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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

769–771

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Koppehl, Thomas

Titel/Untertitel:

Der wissenschaftliche Standpunkt der Theologie Isaak August Dorners.

Verlag:

Berlin-New York de Gruyter 1997. VIII, 351 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 78. Lw. DM 238,-. ISBN 3-11-015203-7.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Isaak August Dorner (1809-1884) gilt als einer der bedeutendsten systematischen Köpfe der Theologie des 19. Jh.s und einer ihrer kirchenpolitisch wirkungsvollen Gestalten. Zu Dorners kirchenpolitischer Tätigkeit gibt es noch keine eigene Monographie, zu den Grundlegungsfragen seiner systematischen Theologie neben J. Rothermundt (1968) und Ch. Axt-Piscalar (1990), vgl. auch M. Hüttenhoff (1991), die hier anzuzeigende Arbeit, eine von der Kirchlichen Hochschule in Berlin 1990 angenommene Dissertation, die auf Ermutigung von O. Bayer als Mitherausgeber der Theologischen Bibliothek Töpelmann 1996 in den Druck gegangen ist, dafür in den Formalia eigens bearbeitet wurde, ohne daß jedoch auf die seither erschienene Literatur eingegangen wäre, was namentlich die Rezensentin bedauert.

Dorner ist dafür bekannt, daß er in die zeitgenössische Debatte des 19. Jh.s um die Christologie maßgeblich eingegriffen hat sowohl durch seine dogmengeschichtlichen Untersuchungen zur "Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi" (21845-1856) als auch durch seine eigene christologische Konzeption, wie er sie insbesondere im "System der christlichen Glaubenslehre" (21883) ausgearbeitet hat. Dorners Beitrag zur Christologie liegt zum einen in der Lehre vom Zentralindividuum und zum andern in der Entfaltung des Gedankens einer werdenden Gottmenscheinheit. Diesen beiden Themenkreisen ist der erste Hauptteil der Arbeit gewidmet (21-189), der dazu die Grundaussagen ausführt.

Mit der Lehre vom Zentralindividuum sucht Dorner derjenigen Front zu begegnen, die Koppehl - im Anschluß an E. Günther (29, 58) - durch die Einheit von "Gattungschristologie, Humanitäts- und Entwicklungsgedanken" (29) gekennzeichnet sieht. Ihr werden neben Lessing, Kant und Hegel, die Hegelschule und hier neben C. L. Michelet und C. F. Göschel vor allem D. F. Strauß und F. Chr. Baur zugerechnet (26-68). Besonders mit letzterem hat Dorner sich in seinen Arbeiten zur Dogmengeschichte auseinandergesetzt (vgl. dazu 21-26; 69-101). Dabei geht es ihm im Kern um die Widerlegung von Baurs Auffassung, derzufolge, so Dorner, "nicht nur eine wesentlich ebionitische Auffassung Christi als die ursprüngliche und altchristliche, sondern auch als die Vorstellung, die Christus selbst von sich hatte" zu behaupten sei (Entwicklungsgeschichte der Christol. 2I, XVIII, dazu Koppehl 70 f.). Demgegenüber ist Jesus Christus für Dorner die historisch verwirklichte Gottmenscheinheit in Person, die als solche (dem Glauben und) der dogmengeschichtlichen Entwicklung als objektiver Bezugspunkt vorausgesetzt ist und bleibt.

Der Gedanke einer werdenden Gottmenscheinheit hinwiederum bildet Dorners Beitrag zur zeitgenössischen Kenosislehre, wie sie insbesondere von G. Thomasius und W. F. Geß vertreten wurde (vgl. dazu 144-161). Dorner teilt mit den Vertretern der Kenosislehre das Interesse an der Wahrung der vollen Menschheit in der Einigung mit dem Logos. Allerdings läuft die Kenosislehre seiner Kritik zufolge auf eine mit Blick auf die Trinität und deren opera ad extra untragbare Depotenzierung des Logos während seiner Einigung mit dem Menschen Jesus hinaus. Dorner spricht deshalb von einer Beschränkung nur der Selbstmitteilung des Logos und entfaltet von daher den Gedanken einer werdenden ethischen Gottmenscheinheit in Jesus auf der Basis einer anfänglichen unio naturalis. Das dabei auftretende Problem der Doppelpersönlichkeit, wenn sowohl für den Logos als auch für den Menschen Jesus "Persönlichkeit" behauptet wird, führt Dorner dazu, den Personbegriff in der Trinitätslehre zugunsten der Rede von drei "Seinsweisen" der absoluten Persönlichkeit fallen zu lassen (vgl. 164-188).

Um zu erfahren, wie Dorner dasjenige meint einholen zu können, was er mit der Lehre vom Zentralindividuum aussagen will, nämlich die verwirklichte und vollendete Selbstmitteilung des Logos in der historischen Person Jesus, wodurch dieser zugleich als das Haupt der Menschheit verstanden werden kann, dazu bedarf es der Gotteslehre. Die damit angezeigte "Interdependenz zwischen Gotteslehre und Christologie" wird von K. in Grundzügen herausgearbeitet. Der zweite Teil der Arbeit (189-277) widmet sich von daher dem "System der Glaubenslehre", und hier zunächst dem Aufbau desselben. Sodann folgen im vorliegenden Text noch wenige, nach Inhalt und Form recht knappe Bemerkungen des Vf.s zur speziellen Dogmatik (251-277). In diesem Teil wird Elementares zitiert und dargestellt.

Daß Dorners Entfaltung einer werdenden Gottmenscheinheit in Jesus Christus der christologischen Debatte unseres Jh.s wichtige Denkanstöße zu geben vermag, ist K. zuzugeben. Er versucht diesen Nachweis durch eine - etwas gewollt erscheinende - Gegenüberstellung von E. Jüngels und Dorners Christologie (277-323). Sie dient im Kern dazu, Jüngels Gedanken von der Anhypostasie der Menschheit Jesu Dorners Interesse an einer ethischen, durch Selbstbestimmung hindurchgehenden Gottmenscheinheit gegenüberzustellen und Jüngel anzuempfehlen. Indes, K. will mehr als nur die christologische Konzeption Dorners im Zusammenhang seiner Theologie verstehen. Er will - wie der Titel der Arbeit anzeigt - den "wissenschaftlichen Standpunkt" der Theologie Dorners bestimmen. Worauf zielt diese Aufgabenstellung? Das zu bestimmen, ist angesichts der Lektüre des Buches nicht ganz einfach. K. jedenfalls stuft Dorners Theologie als "nichtpositionell" (1-20; 327-339) verfaßte ein. Dafür geht er knapp auf D. Rösslers (1-20) und F. Wagners Erörterungen zum Begriff positionell bzw. nichtpositionell verfaßter Theologie ein. Er sieht "eine nichtpositionelle Theologie (als) die Leistung der theologischen Epoche nach dem Tode Hegels und dem Erscheinen des "Leben Jesu" von D. F. Strauß (5, vgl. 327). Das ist ein wuchtiges Urteil und als theologiegeschichtliche Deutekategorie gar einer ganzen Epoche der Theologie vom Vf. durch seine Arbeit nicht eingeholt. Ähnliches ist zu bedenken bei seinem Versuch, das Stichwort "Vermittlungstheologie" inhaltlich durch das Programm einer nichtpositionell verfaßten Theologie zu füllen. Abgesehen von der Angemessenheit dieser inhaltlichen Zuschreibung ist festzustellen, daß der Vf. die "Vermittlungstheologie" - wenn man die gängige theologiegeschichtliche Klassifizierung übernehmen will, wie dies der Vf. tut - in ihrer Breite gar nicht weiter im Blick hat.

Es geht ihm um Dorners "nichtpositionell" verfaßten wissenschaftlichen Standpunkt, in welchem die "Aufhebung" von positioneller (gleich konfessioneller) und kritischer Theologie (gleich liberaler) erfolgt (vgl. 5), für welche Aufhebung dem Vf. Dorners Theologie als "die einzige Möglichkeit" (12) gilt. Um dieses Urteil nachvollziehen zu können, ist zu hören, was der Vf. unter einer "genetischen Konstitution eines nichtpositionellen Standpunkts" versteht: "Nur wenn es gelingt, einen Standpunkt nichtpositioneller Theologie, dessen Konstitution als Kriterium seiner Explikation in Anspruch genommen werden kann und somit nicht unmittelbar mit ihr identisch ist, als Aufhebung des Standpunkts nichtpositioneller Theologie, bei dem Konstitution und Explikation identisch sind, zu konstituieren, kann der Vorwurf der positionellen Verfaßtheit als entkräftet gelten" (12).

Wir teilen mit, was der Vf. zum Nachweis dieses Anspruchs faktisch bearbeitet. Er geht der Bedeutung von Dorners dogmenhistorischer und theologiegeschichtlicher Grundlegung für die Konzeption seiner eigenen Christologie nach. Er behandelt in Grundzügen die Pisteologie und Gotteslehre und zwar, so wird man urteilen müssen, eher jeweils für sich als in ihrem Zusammenhang. Dabei müßte es ihm von seinem Interesse an der "genetischen Konstitution des theologischen Standpunkts" her gerade um die Frage nach dem Umschlag von der Pisteologie zur Gotteslehre und umgekehrt nach der Bestimmtheit der Gotteslehre in ihrer Funktion für den Glauben zu tun sein (vgl. dazu Axt-Piscalar). Diesbezüglich wäre wiederum Dorners Interesse an der grundlegenden Bezogenheit des Glaubens auf ein ihm objektiv Vorgegebenes stärker zu würdigen und so der Vorwurf der "Immanenz" (Koppehl 334 im Anschluß an Barths "Synthese"-Vorwurf) zu korrigieren. Der Vf. hat schließlich den Aufbau der Gotteslehre behandelt, die im ethischen Gottesbegriff gipfelt, der wiederum dem "System" in seiner Durchführung als Konstruktionsprinzip zugrundeliegt, wofür K. einige Beispiele gibt. Dieses sieht er als die "genetische Konstitution" von Dorners wissenschaftlichem Standpunkt an. Ihn als "nichtpositionell" verfaßten zu bezeichnen und damit einen Begriff aufzunehmen, um ihn sogleich umzuprägen (s. o.), schafft bei der Lektüre m. E. mehr Verwirrung als Klarsicht.

Gleichwohl wird hier etwas Richtiges anvisiert - wenn ich den Vf. richtig verstanden habe -: Die Art und Weise nämlich, wie Dorner seinen theologischem "Standpunkt" aufbaut. Dies führt durchaus in das Zentrum Dornerschen Denkens, das zum einen um die Frage kreist, wie sich Glaube und Glaubenslehre zueinander und dazu wiederum Gott und Gotteslehre verhalten; und das zum andern der Frage nachgeht, wie das Verhältnis vom Ursprung des Dogmas (Jesus Christus) zu seiner Deutung in der Dogmengeschichte zu sehen und wie von daher der eigene theologiegeschichtliche und dann theologische "Standpunkt" zu markieren ist. Das sei festgehalten, auch wenn die diesbezügliche Durchführung ebenso wie die begriffliche Präzision an Klarheit durchaus noch hätte gewinnen können.