier wie dort G.s Grundgedanke zum Ausdruck, daß Gottes Heilstat darin besteht, daß er sich mit Menschlichem verbindet (174), worin das Modell auch der unio credentium cum Christo als unio spiritualis zu erblicken ist (174 f. u. ö.).

Im abschließenden Kapitel 5 versteht es der Vf., das im Vorangegangenen Ausgeführte zu bündeln und auf die eigentliche unio-Thematik hin zuzuspitzen. Treffend arbeitet er heraus, daß der unio-Gedanke bei G. bleibend, ja grundlegend ist - auch in der Zeit, in der G.s Verhältnis zu Arndt ein distanzierteres wurde (243 f., vgl. 21-23). Eine wichtige Erkenntnis gerade angesichts früher stereotyp wiederholter Thesen ist darin zu sehen, daß die unio mystica bei G. keine die iustificatio überbietende oder in den Schatten stellende zeitliche Folgeerscheinung ist, mithin "das Dynamische des reformatorischen Glaubens" (257) nicht verlustig gegangen ist, da - im Anschluß an J. A. Steiger (254) - die geistliche Vereinigung des Menschen mit Christus von G. als eine solche gefaßt wird, die im fröhlichen Wechsel und Streit gründet (252). Der Vf. arbeitet heraus, daß iustificatio, regeneratio und unio mystica bei G. insofern gleichursprünglich sind, als sich in der imputatio der fremden Gerechtigkeit all das schon vollgültig ereignet, was gleichwohl noch der eschatologischen Vollendung harrt und von dem nicht anders als nacheinander gesprochen werden kann. Dies wird in einer erstaunlich kenntnisreichen Weise unter Berücksichtigung einer Vielzahl interessanter Einzelaspekte abgehandelt. Der Diskussion bedürftig scheint mir jedoch zu sein, ob es wirklich möglich ist, sich auf die Beschreibung von "G.s unio-Verständnis ... in bezug auf die zeitliche Endlichkeit" zu konzentrieren, ohne die "Vereinigung der Auferstandenen mit Gott in der Ewigkeit" (22) zu berühren, da beides bei G. nicht getrennt werden kann, vielmehr ersteres Modellcharakter für letzteres hat.

Die Aufrichtung der unio cum Christo - und hiermit schlägt der Vf. einen Bogen zurück zum Anfang seiner Studie - steht bei G. in einem engen gedanklichen Zusammenhang mit der restauratio der mit dem Sündenfall verlorenen eigentlichen Gottebenbildlichkeit. Die unio bringt die Verebenbildlichung des Menschen mit Christus als der imago essentialis (Hebr 1,3) mit sich, was wiederum heißt, daß die unio von G. als eine relationale und die persönliche Identität der vereinigten Pole nicht negierende (258), also nicht im Sinne einer Verschmelzungsmystik, gedacht wird (289 f.), weswegen G. auch trennscharf zwischen der mystischen Vereinigung als einer unio spiritualis und derjenigen von natura divina et humana in Christo als einer unio essentialis unterscheidet, ohne die Analogien aus den Augen zu verlieren (295 u. ö.). Keine Beachtung findet leider der bei G. (nicht zuletzt auch für die Poimenik) ganz zentrale Gedanke, daß die Verebenbildlichung des Glaubenden mit dem verherrlichten Christus auch das Ähnlichwerden mit dessen Leiden in statu exinanitionis nach Phil 3,10 einschließt.

Nur am Rande sei bemerkt, daß sich von vorliegender Analyse der G.schen unio-Lehre her, die die bleibende Zweiheit in der Einheit derart stark betont, einiger (finnischer) Zündstoff für die Diskussion mit der finnischen Lutherforschung ergeben könnte. Diese hat - im deutschen Raum zu Unrecht vernachlässigte Aspekte der Theologie Luthers hervorhebend - die These vertreten, die Rechtfertigung bedinge eine Theosis des Menschen, die ihn in eine reale Vereinigung mit Gott im ontologischen Sinne führe, wobei m. E. genau dasjenige zu wenig Beachtung findet, was wesentlicher Bestandteil G.scher Lutherinterpretation ist: Daß nämlich der Glaubende in der unio mit Christus zwar vollständig mit ihm vereinigt ist, ohne daß dadurch jedoch die coram-Struktur aufgehoben würde, wie ja auch die unio personalis gerade nicht bedeutet, daß die menschliche Natur Christi in die göttliche verwandelt oder absorbiert wird.

Eine knapp gehaltene Zusammenfassung (299-307) bringt die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit auf den Punkt. Es schließen sich Verzeichnisse der Abkürzungen, der Quellen und der Sekundärliteratur sowie ein Personenregister an. Als hilfreich wird mancher das englischsprachige abstract (5 f.) empfinden.

Ein paar Kleinigkeiten: Ein Exemplar der Erstausgabe der ,Meditationes Sacrae’ (1606) G.s ist inzwischen aufgetaucht. Die textkritischen Arbeiten im Zuge der Vorbereitung der Edition dieser Quelle haben ergeben, daß der Wortlaut des Erstdruckes mit demjenigen der zweiten Auflage deckungsgleich ist. Von "Veränderungen und Modifikationen ... theologischer Art" (25, Anm. 56), die Ernst Koch einmal vermutet hat, kann nicht die Rede sein.

S. 79 ff. wird referiert, worin G. die "hypothetische Notwendigkeit der Inkarnation" sieht. Hätte hier nicht ausführlicher (vgl. 97 f.) darauf eingegangen werden müssen, wie G., der sich in diesem Zusammenhang - wie auch die angeführten Quellenzitate ausweisen - ganz deutlich auf Anselm von Canterbury stützt, "Cur Deus homo" rezipiert hat?

Richtig ist, daß G. noch keine systematisch ausgebildete Lehre vom ordo salutis kennt (220). Daß die Erbauungsliteratur jedoch - lange bevor diese Lehre Eingang in die Dogmatiken fand - der Ort war, an dem der Weg des sündigen Menschen von der Sündenerkenntnis bis zur innigen Gemeinschaft mit Gott meditativ thematisiert wurde, zeigen G.s ,Meditationes’ ganz deutlich (vgl. TRE 25, 373).

Wenn G. die Präsenz Christi im biblisch bezeugten Wort mit Hilfe des Bildes von dem in Windeln gewickelten Jesuskind illustriert (128), lehnt er sich hiermit deutlich an Luther an (vgl. WA 10/I/1,15,1-5).

Der Vf. bedient sich dankenswerterweise eines gut lesbaren, treffsicheren und urteilskräftigen Stils, der es vermag, die höchst komplexen thematischen Sachverhalte auch demjenigen begreifbar werden zu lassen, der sich in G.s Theologie erst einarbeitet. Zugleich gelingt es dem Vf., bei aller historischen und analytischen Trennschärfe eine Darstellungsweise zu wählen, die der Sache angemessen ist, ohne eine Distanziertheit aufzubauen, die den Sachanliegen der Quellen zuwiderläuft. Die Untersuchung ist nicht nur quellenmäßig höchst breit angelegt (die Hochzeits- und Leichenpredigten G.s hätten indes noch einige interessante Belege zu den Themenkreisen ,unio’ und ,imago Dei’ beisteuern können), sondern auch bestechend quellennah gearbeitet, so daß die Aussagen des Vf.s anhand der oft ausführlichen Quellenzitate nachvollzieh- und überprüfbar werden. Gleichwohl hätte hie und da vielleicht weniger an Quellenmaterial in die Fußnoten verwiesen werden sollen und manche Grundgedanken durch die noch eingehendere Interpretation ausgewählter Texte erhoben werden können. An manchen Stellen hätte m. E. auch - G.s eigenem Anspruch zufolge, biblische Theologie zu betreiben, - noch stärkeres Augenmerk auf die biblische Grundlegung der behandelten Theologumena gewandt werden können.

Dem ansprechend aufgemachten (allerdings nicht festgebundenen) Band ist ein Corrigendaverzeichnis beigegeben, das noch einige Ergänzungen verdient.