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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

496–499

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Popkes, Enno Edzard

Titel/Untertitel:

Der Krankenheilungsauftrag Jesu. Studien zu seiner ursprünglichen Gestalt und seiner frühchristlichen Interpretation.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. 180 S. = Biblisch-Theologische Studien, 96. Kart. EUR 26,99. ISBN 978-3-7887-2280-7.

Rezensent:

Bernd Kollmann

Die Studie von Enno Edzard Popkes widmet sich einer der zentralen Jüngerweisungen Jesu und deren frühchristlicher Wir­kungsgeschichte. Es geht P. darum, die unterschiedlichen Entwicklungsstadien des im Zusammenhang mit der Aussendungsrede überlieferten Auftrags Jesu zu Heilungen und Dämonenaustreibungen in den frühen kanonischen und außerkanonischen Quellenzeugnissen herauszuarbeiten. In der Einleitung bietet P. eine tabellarische Übersicht zum komplexen Überlieferungsbefund des auch im Thomasevangelium belegten Heilungsauftrags Jesu und stellt Überlegungen zu dessen Bedeutung im Kontext des historischen Wirkens Jesu an. Dabei wird treffend betont, dass Jesu Verständnis von der Gottesherrschaft nicht nur eine seelisch-geistige Dimension menschlicher Existenz umfasste, sondern sich auch in der Überwindung körperlicher Not dokumentierte. Abgerundet wird der Einleitungsteil durch eine Beleuchtung der kulturgeschichtlichen Kontexte des Heilungsauftrags Jesu, wobei die frühjüdische Dämonologie (u. a. Henochbücher) und die antike mediterrane Medizingeschichte (insbesondere Asklepioskult) als potentielle traditionsgeschichtliche Bezugsgrößen in den Blick ge­nommen werden.
Die nachfolgende Rekonstruktion und Analyse der Q-Überlieferung als ältestem und potentiell auf Jesus zurückgehendem Traditionskern ist auf die Frage fokussiert, ob der Krankenheilungsauftrag Jesu von Anfang an auch mit einem Dämonenaustreibungsauftrag verbunden war, was P. mit plausibler Begründung bejaht. Für das Markusevangelium wird herausgestellt, dass dort das Gewicht auf der Beauftragung zur Dämonenaustreibung liegt, während der Aspekt der Krankenheilung in das zweite Glied rückt. Breiten Raum nimmt dann die Analyse der Aussendungstradition im Matthäusevangelium ein, wo P. die signifikanten Aspekte (Integration von Mk 3,16–19 und 6,6b–13 in die Q-Aussendungstradi- tion; Verbot der Missionierung Samarias; Gebet der Jünger um weitere Erntearbeiter; Erweiterung des Heilungs- und Exorzismusauftrags um Instruktionen zu Totenerweckungen und Aussätzigenheilungen) eingehend würdigt und zudem die Beziehung zum Missionsbefehl des Auferstandenen (Mt 28,16–20) reflektiert. Besonderes Augenmerk gilt darüber hinaus der redaktionellen Er­weiterung der Aussendungstradition um den Befehl zur Aufnahme von Wanderpropheten (Mt 10,40–42). P. kommt zu der plausiblen Folgerung, dass Matthäus das Heilungen mit einschließende Wirken wanderradikaler Jesusnachfolger »auch in der nachösterlichen Zeit für eine mögliche Gestaltung christlicher Existenz hält« (74), und sieht in der redaktionellen Bearbeitung von Mk 2,1–12 einen Beweis dafür, dass für Matthäus die von den Nachfolgern Jesu vollbrachten Heilungen »wesentliche Merkmale einer christlichen Missionsarbeit« (82) sind. Vor diesem Hintergrund wäre allerdings danach zu fragen, in welcher Beziehung dies zu der scharfen Kritik an Wundercharismatikern in Mt 7,21–23 steht.
Der wohl spannendste Abschnitt der Studie ist dem Lukasevangelium gewidmet. P. attestiert dem Evangelisten ein Bewusstsein für die Feinheiten medizinischer Terminologie seiner Zeit, das zu der altkirchlichen Tradition von Lukas dem Arzt als Verfasser des lukanischen Doppelwerks zumindest nicht im Widerspruch stehe, und arbeitet heraus, wie Lukas vor dem Hintergrund seiner Bildungstraditionen die Beauftragung zu Exorzismen und die Vorstellung einer dämonischen Verursachung von Krankheit zurückdrängt. Danach richtet sich der Fokus auf die lukanische Verschränkung des Heilungsauftrags mit dem Liebesgebot und dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,1–37). Innerhalb des lukanischen Doppelwerks sieht P. auch im Schlusswort der Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,35) einen Rekurs auf den Heilungsauftrag Jesu, mit dem Lukas die karitative Zuwendung gegenüber Schwachen oder Kranken als zentrales Element eines am Liebesgebot Jesu orientierten christlichen Ethos kennzeichne.
Etwas spekulativ bleiben die Ausführungen zum Johannes- und Thomasevangelium. Das Johannesevangelium sieht P. von den synoptischen Evangelien abhängig, rechnet mit einer bewussten Ausblendung des Heilungsauftrags Jesu und kommt zu der Schlussfolgerung, dass für die johanneische Theologie eine Heilungstätigkeit der Gläubigen keinen konstitutiven Bestandteil des christlichen Um­gangs mit dem Phänomen der Krankheit darstelle. Ob man dem Thomasevangelium gerecht wird, wenn man den dort überlieferten Krankenheilungsauftrag lediglich als einen quasi aus den Referenztexten »mitgeschleppten« Traditionsrest ohne Appellfunktion für die Gläubigen betrachtet, sei dahingestellt. Einzelne Apostelakten (s. u.) zeigen jedenfalls, dass die Heilung im Namen Jesu auch in gnostischen Milieus eine signifikante Rolle spielte.
Der vorletzte Abschnitt des Buches ist der Rezeption des Heilungsauftrags Jesu in frühchristlichen Schriften außerhalb der Evangelien gewidmet. Für Paulus wird der schwer zu erklärende Sachverhalt herausgestellt, dass der Apostel in seinen Briefen intensiv um eine Deutung des Phänomens Krankheit und den angemessenen Umgang mit Kranken ringt, sich dabei aber nirgendwo explizit auf den Heilungsauftrag Jesu bezieht. Die apokryphen Apostel­-akten wertet P. zu Recht als Beleg dafür, dass Wunderheilungen nach dem Vorbild Jesu ein charakteristisches Merkmal der frühchrist-lichen Missionspraxis darstellten, wie es auch der Christengegner Celsus verbürgt (Origenes, Contra Celsum I,6). Keine Berücksichtigung finden die »Taten des Petrus und der zwölf Apostel« aus Nag Hammadi, wo der auferstandene Christus den Jüngern im Arztkittel erscheint und ihnen mit den Worten »Heilt alle Kranken dieser Stadt, die (an) meinen Namen glauben« einen Arzneikoffer überreicht (vgl. ferner aus dem Bereich der Apokryphen den Missionsbefehl des Auferstandenen mit Beauftragung zu Wundertaten in der Epistula Apostorum 30). Ob man aus der Nichterwähnung des Krankenheilungsauftrags in der Didache tatsächlich den weitreichenden Rückschluss ziehen darf, dass die älteste Kirchenordnung des frühen Christentums das Charisma der Krankenheilung nicht zu den kons titutiven Identitätsmerkmalen christlicher Existenz bzw. eines frühchristlichen Wanderradikalismus zähle (127), erscheint mir fraglich. Regelungsbedarf bestand in der Didache ausschließlich für die überzogene Inanspruchnahme des Unterhaltsrechts durch Wandermissionare, während Wundertaten keiner besonderen Erwähnung bedurften. Exemplarisch beleuchtet P. anhand ausgewählter Textzeugnisse (u. a. Jak 5,14–16; 1Clem 59,4; Polykarp Phil 6,1; Traditio Apostolica 34), wie die karitative Krankenfürsorge zu einem wesentlichen Merkmal des christlichen Ethos wurde.
Im Schlussteil schlägt P. die Brücke zur Gegenwart, indem er der Frage nach der bleibenden theologischen Bedeutung des Krankenheilungsauftrags Jesu nachgeht. Die Rolle der charismatischen Heilung in bestimmten freikirchlichen Milieus und des Exorzismus in der römisch-katholischen Kirche, wo das 1614 entstandene Handbuch »De exorcismis« seit 1999 in einer Neubearbeitung vorliegt, wird zumindest knapp skizziert. Im Blick auf den heutigen Umgang mit dem Krankenheilungsauftrag Jesu plädiert P. mit einleuchtenden Argumenten dafür, sich im Bereich des kirchlichen Handelns ungleich stärker auf die Krankenfürsorge als auf die Krankenheilung und den Exorzismus zu fokussieren. Wenn er sich diesbezüglich bereits auf die Praxis der Alten Kirche beruft und die These aufstellt, dass in vielen frühchristlichen Texten vor allem die diakonische Fürsorge für Kranke zur Sprache gebracht würde, während exorzistische Fähigkeiten bzw. thaumaturgische Heilungen verhältnismäßig selten Erwähnung fänden, wird dies allerdings dem Quellenbefund kaum gerecht. Kirchenväter wie Justin, Irenäus, Tertullian, Origenes und Euseb bezeugen auf breiter Basis, dass Wunderheilungen wie auch Exorzismen ein fester Bestandteil der frühkirchlichen Gemeinde- wie Missionspraxis waren und maßgeblich zur Anziehungskraft des Christentums in der antiken Welt beitrugen.
Unter dem Strich liefert P. eine lesenswerte kleine Studie, die nicht nur den Heilungsauftrag Jesu und wichtige Etappen seiner frühchristlichen Wirkungsgeschichte schön beleuchtet, sondern auch anregende Impulse für eine ganzheitliche Theologie und eine vom Liebesgebot geleitete Zuwendung gegenüber Kranken gibt.