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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

439–441

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Roth, Ulli

Titel/Untertitel:

Gnadenlehre.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 274 S. = Gegenwärtig Glauben Denken – Systematische Theologie, 8. Kart. EUR 38,90. ISBN 978-3-506-77647-1.

Rezensent:

Stefan Dienstbeck

Dogmatische Fachbegriffe klingen für heutige Ohren zumeist fremdartig. Termini wie Sünde, Glaube, Rechtfertigung oder gar Gott haben ihr ursprüngliches Verständnispotential völlig eingebüßt – oder bedürfen zumindest der theologischen Erklärung. Diese neu auf den Weg zu bringen, schickt sich die auf elf Bücher ausgelegte Reihe »Gegenwärtig Glauben Denken« an, aus der auch der Band des katholischen Freiburger Theologen Ulli Roth zur Gnadenlehre stammt. Ziel der gesamten Reihe wie auch des hier besprochenen Einzelwerks bildet die auf Basis der klassischen dogmatischen Topoi entwickelte Darstellung bestimmter theologischer Fachbegriffe in ökumenischer Weite. Dabei soll jedoch nicht stehengeblieben werden; vielmehr soll die Aufbereitung des dogmatischen Stoffes mit einer Interpretation verbunden werden, die das Verständnis auch in der Gegenwart in Gang setzt (9). Projiziert ist mithin nicht eine »Ideengeschichte«, sondern R. möchte zu dem »vollen Verständnis dessen« gelangen, »was Gnade heute meinen will« (18). Die Adressaten dieses Konzepts stellen Studierende der Theologie sowie Theologen in der Praxis und interessierte Laien dar (9). Für Letztgenannte dürfte allerdings das Sprachniveau zu an­spruchsvoll geraten sein.
Der sehr hoch gesetzte Anspruch von Reihe und Band, problematische theologische Begriffe einer Gegenwartsdeutung zuzuführen, diese mit einer eigenen Profilgebung zu verbinden und dazu ein breites Leserpublikum anzusprechen, soll mit Hilfe einer Methodik erreicht werden, die der geschichtlichen Entwicklung entgegenläuft: Als Besonderheit nehmen nämlich alle Bände der Reihe ihren Ausgangspunkt nicht bei den biblischen Schriften, sondern fassen diese im Gegenteil als das Ziel der Darstellung ins Auge. Im Falle der Gnade setzt R. Geben bzw. Gegebensein als den Kontext an, innerhalb dessen der Gnadenbegriff erörtert wird. In seinem der historischen Bewegung entgegenlaufenden Vorgehen behandelt R. kapitelweise Postmoderne, Moderne, Neuzeit und Reformation sowie Antike und Mittelalter, bevor die biblischen Schriften Alten und Neuen Testaments in einem zweiten Buchteil Beachtung finden. Dabei werden stets zunächst in einem Abschnitt A philosophische und in Abschnitt B theologische Denker dargestellt. Dies erfolgt anhand exemplarisch ausgewählter Vertreter einer Epoche. Welche Kriterien für die Auswahl der besprochenen Philosophen und Theologen angesetzt werden, wird nicht immer offengelegt. Der Gelehrsamkeit, mit welcher die Gedankengebäude der Beispielsgestalten in Anschauung gebracht werden, tut dies jedoch keinen Abbruch. Die Feingliederung der Hauptkapitel wird anhand der Modalkategorien Kants (Unmöglichkeit, Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit), diejenige innerhalb von Abschnitten anhand seiner Qualitätskategorien (Affirmation, Negation, Limitation) vorgenommen (18 f.). Ergänzt wird dieses Prozedere bisweilen durch die aristotelischen Handlungsarten (Theoria, Praxis, Poiesis) als weitere Untergliederungsinstanzen. Mit diesem Strukturmerkmal gelingt es R., eine einheitliche Herangehensweise zu etablieren, auf die er auch immer wieder zurückgreift, ohne sich sklavisch an sie zu binden.
Einleitend setzt sich R. kurz mit der Problematik des Gnadenbegriffs in der Gegenwart auseinander, um daraufhin gleich in den materialen Part des Werkes einzusteigen. Die Postmoderne (Kapitel I) kommt gemäß dem Gliederungsschema unter dem Motto der »Unmöglichkeit der Gabe« zu stehen. Kennzeichnend ist die allgegenwärtige Entgrenzung. M. Foucault, J. Derrida und J.-L. Marion dienen als philosophische Gewährsmänner für diese Epoche, wohingegen die Theologie bzw. die Dogmatik nach R.s Urteil noch keine Antwort auf die »nicht mehr in einer Synthese zu vereinende Polyphonie der Ansätze« (45) gefunden hat. Im Gegensatz zur Postmoderne kennt die Moderne (Kapitel II) die Möglichkeit einer Gabe – allerdings ist sie durch das Moment der Entfremdung verstellt. Bei K. Marx kommt dies im Hinblick auf die materielle Produktion von Werten, bei F. Nietzsche unter dem »moralisch-praktische[n] Setzen von Werten« und bei M. Heidegger als »Gewähren von Anwesenheit schon in der Form des Denkens« in Ansicht (66). Allen Varianten west jedoch die Produktivität des Individuums an. Dem korrespondiert in der Theologie, dass die Souveränität und Vorgängigkeit Gottes als Ermöglichungsgrund der Gabe gedacht wird, was die Ansätze von H. de Lubac, K. Rahner, L. Boff, K. Barth und M. J. Scheeben vereint. Vermittels Welt oder Gott vorgegebene Wirklichkeit, auf der aufbauend der Mensch als Handlungssubjekt in den Blick kommt, bildet daher die Grundlage modernen Denkens.
Freiheit ist das Signum der Neuzeit (Kapitel III). Die Ansätze von G. W. F. Hegel, J. G. Fichte, I. Kant und G. W. Leibniz bringen die Externität von Gnade je auf ihre Weise mit der Freiheit des Einzelnen zusammen. Theologisch reflektiert sich die Thematik unter Schleiermachers Subjektivitätstheologie und der Frage um die Rechtfertigung in der Auseinandersetzung zwischen Luther und Rom. In der Antike und im Mittelalter (Kapitel IV) ergibt sich das Phänomen der Gabe aus der Relation von Einheit und Vielheit. Die Vorgegebenheit des Einen wird in den philosophischen Ansätzen Plotins, der Gnosis und der hellenistischen Denker ansichtig. Genau wie die Theologen, von denen Thomas und Augustinus ausführlich behandelt werden, verstehen sie das Gegebensein des Seins bzw. des Geschaffenen als Geschenk. Gnadenvolles Geben von Seiten der absoluten Instanz wird damit zum heilsnotwendigen Kriterium.
Der zweite Teil des Werkes, der etwa ein Viertel des Bandes umfasst, widmet sich den biblischen Schriften. Dabei erscheint das Alte Testament als Zeugnis von dem Gott, der nicht nur gnädig, sondern der wesenhaft die Gnade ist. Zur Äußerung kommt dieses Wesen in Gottes Beständigkeit (203), dem Bundesgedanken (204), der Langmut Gottes (206) und seiner Barmherzigkeit (209). Zorn und Liebe Gottes sind alttestamentlich in Einheit zu denken (212). Das Neue Testament vertieft und bestätigt die Botschaft vom gnädigen Gott (215). Die nachpaulinische Literatur betont die in Jesus Christus konzentrierte Gnadenmitteilung Gottes als allumfassendes Geschehen (216), das sich in der Kirche konkretisiert (220 f.). Paulus fasst die Gnade als Geschenk und überwindet durch das In-Christo-Sein die Sündenverhaftetheit des Menschen (228–233). Die Evangelien schließlich begreifen die Proexistenz Christi als Fülle der Gnade (244), die auf das Reich Gottes verweist. Pneumatologisch lässt sich die Gabe dann als Hingabe denken (260).
Ergänzt wird der Band um ein Sach- sowie ein Personenregister, beide knapp, aber sinnvoll. Die Bibliographie ist übersichtlich und von katholischer Verfasserschaft dominiert. Insgesamt gelingt R. der angestrebte Spagat eines ökumenisch ausgewogenen Zugangs zur Gnadenlehre. Eigene Impulse sind nur spärlich zu verzeichnen, doch die lehrbuchhafte Aufbereitung weiß zu überzeugen. Als Einstieg in die Selbstreflexion zum Gnadenthema bietet sich der Band hervorragend an.