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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

494–496

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leonhard, Clemens, u. Hermut Löhr [Eds.]

Titel/Untertitel:

Literature or Liturgy?Early Christian Hymns and Prayers in Their Literary and Liturgical Context in Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VII, 222 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 363. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153218-4.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Die Erforschung der antiken jüdischen und christlichen Liturgien erlebte in den vergangenen Jahrzehnten einen deutlichen Aufschwung und bringt eine Vielzahl von methodisch differenzierten und textlich weit ausholenden Studien und Aufsatzsammlungen hervor. Der vorliegende Band setzt diese Entwicklung fort und weitet noch einmal den Horizont der berücksichtigten Texte, insbesondere hinsichtlich jüdischer und paganer Quellen. Hervorgegangen aus einer Münsteraner Tagung im Dezember 2009 widmen sich die neun Beiträge verschiedenen antiken Textgattungen, wobei unterschiedliche Methoden und hermeneutische Zugänge berücksichtigt werden. Der Band bietet sowohl allgemeinere Überblicksdarstellungen zu spezifischen liturgischen Textgruppen als auch detaillierte Studien einzelner Hymnen und Gebete. Die grundlegende Frage, die die Beiträge des Bandes eint, ist, wie literarische Zeugnisse liturgischen Geschehens analysiert und verstanden werden können: Handelt es sich um Literatur oder Liturgie? Oder bzw. und: Was macht einen literarischen (poetischen) Text zu einem liturgischen? In der Vergangenheit wurden mutmaßliche Hymnen, Lieder und poetische Texte meist nur dahingehend analysiert, die Anlässe und Orte ihrer Aufführung zu rekonstruieren. Dabei wurde jedoch übersehen, dass mancher metrisch gereimte Text in seinem Kontext zu­nächst literarischen Zielen dient, während andererseits mancher Prosatext Aufnahme in liturgische Zusammenhänge fand, obwohl er anfänglich nie dafür gedacht war.
Eröffnet wird der Band von Ralph Brucker (Gießen) mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick zu den neutestamentlichen »›Songs‹, ›Hymns‹, and ›Encomia‹«. Zunächst fragt er nach einer angemessenen, an den antiken Vorbildern orientierten Terminologie. Ausgehend von den einschlägigen Texten aus dem Philipperbrief werden Brüche in der konsequenten Übertragung antiker Formmerkmale aufgezeigt. Zahlreiche Einzelphänomene lassen sich nur mittels Analogien beschreiben, ohne dass es eine durchgängig tragfähige Terminologie gäbe.
Naomi Janowitz (Los Angeles), »Water, Word, and Name: The Shifting Pragmat­ics of the Sotah/Suspected Adultress Ritual«, skizziert aktuelle Kommunikationstheorien und ihre Relevanz für ein adäquates Verständnis liturgischer Texte. Liturgie und Literatur stehen sich jedoch nicht oppositionell gegenüber, was die Vfn. in einer Analyse des Sota-Rituals von der Feststellung der des Ehebruchs verdächtigen Frau anzuwenden sucht. Anhand der unterschiedlichen Darstellungen des Rituals in der rabbinischen Literatur arbeitet sie die »Re-Pragma-tisierung« des biblischen Rituals (Num 5,11–17) heraus und erläutert es im Kontext der Beschreibungen eines vergleichbaren Brauchs im Codex Hammurabi und der Deutungen bei Philo. Das Ordal ist eine theologische Lösung für ein Problem, das die Macht des Ehemannes übersteigt und nach einem Priester verlangt. Den Verdacht des Ehebruches kann letztlich nur Gott aufheben, daher steht der Bericht über das Ordal unter den Geboten über die rituelle Reinheit und nicht unter den familienspezifischen Geboten. In einem abschließenden Teil zieht die Vfn. einen mittelalterlichen Text aus der Kairoer Genisa zu Rate, um die Funktion des beteiligten Liturgen besser nachvollziehen zu können. Im Sota-Ritual übernimmt der Handelnde demnach quasi Funktionen einer göttlichen Person. Es kann als Paradebeispiel für die Verwobenheit von Liturgie und Literatur in ihrem komplexen hierarchischen Verhältnis zueinander verstanden werden.
Daniel K. Falk (Eugene), »Material Aspects of Prayer Manuscripts at Qumran«, gibt einen informativen Überblick über die materiellen Aspekte von Gebetstexten, die in den Höhlen vom Toten Meer gefunden wurden. Im Unterschied zu M. Klinghardt stellt seine Analyse heraus, dass in Qumran gefundene Gebete nicht als esoterische Texte betrachtet wurden. Andererseits wurden sie nicht einfach wie biblische Texte behandelt und daher gelegentlich beidseitig auf ein Blatt notiert; manchmal sogar – wie vor allem liturgische Prosagebete – auf Papyrus geschrieben. Auffällig ist, dass Gebete häufiger auf kleinen Schriftrollen festgehalten sind; gelegentlich aber auch dieselben Gebete sowohl auf großformatigen als auch auf kleinen Rollen. Viele der in diesem Beitrag zusammengetragenen Beobachtungen sind im Hinblick auf mittelalterliche jüdische Handschriften, etwa aus der Kairoer Genisa, zu bedenken. Ein wichtiger Exkurs zu den Tefillin aus Qumran (unter Berücksichtigung neuer Funde) rundet den wertvollen Artikel ab.
Stefan Schreiber (Augsburg), »Can Wisdom be Prayer? Form and Function of the Psalms of Solomon«, untersucht die 18 griechischen Psalmen, die pseudepigraph König Salomo zugeschrieben werden, und fragt nach ihrem literarischen Sitz im Leben. Die in die Zeit nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius zu datierenden Lieder sind heute nicht mehr allein pharisäischen Kreisen oder irgendeiner anderen bekannten Gruppe innerhalb des frühen Judentums zuzuschreiben. Umso drängender stellt sich die Frage, welchem liturgischen Ort sie sich verdanken, insbesondere vor dem Hintergrund der Analyse durch Kenneth Atkinson (2004), der annimmt, dass die gesamte Folge von Psalmen in einer regelmäßig rezitierten Liturgie verwendet wurde. Schreiber untersucht die Psalmenüberschriften, die literarischen Gattungen und formalen Elemente sowie die Struktur der Sammlung und kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis: Die Psalmen bieten keinen Hinweis auf eine kultische oder liturgische Verwendung. Wie späte weisheitliche Psalmen kann man sie in schriftgelehrten Kreisen verorten, die dem Tempelestablishment distanziert gegenüberstanden. Dort sind sie beim Studium sowie bei der Reflexion und Meditation rezitiert worden.
Michael Rand (Cambridge), »Fundamentals of the Study of Piyyut«, präsentiert eine lesenswerte Einleitung in den gegenwärtigen Stand der Erforschung der spätantiken und frühmittelalterlichen hebräischen Poesie (Piyyut), vor allem der Dichtungen der vorklassischen und klassischen Epoche aus Palästina. Insbesondere die zahlreichen anonym überlieferten Einschübe und Formeln aus der vorklassischen Epoche des Piyyut sind im Hinblick auf die Genese christlicher Liturgien bislang wenig berücksichtigt worden. Für den Band von besonderem Wert ist auch ein Abschnitt über das Verhältnis von klassischem Piyyut und jüdischer Liturgie, stellt sich doch hier die Frage nach dem Verhältnis zur Literatur besonders nachdrücklich.
Didier Pralon (Aix-Marseilles), »Les hymnes grecs paїens de l’époque hellénistique et romaine«, untersucht mehrere im Hinblick auf den Vergleich mit biblischen Texten vernachlässigte pagane Gesänge: einen Eros-Hymnus des Epigrammatikers Antagoras von Rhodos aus dem 3. Jh. v. Chr., der von Diogenes Laertius überliefert wurde; ägyptisch-ptolemäische Asklepios-Hymnen und einen epigraphisch überlieferten Apollon-Lobgesang.
Hermut Löhr (Münster), »What can we know about the Beginnings of Chris­tian Hymnody?« fasst den methodologischen Horizont der Erforschung christlicher Hymnen zusammen und arbeitet die Bedeutung einer bewussten Dif­ferenzierung literarischer und mündlicher Traditionen heraus. Der knappe, instruktive Überblick über den status quaestionis greift schließlich die Frage nach der Rekonstruierbarkeit hymnodischer Praktiken auf und analysiert die scheinbar gemeinsamen Strukturen in den überlieferten christlichen Hymnen.
Clemens Leonhard (Münster), »Which Hymns were sung in Ancient Christian Liturgies?«: Auf diese Frage antwortet der Mitherausgeber des Bandes eindeutig: keine! Jedenfalls keine, die erhalten geblieben wären. Zunächst wird untersucht, welche Texte überhaupt für die Rekonstruktion christlicher Liturgien in der Frühzeit der Gemeinden in Frage kommen und welche Texte von der Alten Kirche ausgeschlossen wurden. Der Beitrag gipfelt in dem bemerkenswerten Satz: »Early Christianity did not sing its theology during its con-gregational meetings.« (192) Texte wie der Philipperhymnus, die von der Forschung oft als wichtige Referenzen angeführt werden, stellen keine Abschnitte dar, die in einer Liturgie der frühen Kirche Verwendung gefunden hätten. Solche Texte wurden vielmehr als nach paganen Vorbildern gestaltete Hymnen betrachtet und in der Liturgie daher sogar eher vermieden.
Gerard Rouwhorst (Tilburg), »Hymns and Prayers in the Apocryphal Acts of Thomas«, geht in dem den Band abschließenden Beitrag auf die syrisch-griechisch verfassten Gebetstexte in den Akten des Thomas ein. Ausgehend von dem komplexen kulturellen und sprachlichen Umfeld der Entstehung dieser Schrift werden vor allem zwei Hymnen aus den Akten als unabhängige Einheiten identifiziert. Sie wurden durch einen Redaktor bearbeitet und lassen Zeichen früherer Verwendung in einem liturgischen Kontext in einem bilingualen Milieu erkennen (vor allem der sogenannte »Perlenhymnus«). Formal stimmen die Texte weitgehend mit traditionellen griechischen Hymnen überein (vor allem eine Taufhymne). Ein anderer Lobpreis weist dagegen stärkere Anleihen in der Sprache der biblischen Psalmen auf, was den Eindruck verstärkt, dass sich die Hymnen in den Thomas-Akten unterschiedlichen literarischen Traditionen verdanken.
Insgesamt erweitert der Band den Horizont der für das Verständnis frühchristlicher Hymnen zu berücksichtigenden Quellen. Manche in der Forschung lange vorherrschende Annahme wird somit in einen weiteren literarischen und historischen Kontext gestellt und methodisch differenzierter bedacht. Erschlossen wird der Band durch ein Register der modernen Autoren und einen Sach- und Quellenindex. Ein Autorenverzeichnis mag man vermissen.