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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

490–492

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gignac, Alain

Titel/Untertitel:

L’épître aux Romains.

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2014. 654 S. = Commentaire biblique: Nouveau Testament, 6. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-2-204-09258-6.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

In der französischsprachigen Reihe Commentaire biblique: Nouveau Testament (CB.NT), herausgegeben von Hugues Cousin u. a., sind in den vergangenen Jahren etliche beachtliche wissenschaftliche Kommentare erschienen. Seit dem Jahr 2004 zähle ich sieben Neubearbeitungen, wobei der Verlag in seiner Aufzählung der aktuellen Bände (4) wohl den Kommentar zum Ersten Petrusbrief von Jacques Schlosser (CB.NT 21, Paris 2011) noch übersehen hat. In der Beschreibung der Anlage dieser Kommentare fällt auf, dass der eigentlichen Textarbeit ein großes Gewicht beigemessen wird. So steht in dem zu besprechenden Kommentar von Alain Gignac von der Université de Montréal am Anfang der Exegese jeder Perikope eine Arbeitsübersetzung, die sich explizit am Ausgangstext und nicht am Zieltext orientiert, die also den griechischen Wortlaut so präzise wie möglich wiedergibt. Daran schließt sich ein Abschnitt an, der etwa bei 1,1–7 mit Note générale sur la critique textuelle überschrieben ist. Hier finden sich im Kleindruck philologische und textkritische Erklärungen zu jeder voranstehenden Übersetzung. Daran schließen sich eine Bibliographie zu jeder Perikope, eine Interprétation derselben und abschließend Notes an. Die Interprétation bietet eine theologisch ausgerichtete Auslegung der Perikope, die Notes enthalten eine versweise vorgehende, dicht am griechischen Text bleibende Einzelexegese. Griechische Wörter werden nicht, wie vom Verlag im Einband angezeigt (systématiquement translittérés) (4) und wie in anderen Bänden der Reihe auch teilweise umgesetzt, in Umschrift geboten, sondern originalsprachlich.
G. stellt sich vor als »théologien laïc de la génération d’après Vatican II« und beschreibt seinen in Quebec geschriebenen Kommentar als »scientifique, catholique et francophone« (8). Als Zielgruppe denkt die Kommentarreihe »à un large public (enseignants et étudiants en théologie, prêtres, pasteurs, laïcs qui ont une formation théologique, spécialistes des littératures de l’Antiquité)« (4). In der Einleitung beschreibt G. seine exegetische Orientierung mit »avant tout synchronique« (33). Was ist damit gemeint? G. vollzieht drei Abgrenzungen: a) Er möchte sich nicht über Gebühr mit allen literarischen Fragen der Textproduktion beschäftigen, also nicht mit Quellen, Glossen, Literarkritik, Redaktionsarbeit etc. b) Er möchte nicht die dem Römerbrief zugrunde liegende und sich in ihm spiegelnde vergangene Geschichte rekonstruieren. c) Er möchte den Römerbrief primär nicht aus der Situation heraus interpretieren, die seiner Entstehung vermeintlich zugrunde liegt (33). Diese Vorgaben dürfen aber nicht den Eindruck vermitteln, als seien derartige Aspekte im Kommentar nicht besprochen. Sie sind nicht zentral. G. stellt sich damit gleichwohl bewusst in einen Gegensatz zu dem aktuellen Forschungstrend, den er etwa mit den Arbeiten von Karl P. Donfried und Odette Mainville verbindet. G. formuliert gegenüber dieser Forschungstendenz bewusst drastisch: »L’objectif de la lettre […] est de transformer l’identité du lecteur« (33). Er ist daher überzeugt davon, dass das Potential des Römerbriefs nicht ausgeschöpft wird, wenn man ihn kontextualisiert und in diesen engen Grenzen aufnimmt. Im Kommentar findet diese synchrone Textbetrachtung etwa Ausdruck in insgesamt 82 Schaubildern, in denen u. a. intratextuelle Beobachtungen zu Struktur, Opposita, Rhetorik, Analogien, Vergleichen oder zur Arithmetik in Texteinheiten des Römerbriefs dargeboten werden.
Die Abgrenzungen zum gegenwärtigen Forschungstrend setzen sich fort. Gegenüber der rhetorischen und epistolographischen Forschung am Römerbrief, die G. ausführlich vorstellt und die er auch für hilfreich und wesentlich hält, bevorzugt er »une sensibi-lité littéraire« (60) und verbindet dies mit folgender Erwartung: »Plutôt que d’imposer au texte un moule préétabli, je préfère suivre le texte selon sa logique propre et ses facettes multiples et changeantes, comme une prise de parole pleine d’énergie et de vi-vacité qui cherche à transformer l’identité du lecteur – hier et aujourd’hui« (60 f.). Noch deutlicher formuliert G. an anderer Stelle: »Bref, l’objectif de ce commentaire n’est pas tant de savoir ce que Paul […] a pensé, ou ce que les Romains […] ont compris, mais de lire ce qui se donne à penser dans le texte de la lettre, qui porte assurément la trace d’une expérience fondatrice de la foi chrétienne« (68). Verdeutlichen wir den von G. gewählten synchronen Zugang zum Text an einem Beispiel: Paulus stellt in Röm 3,28 πίστις und χωρὶς ἔργων νόμου einander gegenüber. G. grenzt sich von den bislang konkurrierenden Auslegungen ab, die ἔργα νόμου entweder auf die Identitätsmerkmale des Judentums bezogen (New Perspective on Paul) oder im Sinn der klassischen Auslegung auf die Möglichkeit, durch Werke Gnade vor Gott zu erlangen (Käsemann). G. ge­steht der ersten Auslegung durchaus eine gewisse Plausibilität zu, unterbreitet jedoch seinerseits einen dritten Vorschlag. Demnach könne sich ἔργων νόμου bereits im Vorausblick auf Röm 5–8 auf die fruchtlosen Versuche beziehen, mittels des Gesetzes die Sünde in Schranken zu halten (183). Die synchrone Textbetrachtung kann auch zu Hierarchisierungen leitender Vorstellungen im Text führen. Zu Röm 3,25 führt G. die exegetische Diskussion zur Frage, wie ἱλαστήριον zu verstehen sei, ausführlich vor (175 f.). Er verknüpft seinerseits den Begriff von seiner Herkunft her klar mit Lev 16. Da aber Paulus in Röm 5,1–11 das Werk Christi mittels des Motivbereichs der Versöhnung (und nicht mehr der Sühne) bespricht, stellt die im hellenistischen Judentum belegte Verwendung von ἱλαστήριον im Sinne der Lebenshingabe für das Volk sozusagen die Brücke von der Sühnetheologie zur Versöhnungstheologie dar. Insofern ist der Komplex Röm 3,24–26 für G. ein Beispiel unter anderen, das die synchrone Lektüre des Römerbriefs als »plus sa-tisfaisante« erweist (173). Auch bei Röm 7,25–8,1 möchte G. nicht bei möglichen traditionsgeschichtlich bedingten Schichten in-nerhalb des Textes verbleiben, sondern den Endtext synchron auf-nehmen.
G. hat einen sehr dichten, materialreichen und lesenswerten Kommentar geschrieben. Auch wenn in ihm die deutschsprachige Forschung nur eklektisch aufgenommen worden ist, so wünscht man ihm Leser aus dem deutschsprachigen Bereich. Der Zugang wird erleichtert durch knappe Einführungen in die sieben Sektionen des Briefs, die im Wesentlichen den bekannten Zuordnungen und Textabgrenzungen folgen. G. zieht allerdings (wie auch Lohse u. a.) Röm 1,18–4,25 zusammen und erkennt in Röm 5,1–21 eine eigene Sektion III, zieht also nicht Röm 5–8 als eigenen Gedanken abschnitt zusammen. Röm 5 wird damit in der Strategie des Römerbriefs aufgewertet. G. spricht von diesem Kapitel in seinen zwei Teilen (Röm 5,1–11.12–21) als der christologischen Achse (205) und von einem Übergang zwischen der Beschreibung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1–4) und den Folgekapiteln über Sünde, Gesetz und Geist (Röm 6–8). Auch diese von der Mehrheit der Forschung abweichende, aber sehr diskutable Entscheidung wird in umfangreicher Diskussion mit der Literatur vorgetragen und begründet. Als besonderes Kennzeichen jeder Einheit sieht G. »une relation triangulaire« (65): 1,1–17: Gott, Paulus, Ihr; 1,18–4,25: Gott, Christus, Mensch; 5,1–21: Gott, Christus, Adam; 6,1–39: Sünde/Tod, Gesetz, Ihr; 9,1–11,36: Gott, Israel, Heiden; 12,1–15,13: Gott, Gemeinde, die anderen. Insgesamt scheint die Trias Gott, Christus, Mensch im­mer im Hintergrund zu stehen (67).
Nachdem der Trend in der Forschung in den vergangenen beiden Jahrzehnten dahin tendierte, den Römerbrief sehr streng von einer bestimmten literaturgeschichtlichen Methode (Rhetorik, Epistolographie, Schriftrezeption) oder von einem historischen Kontext ausgehend (Spanienmission, Kollekte, stadtrömisches Christentum) oder eher biographisch bedingt (Testament, Scheitern der bisherigen Mission) zu verstehen, legt G. eine von zeitgeschichtlichen Fragen relativ unbeeindruckte theologische Interpretation des Briefs vor, ohne das andere abzuwerten. Fragen der Intertextualität werden jedoch stets ausführlich behandelt. Der approche synchronique ist auf jeden Fall ein unverzichtbarer Weg neben anderen, die Struktur und theologische Argumentation des Römerbriefs insgesamt im Blick zu behalten und dessen Theologie zu verstehen.