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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

469–471

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kammler, Henry

Titel/Untertitel:

Kulturwandel und die Konkurrenz der Religionen in Mexiko. Nahuas in Guerrero zwischen Herrschaft der Winde und der Macht des Wortes.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Kohlhammer 2010. 368 S. m. Abb. u. Ktn. = Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts Frankfurt am Main, 5. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-17-021154-4.

Rezensent:

Michael Sievernich

Durch den Kulturwandel in Lateinamerika ist auch die religiöse Landschaft in Bewegung geraten und erfährt Prozesse der Pluralisierung. Diesem Phänomen geht die vorliegende religionsethnologische Arbeit nach, die am Institut für Ethnologie der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität (Karl-Heinz Kohl) entstanden ist. Der Autor Henry Kammler ist heute als Ethnologe an der Münchener Universität tätig. In seiner Mikrostudie untersucht er drei benachbarte Dörfer in der Region Alto Balsas im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die Einwohner der drei Dörfer San Agustín Oapan, San Miguel Tecuiciapan und Ahuelicán gehören der Ethnie der Nahuas an und sprechen zum Teil noch eine Variante der indigenen Sprache Nahuatl. K. geht den unterschiedlichen Wegen der Modernisierung nach und will klären, »inwieweit sich bestimmte Prozesse des Wandels, beispielsweise Entscheidungen für oder gegen eine religiöse Konversion, aus der lokalen Lebenspraxis, die grenzüberschreitende Migration einschließt, begründen lassen. Religiöse Fragmentierung wird als Anzeichen dafür gewertet, dass das tradierte Reservoir an kollektiv geteilten Überzeugungen, d. h. ein gemeinsamer Mythos, als Quelle einer Sinngebung in der Lebensführung der Dorfbewohner nicht ausreicht, um die im beschleunigten Kulturwandel deutungsbedürftig gewordenen Probleme zu bearbeiten.« (13) Die Arbeit ist aufgrund ihres Gegenstands auch religionswissenschaftlich, religionssoziologisch und theologisch von Interesse, insbesondere was Kirchengeschichte, Missions- und Liturgiewissenschaft sowie Pas­toraltheologie angeht.
Methodisch (28–37) orientiert sich K. an der ethnologischen Me­thode der »teilnehmenden Beobachtung«, deren Beschränkung er offenlegt; als ungetaufter Fremder unter den Beforschten könne er nur teilweise eingebettet sein, da eine Teilnahme an religiösen Ritualen, und sei es nur eine Prozession, ausgeschlossen bleibt. Die Beobachtung schlägt sich in Interviews und Logbuch, Foto-, Audio- und Videoaufnahmen nieder. K. hat seine Feldforschung sehr aufwändig gestaltet, nicht nur durch eingebettete Aufenthalte, sondern auch durch Erlernen des Nahuatl. Für den theoretischen Hintergrund bezieht sich K. auf Autoren wie Oevermann (»objektive Hermeneutik«, »Religiosität«), Susanne K. Langer (»Sinngewebe«), Bourdieu (»Habitus« und »Raum«) und Geertz (»Kulturmuster«). In plausibler Gliederung hat die Dissertation außer der Einleitung zu Problemstellung, Methodik und Begrifflichkeit drei große Teile, deren erster den Forschungsgegenstand des Alto Balsas ethnographisch mit den üblichen Kategorien beschreibt und besonders das Ämtersystem ( cargo) betont. Auf dieses dichte Kapitel 2 folgen die zwei Hauptkapitel, von denen sich Kapitel 3 mit dem »tradierten Glaubenssystem« befasst. Dazu zählen mündliche religiöse Überlieferungen; anthropologische Themen wie der Totenkult; die indigenen und christlichen Feste und Wallfahrten, die nicht selten hybride Formen ausbilden. Auch die Rituale von Karneval und Osterfest werden dargestellt. Kapitel 4 schließlich geht der »Fragmentierung des religiösen Raums« nach und differenziert das »katholische« Spektrum nach der Mehrheit des Volkskatholizismus; der Gruppe der kirchlich integrierten charismatischen Er­neu­erung und der Gruppe der schismatischen »Sedisvakantisten«. Dem »protestantischen« Spektrum rechnet K. die Baptisten, die Pentekostalen und die Zeugen Jehovas zu. Wie alle Kapitel mit einer Ergebnissicherung abgeschlossen werden, so auch die Gesamtarbeit mit einer Zusammenfassung. Die Anhänge zu Ritualkalendern, zu Nahuatexten, darunter die Transkription und deutsche Übersetzung einer halbstündigen Erzählung von Adam und Eva als Beispiel oraler Kultur, sind hilfreiche Beigaben. Ein nützliches Glossar sowie eine umfangreiche Bibliographie (356–368) schließen die Arbeit ab.
Die religionsethnologische Arbeit zeichnet sich zunächst durch eine transparente Gliederung aus, deren Teile sachlich vielfältig vernetzt sind, so dass ein klares »Sinngewebe« entsteht. Der Duktus ist zielführend und die Sprache angemessen. Der Methodenmix diesen Typs partizipativer Feldforschung, der auch qualitative Interviews, Aufzeichnung oraler Narration und photographische Dokumentation (vgl. 177–184) umfasst, macht die Arbeit facettenreich und dokumentiert die Komplexität des Gegenstands. Zwei weitere Vorzüge sind zum einen sorgfältige Recherche und verlässliche Dokumentation sowie Einbezug der indigenen Sprache, zum anderen eine höchst detaillierte Analyse der Pluralisierungsprozesse in den drei Dörfern, die typisch für den ruralen indigenen Raum sind; auf städtische Regionen wird man nicht rückschließen können. Die hervorragende Arbeit ist auch für Theologen aufschlussreich, da sie in dieser Studie sowohl die Mikroprozesse innerhalb der seit Jahrhunderten etablierten Kirche studieren können als auch die durch innere und äußere Faktoren bewirkten Fragmentierungen in der Gegenwart. Überdies ist höchst interessant zu beobachten, welche Beobachtungen ein externer Beobachter aus ethnologischer Perspektive macht, wie er sie einordnet, analysiert und interpretiert. Erstaunlich ist allerdings, dass die Beobachtungsintensität abnimmt, wenn es um die Normalform des ausgeübten Katholizismus geht, dessen kirchliche Rituale nicht weiter expliziert, aber als »Ritualismus« qualifiziert werden. Man vermisst einige vergleichende statistische Daten (nur ansatzweise: 25). Die Arbeit gewinnt zusätzlich durch ihre Anhänge und beigegebenen Karten, Graphiken sowie die teilweise farbigen Fotos. Erschließende Register fehlen leider.
In theologischer Sicht nutzt K. leider kaum die interdisziplinären Möglichkeiten. Das betrifft einerseits die Liturgie der katholischen Kirche, die nicht näher aus religionsethnologischer Sicht beobachtet und expliziert wird. Warum dies nicht oder nur rudimentär ge­schieht, wird nicht klar, zumal andere Rituale intensiv beschrieben und in ihrem Gehalt erläutert werden. Daher fehlt es bisweilen an Differenzierung. Gottesdienste werden fast durchweg als »Messe« bezeichnet, die nicht näher bestimmt wird und daher auch dort auftaucht, wo es sich nicht um Messen handelt, zum Beispiel am Karfreitag oder am Karsamstag. Auch Ostern wird in seinem Gehalt nicht erläutert, der Nexus der Kartage nicht erklärt, was aber wiederum für das Verständnis der popularen Passionsfrömmigkeit von größter Bedeutung ist, etwa die Verehrung des Grabes Christi ( santo entierro). Auch wird der auf Erinnerung und Vergegenwärtigung basierende Charakter des christlichen »Ritualkalenders« nicht richtig erkannt, der überdies nicht am ersten Januar beginnt, sondern mit der (nicht erwähnten) Adventszeit (321).
Generell würde es gewiss zu größerer Klarheit führen, deutlicher zwischen offizieller Liturgie und volksfrommer Dramatisierung zu unterscheiden, auch wenn sie in praxi eng miteinander verknüpft erscheinen. Lateinamerika hat eine spezifische Form der Volksfrömmigkeit (religiosidad popular) herausgebildet, die spanische Vorbilder und indigene Elemente übernahm. Dazu gehören Prozessionen, Dramatisierung des Festgehalts, Ausgestaltung der religiösen Feste und insbesondere die Heiligenverehrung, die einen devotionalen Charakter hat, oft verbunden mit Tauschbeziehungen.
Hier wäre es hilfreich gewesen, für diesen Komplex die umfangreiche theologische Fachliteratur zur systematischen Analyse und Interpretation heranzuziehen, etwa Standardautoren wie Paulo Suess, Karl Kohut, David González Cruz oder José Luis González Martínez; schon ein Blick in Lexika wie LThK oder RGG hätte Aufklärung zur Sache und zur Literatur geben können. Das Kultbild der Virgen de Guadalupe als »Muttergöttin« zu bezeichnen, auch wenn es in Kultsukzession den Beinamen »Tonantzin« trägt, ist funktional, ikonographisch und praktisch ebenso abwegig wie die Heiligen als eine »Versammlung von menschenähnlichen Halbgöttern« zu bezeichnen (189). Noch ein Corrigendum: S. 204 ist das biblische Buch Tobit (nicht Tobias) gemeint. Das insgesamt hervorragende und höchst informative Werk kann als Referenzwerk zum Thema gelten, hätte freilich durch stärkere Interdisziplinarität, vor allem durch Einbezug theologischer Fachkompetenz an Prägnanz gewinnen können.