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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

477–479

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boustan, Ra’anan, Himmelfarb, Martha, and Peter Schäfer[Eds.]

Titel/Untertitel:

Hekhalot Literature in Context. Between Byzantium and Babylonia.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XXIV, 439 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 153. Lw. EUR 144,00. ISBN 978-3-16-152575-9.

Rezensent:

Beate Ego

Die Erforschung der Hekhalot-Literatur hat in den letzten Jahrzehnten seit der kritischen Publikation der einschlägigen Texte durch Peter Schäfer einen enormen Aufschwung genommen. Entgegen der Annahme, es handle sich hier um Material, das in die Früh- und Blütezeit der rabbinischen Epoche gehört (so G. Scholem), hat die Beschäftigung mit dieser Literatur immer deutlicher gezeigt, dass ihre Überlieferungen wohl am besten in der Zeit eines post-rabbinischen Judentums der Spätantike und des Mittelalters zu datieren sind und dass diese zudem zahlreichen Entwicklungen – sowohl in der babylonischen Diaspora als auch im frühmittelalterlichen Europa – unterworfen waren. Die vorliegenden Beiträge, die auf eine Konferenz »Hekhalot Literature in Context« zurückgehen (14.–16. November, Princeton), führen die Erforschung dieser faszinierenden Literatur in ganz unterschiedlichen Bereichen weiter.
Der erste Teil des Buches versammelt zunächst unter der Überschrift »The Formation of Hekhalot Literature: Linguistic, Literary, and Cultural Context« sieben Aufsätze, die verschiedene Texte dieser breiten Überlieferung in ihrem historischen und kulturellen Umfeld beleuchten. Insgesamt wird dabei deutlich, dass diese nicht vor dem 5. Jh. n. Chr. entstanden sind und dass kein gemeinsamer Entstehungshintergrund für die Gesamtheit der Hekhalot-Texte anzunehmen ist. Noam Mizrahi (»The Language of Hekhalot Literature«, 3–28) bietet eine – wenngleich auch vorläufige – systematische Beschreibung des sprachlichen Profils der Texte, wenn er durch subtile Sprachvergleiche zeigt, dass das uns vorliegende Textmaterial archaisierende Tendenzen des späten bzw. nachamoräischen Hebräisch aufweist. Peter Schäfer (»Metatron in Babylonia«, 29–39) untersucht die Herkunft der Figur des Engels Metatron. Dabei macht er auf der Basis sorgfältiger literarkritischer Analysen deutlich, dass diese Figur wohl im Kontext babylonischer Traditionen entstanden ist, die Metatron mit dem Engel Michael identifizieren. In diesem Milieu ist die Vorstellung, wonach es zwei göttliche Mächte (»God and a lesser God«) gibt, in der Spätantike relativ verbreitet. Michael D. Swartzs Beitrag »Hekhalot und Piyyut: From Byzantium to Babylonia and Back« (41–64) wiederum zeigt, dass einige der Piyyut-Dichter in der Zeit vom 5. bis zum 7. Jh. mit dem Weltbild der Hekhalot-Texte und dem Konzept der Himmelsreise vertraut waren. Weitere Untersuchungen haben die Relation dieser Überlieferungen zueinander noch deutlicher herauszuarbeiten. Alexei Sivertsev (»The Emperor’s Many Bodies: The Demise of Emperor Lupinus Revisited«, 65–84) stellt die Erzählung von den Märtyrern in den Kontext der byzantinischen Panegyrik. Klaus Herrmanns »Jewish Mysticism in Byzantium: The Transformation of Merkavah Mysticism in 3 Enoch« (85–116) erforscht ebenso den byzantinischen Kontext bestimmter Hekhalot-Kompositionen. Speziell im Hinblick auf die Endredaktion des 3Henoch ist festzustellen, dass hier eine Annäherung an apokalyptische Konzepte sowie an die rabbinische Vorstellungswelt stattfindet. Dieser Transformationsprozess der jüdischen Mystik begann im 6. Jh. im byzantinischen Umfeld. Auch David M. Grossberg unterstreicht in seinem Beitrag den Einfluss, der von der christlichen Seite auf die Hekhalot-Literatur erfolgte. Als konkretes Beispiel dient hierfür die Erzählung von Elisha ben Abuyah und Metatron in ihrer Version im 3Henoch (»Between 3 Enoch and Bavli Hagigah: Heresiology and Orthopraxy in the Ascent of Elisha ben Abuyah«, 117–139). Der erste Teil des Buches schließt mit einer Arbeit von Moulie Vidas »Hekhalot Literature, the Babylonian Academies and the tanna’im« (141–176), welche die Figur des Sar-ha-Tora als Medium der Auseinandersetzung mit dem Ethos des Tora-Studiums im Babylonischen Talmud interpretiert.
Der zweite große Bereich dieses Sammelbandes »The Transmission and Reception of Hekhalot Literature: Toward the Middle Ages« enthält drei Studien, welche die zahlreichen Bewegungsli-nien aufzeichnen, die die Hekhalot-Literatur ausgehend vom Orient in die mittelalterlichen Gemeinden des Mittelmeergebietes und Europas genommen hat. In seinem Beitrag »The Hekhalot Genizah« (179–212) gibt Peter Schäfer einen Überblick über die verschiedenen Handschriften, in denen die Hekhalot-Texte überliefert sind. Dabei wird deutlich, dass der Weg der Überlieferung vom Orient durch Byzanz und Süditalien nach Aschkenaz ging. Diese Beobachtungen decken sich ein Stück weit mit Gideon Bohaks Ausführungen »Observations on the Transmission of Hekhalot-Liter-ature in the Cairo Genizah« (213–230). Der Beitrag von Ophir Münz-Manor (»A Prolegomenon to the Study of Hekhalot Traditions in European Piyyut«, 231–242) zeigt die Rezeption der Hekhalot-Literatur und ihrer Vorstellungswelt in den Piyyutim im euro-päischen Mittelalter, wobei diese wiederum interessanterweise sogar als Vorstufen der Hekhalot-Überlieferungen in ihrer europäischen Form angesehen werden können.
Der dritte Teil dieses Werkes schließlich, »Early Jewish Mysticism in Comparative Perspective: Themes and Patterns«, stellt die Erforschung der Hekhalot-Literatur in einen interdisziplinären Rahmen. So untersucht Reimund Leicht in seinem Beitrag »Major Trends in Rabbinic Cosmology« (245–278) verschiedene kosmologische Entwürfe der rabbinischen Literatur und kontrastiert diese mit den Hekhalot-Überlieferungen. Während die Traditionen aus den Midraschim und dem Jerusalemer Talmud deutlichen Einfluss griechischen kosmologischen Denkens zeigen, findet im Babylonischen Talmud eine Wiederbelebung älterer Vorstellungen statt. In den Überlieferungen der Hekhalot-Literatur tritt das kosmologische Interesse dagegen ganz zurück, und es wird vor allem das Bild von Gott als König mit den ihn umgebenden Engeln fokussiert. Rebecca Lesses »Women and Gender in Hekhalot Literature« (279–312) wiederum geht der Frage nach, ob es auch weibliche Hekhalot-Mystikerinnen gab und – sollte dies nicht der Fall sein – warum nur Männer dann in rituellen Praktiken engagiert waren. Die Tatsache, dass Frauen im Kontext der Hekhalot-Literatur nur eine marginale Rolle spielen, lässt sich mit der großen Bedeutung von Reinheitsvorstellungen in den Kreisen der Mystiker erklären. Andrei A. Orlovs Studie »›What is Below?‹ Mysteries of Leviathan in the Early Jewish Accounts and Mishna Hagigah 2:1« (313–322) plädiert für eine traditionsgeschichtliche Verbindung der Merkaba-Traditionen in der Apokalypse Abrahams, den Bilderreden und der Exagoge Ezechiels mit den Überlieferungen in Mischna Hagiga. Michael Meerson wiederum greift in seiner Studie »Rites of Passage in Magic and Mysticism« (323–347) auf Arnold von Genneps Theorie einer dreiteiligen Struktur von religiösen Initiationsriten zurück. Die Aufstiegserzählungen in der Hekhalot-Literatur verweisen allerdings nicht auf reale Praktiken, sondern vielmehr auf eine Art »imaginative performance«, die im Wesentlichen im Modus der Re­zitation stattfindet. Der Band schließt mit einem Beitrag von Annette Yoshiko Reed: »Rethinking (Jewish-)Christian Evidence for Jewish Mysticim« (349–377). Enge Bezüge zu den Pseudo-Klementinen zeigen, dass die traditionsgeschichtlichen Wurzeln der Hekhalot-Literatur nicht nur in den jüdischen Überlieferungen aus der Zeit des Zweiten Tempels gesucht werden sollten und dass hier auch interkulturelle und -religiöse Dynamiken in Anschlag ge­bracht werden können.
Der Band stellt einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der Hekhalot-Literatur dar, da er sowohl einen guten Einblick in die aktuelle Arbeit als auch wichtige Hinweise für zukünftige Forschungsthemen gibt. Vor diesem Hintergrund stellt das Buch ein Standardwerk dieses Forschungsbereiches dar, an dem alle zukünftigen Arbeiten ihren Ausgang nehmen sollten.