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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

492–494

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haacker, Klaus

Titel/Untertitel:

Stephanus. Verleumdet, verehrt, verkannt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 249 S. m. 18 Abb. = Biblische Gestalten, 28. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-374-03725-4.

Rezensent:

Joachim Jeska

In der mittlerweile stattlich angewachsenen Reihe über »Biblische Gestalten« aus der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig legt der seit 2007 emeritierte Wuppertaler Neutestamentler Klaus Haacker einen Band über Stephanus vor. H. hat sich bereits während seines Forscherlebens immer wieder mit der Israelfrage und mit dem ersten Märtyrer der Geschichte des Christentums auseinandergesetzt; beachtenswert ist bis heute sein Beitrag in ANRW von 1995. Dem Konzept der Reihe entsprechend beginnt H. mit einer knappen Einführung (9–12), in der er bereits deutlich macht, was der Schlüssel seiner Interpretation der Stephanus-Figur in Apg 6,1–8,3 ist: Im Kern handele es sich um einen innerjüdischen Konflikt zwischen jüdischen Jesusjüngern und anderen Juden, das Schicksal des Stephanus bedinge allerdings die Ausbreitung der Jesusbewegung über Judäa hinaus und damit letztlich die Entstehung des »Chris­tentums« (9).
Blickt man auf die beiden Hauptteile des recht allgemeinverständlich geschriebenen Opus, so fällt ins Auge, dass H. der Exegese (Teil B: 80 Seiten) bei Weitem nicht so viel Raum einräumt wie der Wirkungsgeschichte (Teil C: 130 Seiten). Seine exegetischen Erörterungen beginnt er mit einem Blick auf das Krisenmanagement der Urgemeinde in Apg 6,1–7, wobei er anders als die meisten Ausleger das Gremium der »Sieben« für den Finanzausschuss der Gemeinde hält (13–22). H. skizziert Stephanus, den Kopf dieses Gremiums, als einen außerordentlich gebildeten Diasporajuden, der seine Ge­sprächs- und Streitpartner stets mit rhetorischen Mitteln nie-derzuringen verstehe. Die innerjüdischen Gegner wehrten sich schließlich mit Verleumdungen, die letztlich dazu führten, dass auch das einfache Volk gegen Stephanus opponierte. Durch die Form der Anklage, derzufolge er gegen Tempel und Gesetz/Mose agitiere, werde er bezichtigt, »dem Kampf des Diasporajudentums gegen die Assimilation in den Rücken zu fallen und selbst ein Apostat zu sein« (30).
Die Analyse der Stephanusrede in Apg 7,2–53 leitet H. mit grundlegenden Ausführungen zu den Reden der Apg ein, wobei er zu Recht antike Vergleichsautoren heranzieht. Demzufolge handele es sich bei Apg 7,2–53 um ein »Redesummarium«, das – ähnlich wie die Paulusreden der Apg – individuelle Züge des Redenden bewahre und gerade nicht auf die lukanische Theologie zurückzuführen sei (41–48). Freilich ist verständlich, dass jemand, der Apg 7 für die Bildung und theologische Verortung des Stephanus auswerten möchte, so argumentiert, dennoch gilt es hier zu fragen, warum H. manch andere Position der wissenschaftlichen Diskussion gar nicht erwähnt. So fehlt jeder Vergleich mit antik-jüdischen Summarien der Geschichte Israels, der ja – wie die jüngste Literatur gezeigt hat – durchaus Früchte tragen kann. Auch wird die Einpassung der Rede in die lukanische Theologie nur am Rande thematisiert, um sie sogleich zu verwerfen. Erstaunlich ist zudem, dass H. Literaturangaben zu ihm widersprechenden Exegesen macht, ohne deren Thesen überhaupt nur zu nennen; der Hinweis auf den zu knappen Raum (8) kann hier nicht greifen.
Die Interpretation der Stephanusrede (49–79) gliedert H. in fünf Teile und versucht dabei insgesamt aufzuzeigen, dass der Redner die gegen ihn erhobenen Anklagen zu entkräften versuche. So argumentiere Stephanus mit der Geschichte Abrahams, um zu belegen, dass jüdischer Glaube nicht an einen heiligen Ort gebunden sei und dass die Beschneidung eine gute »Sitte« des Judentums sei (Apg 7,2–8). Im Mose-Teil (Apg 7,20–43) werde die Diasporaperspektive des Redners deutlich, da Gott sich nicht an ein bestimmtes Land gebunden habe. Im Prophetenwort von Apg 7,37 erkennt H. eine »mosaische Christologie«, die er für spezifisch judenchristlich erachtet (62). Der darauffolgende V. 38 mit seiner positiven Be­zugnahme auf das von Engeln vermittelte Gesetz belege, dass der erhobene Vorwurf des Antinomismus falsch sei (63). Apg 7,44–50 untermauere die These, dass Gott nicht auf einen Tempel angewiesen sei und dass letztlich eine Tempelzerstörung »theologisch legitim« sei (71). Im provozierenden Finale der Rede (Apg 7,51–53) werde der zu Unrecht Angeklagte zum Ankläger, der aber auch damit weiterhin auf dem Boden des Judentums stehe (72–79).
Zu Recht konstatiert H., dass die Überlieferung des Martyriums (Apg 7,54–60) zeige, dass Stephanus ein »Zeuge« Jesu sei. Ob aber die Analogielosigkeit seiner letzten Worte deren Originalität bezeugt (83–86), soll hier zumindest angefragt werden, ebenso wie die These, dass Paulus der Gewährsmann des Lukas bei der Abfassung der Stephanusgeschichte gewesen sei (90). Die Parallelisierung mit 1Thess 2,15 vermag eine solche These kaum zu tragen. Sehr klar und nachvollziehbar skizziert H. abschließend die Geschichtszäsur, die das Stephanusschicksal bedeutet: Die Jesusbewegung wird »auseinandergesprengt« und in die Welt hinaus getrieben (92–100).
Der zweite Hauptteil des Buches zur Wirkungsgeschichte der Stephanusüberlieferung (101–231) ist deshalb recht ausführlich, weil H. hier einige Quellen in längeren Passagen zu Wort kommen lässt. Dabei sind etliche erstaunliche Entdeckungen zu machen. Etwa, dass die Überführung von Reliquien des Stephanus nach Menorca im 5. Jh. zu einer Judenverfolgung und Synagogenzerstörung geführt habe, gegen die Augustin über Stephanus als Vorbild der Feindesliebe gepredigt habe (105). Sehr klar arbeitet H. hier auch heraus, wie breit das von F. C. Baur 1829 vorgestellte antijudaistische Stephanusbild in der protestantischen Exegese rezipiert wurde (128–155). Zu Recht summiert H. derartige Auslegungen unter der Überschrift der »zweiten Leidensgeschichte des Stephanus« (128). Auch die Einblicke in Predigten zum 26.12., dem Stephanustag, sind weiterführend, ebenso die kurzen Beschreibungen einiger Werke der bildenden und der musikalischen Kunst (155–195). Hier ist anzumerken, dass dem Opus 18 Abbildungen beigegeben sind, von denen allerdings einige recht klein und sechs Bilder zudem zu dunkel abgedruckt sind. Ausführliche Zitate bietet H. von Stephanus-Nachdichtungen aus der Literatur (G. A. Bürger; B. von Heiseler), ehe er mit Rezeptionen der Stephanusthematik von jüdischer Seite endet; beachtenswert dabei sind die Werke von J. Klausner und S. Asch (215–231). Abschließend ist anzufragen, warum das Literaturverzeichnis so stark untergliedert und damit wenig übersichtlich ist (sieben Teile auf 15 Seiten), während andere Bände der Reihe mit nur zwei Teilen auskommen.
Auf das gesamte Werk geblickt, ist festzuhalten, dass insbesondere der wirkungsgeschichtliche Teil Impulse für die weitere Beschäftigung mit der Stephanusgeschichte setzen kann, zeigt er doch, was für ein wunder Punkt diese Figur in der Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen ist und wie brisant die Auseinandersetzung mit einem »Märtyrer« sein kann. Dabei vermag der Rückgriff auf das Ende des Stephanus und das Gebet für seine Feinde (Apg 7,60) die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion über das vermeintliche Märtyrertum von Selbstmordattentätern in eine neue Richtung zu führen. H. hat dafür die Grundlagen gelegt.