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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

485–488

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Kotzé, Gideon R.

Titel/Untertitel:

The Qumran Manuscripts of Lamentations. A Text-Critical Study.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. XI, 209 S. = Studia Se­mitica Neerlandica, 61. Geb. EUR 103,00. ISBN 978-90-04-23684-4.

Rezensent:

Rolf Schäfer

Der masoretische Text der Klagelieder war lange Zeit ein eher unspektakuläres Feld der Textkritik, denn er gilt allgemein als vergleichsweise gut erhalten. Dabei trifft auch für die Klgl cum grano salis die Bemerkung von R. Kittel zu, es könne »über reichliches Vorhandensein von Fehlern in unserer masoretischen Textgestalt kein Zweifel obwalten« (Über die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Ausgabe der Hebräischen Bibel, Leipzig 1901, 31). So gibt es in den Klgl eine ganze Reihe philologisch schwieriger Stellen (1,14.16.21; 2,6.18; 3,22; 4,9; 5,5) und auch den einen oder anderen literarkritisch auffälligen Vers (1,7; 2,19) samt den an solchen Stellen sprießenden geistreichen und phantasievollen Verbesserungsvorschlägen. Die textkritischen Überlegungen blieben aber weithin spekulativ, weil weder die Septuaginta (sie zeigt in den Klgl die Merkmale der kaige-Rezension) noch die anderen antiken Übersetzungen belastbare Anhaltspunkte dafür liefern, dass der ihnen zugrunde liegende hebräische Text sich signifikant vom masoretischen Text unterschied. Erst mit der Veröffentlichung der Klagelieder-Fragmente aus Qumran hat sich dieses einförmige Bild belebt, wobei insbesondere um die vielen eigentümlichen Lesarten der Handschrift 4QLam (von F. M. Cross zunächst 1983 in der Festschrift für D. N. Freedman veröffentlicht und schließlich 2000 in DJD XVI, 229–237 ediert) eine lebhafte Debatte entstanden ist, die noch andauert.
Gideon R. Kotzé hat in seiner von L. Jonker und J. Cook betreuten Dissertation die bisherige Diskussion um die Klgl-Varianten aus Qumran gesichtet, alle vorgetragenen Argumente kritisch ge­prüft, zugleich aber auch die Debatte noch um etliche Gesichtspunkte erweitert und die Befunde neu bewertet. Aufgrund dieser im Jahre 2010 eingereichten Arbeit wurde K. im darauffolgenden Jahr von der University of Stellenbosch promoviert. Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine für den Druck nochmals überarbeitete Fassung seiner Studie.
Im einleitenden Kapitel (Introduction) umreißt K. auf 20 Seiten zunächst seine Auffassung von Textkritik (3–6), sodann die Bedeutung der Texte vom Toten Meer für die Textkritik des Alten Testaments (6–13) und schließlich die von ihm verfolgte Fragestellung (13–14) sowie sein methodisches Vorgehen (15–20). Die Aufgabe der Textkritik sieht er nicht mehr primär in der Suche nach dem ursprünglichen Text, sondern im Anschluss an E. Tov im Fragen nach der Sprach-, Auslegungs- und Ideengeschichte, die sich in den Textvarianten niedergeschlagen hat, denn wie die Qumran-Texte nach dieser Auffassung belegen, haben antike Schreiber ihre Vorlagen nicht einfach mechanisch kopiert, sondern sie zugleich auch redigierend modifiziert. Ausgehend von einer solchen »active role that scribes played in transmitting literary writings« (13) will K. in seiner Studie mit den Mitteln der Textkritik speziell der Frage nachgehen, auf welche Weise »the Lamentations manuscripts from Qumran present the content of this writing« (14, im Original ohne Hervorhebung). Dies ist aus der Sicht des Rezensenten ein kühnes Ziel und kann zumindest für die Klgl nur als ein Ideal verstanden werden, das angesichts des fragmentarischen Zustands der vier Handschriften im besten Fall annäherungsweise zu erreichen ist. So fällt denn auch 3QLam mit nur 17 erhaltenen Buchstaben aus Lam 3,53-62 für K.s Untersuchung sozusagen schon in der Vorrunde aus (35) und auch 5QLam b erweist sich bei der Auswertung als für die Fragestellung irrelevant (146, Anm. 113). Die Studie konzentriert sich somit auf die beiden Handschriften 4QLam und 5QLama.
Methodisch geht K. in vier Schritten vor. Er transkribiert zu­nächst die Qumran-Texte, ermittelt im zweiten Schritt durch Vergleich mit den anderen Textzeugen die Varianten, stellt im dritten Schritt Überlegungen zur vermutlichen Genese der Varianten an und erreicht im vierten Schritt sein Ziel, indem er abschließend die inhaltlichen Akzente und Verschiebungen beschreibt, die sich aus den eigentümlichen Lesarten der Qumran-Handschriften ergeben.
Die ersten beiden Schritte hat K. in Kapitel 2 (21–35) zusammengefasst. Er präsentiert hier als Grundlage für seine weitere Untersuchung eine eigene Edition der vier Klgl-Manuskripte aus Qumran, beschreibt die Beschaffenheit und die besonderen Merkmale der einzelnen Fragmente und gibt deren Text in Transkription wieder, jeweils gefolgt von einer vorerst noch unkommentierten Liste der Varianten; rein orthographische Varianten sind für seine Fragestellung bedeutungslos und bleiben deshalb unberücksichtigt.
Die eigentliche Analyse und Auswertung erfolgt in den Kapiteln 3, 4 und 5. Hier untersucht und diskutiert K. sämtliche Varianten der Reihe nach, wobei (wie nicht anders zu erwarten) das 4QLam gewidmete Kapitel 3 (36–120) nicht nur mit Abstand am umfangreichsten, sondern auch im Blick auf die Fragestellung am ergiebigsten ist, weil die in 4QLam nahezu vollständig erhaltene Pas-sage aus Klgl 1,6–18 plausible Schlussfolgerungen über inhaltliche Nuancen zulässt, wohingegen die Erkenntnisse, die K. in Kapitel 4 (121–147) und Kapitel 5 (148–174) aus dem in 5QLama nur ganz bruchstückhaft erhaltenen Text von Klgl 4,5–5,17 gewinnen kann, vergleichsweise mager ausfallen.
In Kapitel 6 (Conclusions) zieht K. ein Fazit seiner Untersuchung und präsentiert in zwei Tabellen zusammengefasst nochmals die Textvarianten der Handschriften 4QLam und 5QLama. Jede einzelne dieser Varianten ist nun mit einer evaluation versehen, die jeweils das Ergebnis der ausführlichen Analysen in den drei vorangehenden Kapiteln widerspiegelt. Bei den evaluations unterscheidet K. vier Kategorien: »more original than the MT (orig.), a scribal error (err.), a (deliberate) change in wording introduced by a scribe (scrib.) or an interpretative insertion (int.)« (176). Von den 41 untersuchten Varianten aus 4QLam klassifiziert er etwa die Hälfte als »scrib.«, neun als »err.« und ebenso viele (vier mit und fünf ohne Fragezeichen) als »orig.« (177). Angesichts der Emphase, mit der K. in der Einleitung die Frage nach einem (wie auch immer definierten) »original text« oder nach »preferable readings« als Ziel seiner Untersuchung abgewiesen hat (16), kommt die Anwendung der Kategorie »orig.« an dieser Stelle überraschend. Offenbar hat die Untersuchung beim Vergleich der vorhandenen Textzeugen so-zusagen nebenbei Erkenntnisse hervorgebracht, die zumindest punktuell auf eine den heute bekannten Textformen vorausgehende Textgestalt verweisen. Das ist gut so, denn die Blickrichtung gegen den Strom der Textgeschichte ist nach der Auffassung des Rezensenten ein immanentes Motiv jeder textkritischen Arbeit. Das Literaturverzeichnis sowie ein Stellen- und ein Schlagwortregister beschließen den sorgfältig edierten Band.
Wie von einer textkritischen Untersuchung nicht anders zu erwarten, präsentiert K. im Hauptteil seines Buches eine Menge philologischer Details, verbunden mit wohlüberlegten und in der Regel gut nachvollziehbaren Erwägungen, die hier nicht alle im Einzelnen gewürdigt werden können. Stattdessen soll exemplarisch ein zentraler Punkt der Studie etwas näher beleuchtet werden: Die Untersuchung der Lesarten von 4QLam führt zur Schlussfolgerung, der Text von Klgl 1 sei in dieser Fassung systematisch umgestaltet »in order to present the content […] from the perspective of the narrator« (48) bzw. »of the narrator and the community he represents« (116). Damit knüpft K. an eine bereits von D. Hillers (Lamentations [The Anchor Bible, Bd. 7A], 2nd revised edition New York 1992, 45–46) vorgetragene These an, die er nun mit vielen detaillierten Beobachtungen entfaltet und weiter zu erhärten versucht. Das Fundament dieser These ist der Befund, dass in den Versen 11 und 13 an Stelle der im MT überlieferten femininen Formen הללוז, הממוש und הוד im Text von 4QLam die entsprechenden maskulinen Formen ללוז, םמוש und י[ו]ד stehen. Das in diesen Versen in der 1. Pers. sg. sprechende poetische Ich ist demnach im MT die poetisch personifizierte Zionsstadt, in 4QLam hingegen der Dichter oder »narrator« (der schon im Klgl-Präskript der Septuaginta mit dem Propheten Jeremia identifiziert wurde). Im gleichen Sinne ist wohl auch in V. 16 die Lesart וֹכב der Handschrift 4 QLam gegenüber dem betont im sg. fem. gehaltenen היכוב ינא des MT zu interpretieren. Soweit kann man den Überlegungen von K. bzw. Hillers ohne Einschränkung folgen. Weniger klar liegen die Dinge jedoch in V. 7. Höchstwahrscheinlich bieten hier weder 4QLam noch MT einen fehlerfreien Text. Die kürzere Fassung in 4QLam betrachtet K. zwar insgesamt als den älteren Textbestand, er hält aber die Lesart הוהי הרוֹזכ am Beginn des Verses für eine absichtliche Änderung gegenüber dem in MT überlieferten םלשורי הרכז. Zu dieser Einschätzung führt ihn die oben genannte, aus dem Befund in den Versen 11 und 13 abgeleitete These, die Textfassung von 4QLam sei in der Absicht redigiert worden, den »narrator and his community« (116) in den Vordergrund zu rücken. Im Zuge dieser Bearbeitung hätte demnach ein Schreiber auch den Anfang von V. 7 neu formuliert: ונבואכמ הוהי הרזוֹככ. Merkwürdig bleibt dabei, dass in 4QLam genauso wie in MT sowohl der unmittelbar folgende als auch der vorangehende Text durchgehend in der 3. Pers. sg. fem. bleibt. Im Kontext dieser zahlreichen femininen Formen erscheint das םלשורי הרכז des MT gegenüber dem הוהי הרוֹכז der Handschrift 4QLam als lectio facilior. Möglicherweise fand der Schreiber von 4QLam also den Imperativ הוהי הרוֹכז bereits vor und fügte dann ein Objekt mit Suffix der 1. Pers. pl. (ונבואכמ) hinzu, das als Fortsetzung des Imperativs gewissermaßen in der Luft lag. Dementsprechend könnten auch in den Versen 11 und 13 die maskulinen Formen in 4QLam versehentlich eingeflossen sein – nicht als eine planvolle Umgestaltung, sondern schlicht aus der gleichen Nachlässigkeit heraus, die auch an vielen anderen Stellen der Textfassung von 4QLam zu beobachten ist.
Solche unterschiedlichen Betrachtungsweisen zeigen, in welch hohem Maße textkritische Urteile von subjektiven Einschätzungen abhängen. Obwohl der Rezensent hier und da vielleicht anders urteilen würde als K., hält er gleichwohl dessen Studie insgesamt für außerordentlich hilfreich. Mit seiner Untersuchung hat K. alle textkritischen Einzelfragen im Horizont der Handschriften 3QLam, 4QLam, 5QLama und 5QLamb umfassend behandelt – kein relevantes Detail dürfte ihm entgangen sein – und dabei stets die übergeordnete Fragestellung im Blick behalten. Sein klar strukturiertes Buch leistet einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der vier Klagelieder-Handschriften aus Qumran, insbesondere der Handschrift 4QLam.