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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

767 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dinger, Jörg

Titel/Untertitel:

Auslegung, Aktualisierung und Vereinnahmung. Das Spektrum der deutschsprachigen Bonhoeffer-Interpretation in den 50er Jahren.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1998. XIV, 303 S. 8 = Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie, 21. Kart. DM 88,-. ISBN 3-7887-1628-2.

Rezensent:

Wolf Krötke

Dietrich Bonhoeffers Werk und Leben haben die Theologie und die Kirche innerhalb und außerhalb Deutschlands seit den 50er Jahren in zunehmender Breite beschäftigt. Die Zahl der Veröffentlichungen zu Bonhoeffers theologischen Einsichten und zur Bedeutung seines Lebensweges für Kirche, Theologie und Gesellschaft ist in der Gefahr, unübersehbar zu werden. Die neue, von E. Feil herausgegebene "Internationale Bibliographie zu Dietrich Bonhoeffer" (Gütersloh 1998) zählt 3907 wissenschaftliche Titel. Hinzu kommen Beiträge in Zeitungen, Wochenzeitschriften und anderen kirchlichen und außerkirchlichen Texten. Angesichts dessen ist die Frage sicherlich am Platze, worin eigentlich der klare Erkenntnisgewinn dieser extensiven Beschäftigung mit Bonhoeffer besteht. - Die vorliegende, für den Druck überarbeitete Heidelberger Dissertation von 1992 versucht darauf für die Anfangszeit der Bonhoeffer-Rezeption im deutschsprachigen Raum eine Antwort zu geben. Sie hat ein theologiehistorisches und ein problemorientiertes Profil. Die ersten drei Kapitel (12-118) schildern die Entwicklung der Bonhoeffer-Rezeption von 1951-1955. Das vierte und fünfte Kapitel beschäftigen sich mit den Bonhoeffer-Deutungen Gerhard Ebelings und Hanfried Müllers (118-209). Die Schlußkapitel gelten zwei Sachproblemen, nämlich der politischen Ethik und der Frage der "Religionslosigkeit" (210-272).

Das Ergebnis dieser Durchmusterung des ersten Jahrzehnts der Bonhoeffer-Interpretation ist nicht überraschend. Im Mittelpunkt des Interesses standen die Themen von "Widerstand und Ergebung" (WE), die dann auch alsbald kritisch diskutiert wurden. Karl Barths Bezugnahmen auf den "frühen" Bonhoeffer stellen eher eine Ausnahme dar. Der "Begeisterung" der ersten Reaktionen auf die Veröffentlichung von WE steht freilich von Anfang an auch eine "Ratlosigkeit" darüber zur Seite (vgl. 12 ff.), was Bonhoeffer denn nun genau gemeint habe und ob seine Urteile über das Ende der Religion denn zutreffen. Der Vf. zeigt auf, wie sich das im Kontext der Barth-Bultmann-Debatte (vgl. 29-76), ja sogar auf der Ebene von Examensarbeiten und auf Tagungen (vgl. 98-118) dargestellt hat. G. Ebelings Bonhoeffer-Aufsatz aus dem Jahre 1955 erscheint in dieser Situation des Suchens als wesentlicher Beitrag. Der Vf. kritisiert jedoch das Verständnis des Problems der nichtreligiösen Interpretation als Sprachproblem, das mit Hilfe der Lehre von Gesetz und Evangelium anzugehen ist (vgl. 165 f.). Er stellt ihr seine eigene, von der "Ethik" her gewonnene Interpretation entgegen: Da "die Weltwirklichkeit von Christus umschlossen ist", kann es ein "gelingendes weltliches Handeln auch ohne bewußten Glauben" geben (165). Diese inkarnationstheologisch ausgerichtete Deutung wird im nachklappenden letzten Kapitel der Arbeit weiter ausgeführt und dort als Ermöglichung der "Durchbrechung des apologetischen Denkschemas" verstanden (271). Sie hat auch einiges für sich. Freilich sollte nicht verschleiert werden, daß die Frage nach der nichtreligiösen Interpretation biblischer Begriffe (!) auch ein Sprachproblem impliziert, das nicht fallen gelassen werden darf.

Neben der Bonhoeffer-Interpretation Ebelings würdigt der Vf. H. Müllers Bonhoeffer-Deutung (Von der Kirche zur Welt, 1961) in hervorgehobener Weise. Müllers Behauptung war ja, daß Bonhoeffer zur Anerkennung der "allein wahren Weltanschauung" der Marxismus-Leninismus inclusive des Atheismus "befreie", so daß man zugleich an Christus glauben und Atheist sein könne. Der Vf. führt mit dieser Lesart Bonhoeffers noch einmal ein quälend ausführliches Gespräch (vgl. 167-209), so als hätte es das Desaster dieser Weltanschauung nicht gegeben. Er räumt auch ein, daß die, welche die angeblich allein wahre Weltanschauung nicht bejahen, Müllers Deutung "letztlich für verfehlt halten müssen" (209). Im Unterschied zu den Bezugnahmen der DDR-CDU auf Bonhoeffer handle es sich hier aber (wie bei Ebeling) nicht um eine "illegitime Vereinnahmung" Bonhoeffers, sondern um eine "eher ... einseitige Auslegung" (279).

Das ist zu bestreiten. Der Vf. hätte sich - wo er doch sonst auf ziemlich entlegene Quellen zurückgreift - über die Hintergründe und Konsequenzen der Veröffentlichung des Buches von Müller, die ja längst dokumentiert sind (!), kundig machen sollen. Es hätte dann deutlich werden können, welche Rolle diese Bonhoeffer-Deutung für die Unterdrückung der Freiheit der Theologie gehabt hat, wie sie zur Rechtfertigung purer Machtpolitik und erschreckender Denunziationen dienen konnte. Was die "allein wahre Weltanschauung" in concreto ist, die von der Theologie her ins Recht gesetzt wird, darf darum auf keinen Fall noch nachträglich verharmlost werden! Daß A. Schönherrs an Bonhoeffer orientiertes Bemühen um ein glaubwürdiges Kirchesein unter den Bedingungen des sozialistischen Staates nicht mit dem für die Kirche verheerenden Programm Müllers verwechselt werden darf, bringt der Vf. jedoch richtig zur Darstellung (vgl. 211-224). Man sollte aber die Frage der christlichen Existenz in der DDR nicht primär als eine Frage der "politischen Ethik", sondern des christlichen Selbstverständnisses erörtern.

Was Bonhoeffers Ethik selbst betrifft, so wird zutreffend herausgearbeitet, daß seine material-ethischen Positionen kein den Themen von WE vergleichbares Interesse fanden (vgl. 253-256). Mit Ausnahme der Diskussionsansätze um das Widerstandsrecht und um die im Sinne von Institutionen interpretierten Mandate (vgl. 224-253) interessierte die Ethik in jenem Zeitraum vor allem in Hinblick auf theologische Weichenstellungen für die Theologie von WE.

Zusammenfassend hält der Vf. fest, daß das, was in den 50er Jahren zu Bonhoeffer erarbeitet wurde, heute "keine große Rolle" mehr spielt (278). Eine intensive Weiterarbeit sei nur in der Frage des Zusammenhangs von "Theologie und Biographie" zu erkennen (vgl. 277). Das ist sicherlich keine verkehrte Beobachtung, wenn man auf die Namen der Interpreten, auf einzelne Interpretationsmuster oder auf die DDR-bezogene Bonhoeffer-Deutung blickt. Das Urteil, "die Nachwirkung der Bonhoeffer-Interpretation der 50er Jahre" sei "eher schwach gewesen" (279), bedarf jedoch der Differenzierung. Denn in jener Zeit sind vor allem in Hinblick auf das Phänomen der Religionslosigkeit Fragen gestellt worden, die sich dem theologischen Bewußtsein der zweiten Hälfte des 20. Jh.s als wesentlich eingeprägt haben. Daß sie bis heute keine abschließenden Antworten gefunden haben, spricht nicht zu ihren Ungunsten. Der Vf. unterstreicht das ja auch selbst, indem er sich immer wieder in das Gespräch der 50er Jahre einschaltet und nach Grenzen und Möglichkeiten der verschiedenen Bonhoeffer-Auslegungen fragt. Gerade darum wäre eine deutlichere Bewertung dieser Rezeptionsgeschichte im Ganzen für die Aufgaben des Umgangs mit Bonhoeffers Theologie heute wünschenswert gewesen.