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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

499–501

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stettler, Hanna

Titel/Untertitel:

Heiligung bei Paulus. Ein Beitrag aus biblisch-theologischer Sicht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XX, 762 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2 Reihe, 368. Kart. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-152725-8.

Rezensent:

Eckart David Schmidt

Im Juli 2014 erschien Hanna Stettlers im Jahr 2008 als Habilitationsschrift in Tübingen eingereichte Arbeit Heiligung bei Paulus leicht für den Druck überarbeitet in WUNT II. Ihre Studie hat in dieser Reihe einen kleinen Rekord aufgestellt: Sie ist mit knapp 800 Seiten brutto (d. h. einschließlich der römisch gezählten Einleitungsseiten) gegenwärtig der längste jemals in WUNT II publi-zierte Band.
Die Arbeit besteht aus vier Großteilen: I. »Forschungsüberblick« (1–44), II. »Voraussetzungen des paulinischen Heiligungsverständnisses« (45–212), III. »Auslegung der Texte zur Heiligung im Corpus Paulinum« (213–619), IV. »Ergebnis: Die Heiligung des eschatologischen Gottesvolkes zur Verherrlichung des Heiligen Israels« (621–686), zuzüglich Literaturverzeichnis und Registern (687–762). Das Herzstück der Studie ist damit Teil III. Er bietet Analysen und Exegesen zu den im Wesentlichen nach chronologischen Gesichtspunkten geordneten paulinischen Briefen. Von den sieben gemeinhin als authentisch angenommenen Paulinen ist Phlm dabei nicht berücksichtigt (trotz Phlm 5.7), 2Thess, Eph und Kol sind aber eingeschlossen, da diese drei Briefe, »selbst wenn sie von einem Sekretär oder Schüler des Paulus verfasst sein sollten, doch zumindest eine unmittelbare Wirkung der paulinischen Theologie und de-ren erste Auslegung darstellen« würden (215). – St. hält 2Thess für wahrscheinlich authentisch (260), legt zudem die Authentizität von Kol nahe (ohne sich definitiv festzulegen, 543; deutlicher al-lerdings dann z. B. 634) und hält sich in Bezug auf Eph offen (568–570).
Wesentliches Charakteristikum von St.s Ansatz ist, dass sie keine Einzelwortstudie zu ἅγιος κτλ. »im Sinne des ThWNT« (218) vorlegen, sondern sich dem paulinischen Begriff von »Heiligung« widmen möchte. Diesen sieht sie im gesamten semantischen Umfeld zu ἅγιος greifbar. Auf diese Weise möchte sie verhindern, »dass man sich bei der Darstellung der Heiligungsthematik von der doch eher zufälligen Verteilung der entsprechenden Termini leiten lässt und wichtige Zusammenhänge ausblendet« (218). Ihre Exegesen folgen daher zu jedem Brief in einem Vierschritt: Nach einem kurzen Überblick zu Einleitungsfragen folgt ein erster exegetischer Abschnitt zu expliziten »Aussagen zur Heiligung unter Verwendung von Heiligkeitsterminologie«, dann ein zweiter zu impliziten »Aussagen ohne Verwendung von Heiligkeitsterminologie«, zu­letzt eine Zusammenfassung. Diese Zusammenfassungen sind zu jedem Brief gleich strukturiert und behandeln nacheinander Subjekt, Objekt, Inhalt, Mittel und Motivation der Heiligung; diejenigen zu 1Kor und Röm haben zusätzlich noch einen Unterabschnitt zu »Rechtfertigung und Heiligung« (er­staun­licherweise nicht diejenige zu Gal). Einzig zu Eph unterbricht St. die Unterscheidung von expliziten und impliziten Heiligungsaussagen, da dieser Brief »von Aussagen zur Heiligung so durchdrungen« (570) sei, dass eine getrennte Analyse von expliziten und impliziten Heiligungsaussagen hier nicht sinnvoll sei.
In den Abschnitten zu »expliziten« Heiligungsaussagen erläutert sie einzelne Wörter, Wendungen, Syntagmata in sehr unterschiedlich langen separaten Artikeln, in den Abschnitten zu »im­pliziten« Heiligungsaussagen bespricht sie in der Regel umfang-reichere Bibeltextpassagen, die ganze biblische Kapitel umfassen können, ebenfalls in einzelnen separaten Artikeln.
Die Textauswahl für die Abschnitte zu »expliziten« Heiligungsaussagen wird anhand der jeweiligen (deutero-)paulinischen Belege für ἅγιος κτλ., ἁγιός κτλ., καθαρός κτλ. o. Ä. erhoben, die Textauswahl für die Abschnitte zu »impliziten« Heiligungsaussagen hingegen folgt weiten Implikationen aus den alttestamentlichen und frühjüdischen Vorstudien und umfasst breitgefächerte (deutero-)paulinische Passagen mit Belegen z. B. von ἐκκλησία, ἐκλογή, λαός oder mit Thematisierung von Bundestheologie, Kult, Geist, Abgrenzung zu Heiden, Beschneidung, der Söhne-und-Töchter-Metapher und vieles mehr, sowie auch weite paränetische Textabschnitte im paulinischen Schriftgut: In all diesen Themen und Motiven erkennt St. »implizite« Heiligungsaussagen. Durch das umfangreiche Textmaterial sowie dessen beinahe enzyklopädische Anordnung gerät dieses Kernstück in St.s Arbeit beinahe zu einem »Auswahlkommentar« zum Corpus Paulinum. (In ihrer Dissertationsschrift Die Christologie der Pastoralbriefe, 1998, hatte sie bereits das gleiche Darstellungsverfahren angewandt.)
Das Kapitel zur Ergebnissicherung repetiert die Anordnung der Zwischenzusammenfassungen (Subjekt, Objekt, Inhalt, Mittel, Mo­tivation der Heiligung sowie Rechtfertigung und Heiligung) und führt die Ergebnisse in diesem Schema synchron zusammen (also nicht im Sinne einer diachronen »Entwicklung« des paulinischen Heiligungsverständnisses): St. erkennt im paulinischen Heiligkeitsbegriff ein doppeltes Subjekt von Heiligung, nämlich Gott (sowie Jesus Christus und den [Heiligen] Geist) und den gläubigen Menschen, der für St. bereits in einen Status der Heiligkeit erhoben ist (trotz fehlender dahingehender Belege in 1Thess und 2Thess). Da der Mensch nur durch den Heiligen Geist zu diesem Werk ermächtigt wird, handelt es sich auch bei Gottes »Verpflichtung« der Gläubigen zur Heiligung (»aktive Heiligung«) weiterhin um Gottes Heiligung. Heiligung erfolgt immer im ekklesialen Kollektiv (Objekt der Heiligung) und vollzieht sich inhaltlich in ethischer (nicht kultischer) Toraobservanz, in Liebe zu Gott und dem Nächsten sowie – negativ gewendet – in »Enthaltung von Sünde« (257.659 u. ö.). An Mitteln zur Heiligung benennt Paulus eine Vielzahl: die Taufe, die Geistbegabung, der Gehorsam auf das apostolische Wort der Paraklese, Ge­meinschaft mit Jesus, gegenseitige Fürbitte, Imitatio Christi et Pauli, aber auch Kirchenzucht und einige andere mehr; motiviert sol-len die Gläubigen hierzu schließlich durch ihren neuen Status als Christen werden, aber auch durch die Heilserwartung im Gericht, letztendlich aber zur Verherrlichung Gottes.
Das Panorama, das St. zum Thema »Heiligung« auffächert, und die Menge an Textbestand, die sie sich dazu erschlossen hat, ist bewundernswert! Mit ihrem auf extensive Breite angelegten An­satz stellt ihre Arbeit im Kontext von jüngeren Publikationen zur paulinischen Heiligkeitsthematik, die von der thematischen Fo­kussierung oder vom Textumfang her eher schmal ausgerichtet waren (Vahrenhorst [2008]: kultisch; Schmidt [2010]: 1Thess/eschatologisch; Bohlen [2011]: ekklesiologisch), einen wertvollen Ausgleich dar. Der schematisch-klare Aufbau des Werkes ermöglicht die Verwendung des Buches beinahe als Nachschlagewerk, die knapp 70 Seiten »Ergebnis« bieten eine gute, strukturierte und differenzierte Zusammenschau.
Anfragen hingegen gehen in mehrere Richtungen: Auffällig ist zunächst das Fehlen von eigentlich unübersehbaren und unverzichtbaren Titeln in der Sekundärliteratur, vor allem – aber nicht nur – solchen, die seit 2008 erschienen sind (auch wenn bei der bearbeiteten Textfülle Vollständigkeit der Berücksichtigung der relevanten Literatur praktisch nicht zu erwarten ist). Dazu gehören zuvorderst M. Bohlens einschlägige Monographie Sanctorum Communio. Die Christen als Heilige bei Paulus (2011), M. Wolters Paulus-Monographie (2011), sämtliche Arbeiten von A. Malherbe zu den Thessalonicherbriefen, einschließlich sein großer Kommentar (AncB, 2000 [!]), aber auch andere Kommentare wie J. A. Fitzmyer und D. Zeller zu 1Kor, G. Sellin und F. Thielman zu Eph u. a. Stephan Hagenows Monographie Heilige Gemeinde – Sündige Christen wird noch als unveröffentlichte Dissertation von 1996 zitiert, obwohl sie bereits 2011 in Buchform erschienen ist (TANZ).
Sodann rufen exegetische Annahmen oder Teilthemen, die St. im Vorbeigehen immer wieder nutzt bzw. streift, inhaltliche Rückfragen hervor: Gilt Gott »im Alten Testament« wirklich als »›der Heilige‹ schlechthin« (623)? Das Epithet zieht sich keineswegs gleichmäßig oder gar standardisiert durch alle alttestamentlichen Schichten und Bücher. Müsste in Weiterführung der (ohnehin nicht unumstrittenen) Unterscheidung von »kultischer« und »ethischer Tora« für einen paulinischen Heiligungsbegriff die These von einer weiteren Gültigkeit der »ethischen Tora« nicht berücksichtigen, dass (Proto-)Paulus überhaupt nur an einer einzigen Stelle (nämlich 1Kor 14,21, ein Vers, auf den sich St. in ihrer Arbeit aber an keiner Stelle bezieht,) Materialethik toratheologisch, ansonsten aber auf ganz unterschiedliche Weise begründet? Als Beispiel kann auf St.s Ausführungen zu Röm 1,18–32 verwiesen werden, wo sie mit Bezug auf Lev 18.20 (also Teil des Heiligkeitsgesetzes) argumentiert (484), bei Paulus hingegen eine naturrechtliche Argumentation vorliegt. Die Begründungsstrukturen paulinischer Ethik sind doch deutlich vielfältiger als es St.s Arbeit erkennen lässt. Entspricht es dem paulinischen Sündenbegriff, die Phrase ἀπέχεσθαι ἀπο τῆς πορνείας (1Thess 4,3) als »Enthaltung von Sünde« wiederzugeben (257)?; usw. An solchen (und diversen anderen) Stellen sind St.s Pinselstriche sehr breit und wünscht man sich doch komplexere Exegesen.
Am Wesentlichsten aber ist eine methodische Anfrage: Die Bearbeitung von Begriffsfeldern (statt Einzeltermini) zur Sichtbarmachung von größeren Zusammenhängen hat zweifellos ihre Berechtigung. Doch St.s Begründung für dieses Vorgehen, nämlich dass in einem zu exegesierenden Text Schlüsseltermini »doch eher« einer »zufälligen Verteilung« folgen (218), scheint dem Rezensenten ganz grundsätzlich eine problematische Voraussetzung für jedwede exegetische Arbeit. Und inhaltlich entsteht bei einer so breiträumigen, assoziativen Zuordnung von Texten zu einer »impliziten« Heiligungsthematik freilich schnell die Gefahr, dass der Begriff diffus, ja willkürlich wird (so bereits bei Bohlen, Sanctorum Communio, 10). Alleine durch die Voranstellung der »expliziten« Aussagen werden die Grenzen von Wortfeldern ja keineswegs gesichert (so aber St., 217 f.) und müssten besser begründet werden: Ist beispielsweise in der paulinischen Mahnung an die galatischen Gemeinden, »im Geist zu wandeln« (Gal 5,16.25 – bei St.: Gal 3,2–5; 5,1 ff. [276]), wirklich Heiligungsthematik zu erkennen, weil Paulus in anderen Briefen vom Geist auch als dem Heiligen Geist spricht und damit »heiligendes Wirken« verbindet (275 f.)? Ist Paulus’ Wunsch zur Verherrlichung Christi mit seinem Leib (Phil 1,20) wirklich über die Vermittlung von 1Kor 7,34 und dem gemeinsamen Gemeindeaufbaumotiv der Heiligungsthematik zuzuordnen (521)? Auf der anderen Seite wundert man sich, folgt man St.s eigenem Ansatz, über das Fehlen z. B. von Gal 5,1–12 (die thematisch ähnlichen Verse Röm 2,25–29 werden hingegen diskutiert) oder 1Kor 8. Der Nachweis der Dominanz der Heiligungsthematik bei Paulus insgesamt (4.621 u. ö.) wird durch St.s Vorgehen somit methodisch vorweggenommen, aber nicht inhaltlich eingeholt. Qui nimium probat, nihil probat.
Nichtsdestotrotz öffnet St.s Arbeit einen wahrlich breiten Raum zur Weiterarbeit. Seit ca. einem Jahrzehnt ist, angeregt durch etliche neue Monographien, auch in der Exegese eine »Wiederkehr des Heiligen« zu beobachten (Vahrenhorst, Kultische Sprache, 1; zit. in: Stettler, 4). Mögen St.s zahlreiche Impulse für weitere intensive Beschäftigung mit der Heiligkeitsthematik bei Paulus (und darüber hinaus) konstruktiv aufgegriffen werden!