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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

435–437

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Berkenkopf, Christian

Titel/Untertitel:

Sünde als ethisches Dispositiv. Über die biblische Grundlegung des Sündenbegriffs.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013. 232 S. m. 8 Abb. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-77295-4.

Rezensent:

Christof Gestrich

Die wissenschaftliche Absicht dieser Arbeit, einer von Christof Breitsameter an der Katholisch-Theologischen-Fakultät der Ruhr-Universität Bochum betreuten Dissertation, kann nicht mit wenigen Worten umrissen werden. Christian Berkenkopf gibt zu bedenken, die biblischen Grundlagen des Sündenbegriffs seien eigentlich längst erforscht, und was christliche Theologie, auch in ethischer Hinsicht, über »Schuld« zu sagen hat, scheine mittlerweile ausdiskutiert. Der Vf. sucht demgegenüber neue hermeneutische Zugänge zu diesem Themenkreis, die dessen künftiger Bearbeitung neue Sprachkraft verleihen könnten. Er will über »drei Vorwürfe« hinauskommen, nämlich: das Reden von der Sünde hefte sich inzwischen an Banalitäten; es werde, zweitens, heute auch in der Kirche gemieden (und in der säkularen Gesellschaft durch das Wort »Schuld« ersetzt); und schließlich sei »Sünde« theologisch so sehr »dogmatisiert« worden, dass die vielfältigen biblischen Aspekte des Redens von der Sünde nicht mehr ausreichend zur Geltung gelangen ( theologische »Schriftvergessenheit«). Auch für die traditionelle katholische Moraltheologie wurde inzwischen durch Eberhard Schockenhoff beklagend festgestellt, dass in ihren herkömmlichen Aussagen (zur Fehlbarkeit des Menschen) der Bibel und ihrer differenzierenden Ausdrucksweise eher nur eine »ornamentale Funktion« zugekommen sei.
Mit Hilfe der von dem französischen Philosophen Michel Foucault (1926–1984) entwickelten Kategorie des Dispositivs, die den Blick von vornherein auf die sozialen »Kräftespiele« lenkt, sucht der Vf. neue Aufschlüsse zu gewinnen, die dann auch jene »drei Vorwürfe« entkräften könnten. Zugleich versucht seine bemerkenswerte Arbeit eine neue methodische Grundlegung des Verhältnisses zwischen Bibel-Exegese und Moraltheologie bzw. Ethik, die von Haus aus eine unterschiedliche Arbeitsweise haben.
Ein Dispositiv ist zunächst ein Durcheinander von Sachverhalten – von Erfahrungen, Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, autoritativen Entscheidungen, Wissensverhältnissen, Machtverhältnissen, sexuellen Phänomenen, religiösen oder philosophischen Lehrsätzen, Brauchtümern, Rechtsordnungen usw. –, die zur Disposition stehen. Sodann ist »Dispositiv« Sammelbegriff für noch nicht geordnete Einzelheiten, die, untereinander vernetzt, auf das gesellschaftliche Leben einwirken. Es können in dieser dispositionalen »Sammlung« diskursive und auch nicht diskursive Elemente untereinander in Beziehung treten. Ebendies ist auch der Fall bei den Verknüpfungen zwischen narrativen bibli schen Befunden und ethischen Begriffsbildungen. Solche Beziehungen gibt es sogar schon in der Bibel selbst in ihrer viele Jahrhunderte umfassenden Genese: Immer wieder treffen dort neue Primärerfahrungen von »Sündigen« auf bereits auf den Begriff gebrachte Lebenserfahrungen, wodurch hermeneutisch komplizierte Sprachprozesse ablaufen. Der Vf. versteht den »Sündenbegriff« der Bibel insgesamt als ein Netz, das derartige Verknüpfungen aufweist und fragen lässt: »Wer spricht in der Bibel wann, wie, aus welchem Grund und mit welcher Absicht von der Sünde? Wer legt fest, was als Sünde gilt und was nicht?« Von Foucault angeregt, wird so die Bibel immer wieder als zeitbedingter »Spiegel der Gesellschaft« wahrgenommen, zu dessen Nachzeichnung man sich heute z. B. auch der Mithilfe der Archäologie bedient (15 f.).
Zunächst stellt der Vf. in traditioneller Weise (und hier kaum Neues bietend) die weitgespannte semantische Bedeutung biblischer Rede von der Sünde entlang den hebräischen Termini ruach, päscha, awon und dem altgriechischen Wort hamartia vor Augen. Er zielt auf die jeweiligen Wortfelder (wie es fürs Alte Testament auch schon Rolf Knierim 1965 tat). Er geht auch auf religionsgeschichtliche Zusammenhänge ein und reproduziert hier – etwas unvollständig, so wie eben auf 60 Seiten möglich – den exegetischen Forschungsstand (im neutestamentlichen Teil fehlen hier z. B. die für die Fragestellung des Vf.s nicht unwichtigen Untersuchungen von Cilliers Breytenbach über Versöhnung und Sühne).
In einem nächsten Kapitel wird dann der Konnex zwischen »Sünde, Geschichte und Gesellschaft« untersucht. Hier wird eingegangen auf die »rationalen Elemente« im mythischen Denken, das sich oft in der Bibel findet. Der Mythos suche eine Klärung gegenwärtiger geschichtlicher Phänomene im Fokus eines Stücks Zeit »außerhalb der Zeit«; er lebe in den Formen von »Wiederholung« und »Vergegenwärtigung« (91 f.). In diesen Horizont lässt sich dann die »Grundannahme in den drei abrahamitischen Religionen« einfügen, »dass der Mensch von Beginn der Existenz an sündig ist« (99) und dabei zugleich die göttliche und die soziale Ordnung in Frage stellt bzw. sich »vereinzelt«. Doch wird dies dann neutestamentlich (in der Lehre des Apostels Paulus) so aufgenommen: »Wenn Sünde die Störung eines Gemeinschaftsverhältnisses bezeichnet und diese Sünde in Jesus Christus als überwunden geglaubt wird, dann ist damit auch die Möglichkeit einer neuen Beziehung, eines neuen Gemeinschaftsverhältnisses in den Blick genommen.« (104) Die zentrale These des Vf.s ist: Die Sündenkategorie ist der Schuldkategorie überlegen, sie hat einen »Mehrwert« ihr gegenüber, weil sie immer auch dieses Erneuerungspotential in sich birgt. Vom biblischen Gesamtverständnis der Sünde her fällt, dem Vf. zufolge, zudem Licht auf das unlösbar scheinende Problem, wie »Schuld« denn überhaupt »zurechenbar« wird im Geflecht von Einzelperson und Kollektiv. Eine gewisse Klärung bietet die in der Bibel (und auch anderswo) begegnende Sicht des Menschen als dyadischer Persönlichkeit, die sich »ein Bild von sich macht aufgrund dessen, was andere in ihr sehen« (126 f.). Bernd Janowski spricht hier, auf Jan Assmanns Erwägungen zur Konnektivität eingehend, auch von einem konstellativen Personenbegriff (129 ff.), der schon im alttestamentlichen Reden vom »Herzen« des Menschen als dem Um­schlagsplatz von Eigenpersönlichem und von außen Kommendem angelegt ist. Der Mensch ist hiernach »einesteils« immer auch schon »Gemeinschaft« (und daher ist deren Schuld auch wirklich seine).
Weiterhin geht der Vf. ein auf die altägyptische Ma’at und das ihr zugeordnete konstellative Personen- bzw. Seelenverständnis, das ethisch dazu auffordert, im Diesseits gemäß der Gemeinschaftsordnung zu leben, »um auch im Jenseits nicht isoliert zu sein« (132 ff.). In ähnlicher Weise stehe der biblisch verstandene Mensch unter dem Imperativ, im Leben zu seinem eigenen Heil die dyadischen Aspekte seiner Person untereinander zur Einheit zu bringen (bzw. keine Selbstentzweiung zu betreiben). Durch den Indikativ des bereits Erlöstseins im Glauben an das Evangelium sollte Letzteres, so nimmt der Vf. wohl an, leichter fallen.
Alle diese Fragen werden noch einmal neu umkreist in einer abschließenden Untersuchung, inwiefern Sünde einen Aspekt von Moral und Recht darstellt, wobei der Vf. hier von Niklas Luhmanns soziologisch-philosophischen Begriffsfeldern besonders inspiriert wird. Es werden jetzt noch einmal alttestamentliche Texte (das Bundesbuch Ex 20–22, das Heiligkeitsgesetz Lev 17–26 und die Rein-Unrein-Tora Lev 1–15) in den Blick genommen bezüglich der Frage, wie hier Recht, Moral und Sünde interagieren. Sünde wird als Störung des gemeinschaftlichen Wohlbefindens wahrgenommen. Zu fragen ist nun aber, wie das gemeinschaftliche Wohlbefinden überhaupt definiert ist, ob zu ihm beispielsweise das gute Leben und die Nichtausgrenzung von Sklaven und Fremdlingen mit dazu gehört. Sünde ist eben – das soll hier gezeigt werden – nicht einfach »Gemeinschaftsstörung« oder »Vereinzelung« schlechthin, sondern eine ganz bestimmte, im Volk Israel und seiner Religion sich herausdifferenzierende destruktive Verhaltensweise. Dies zeigt der Vf. u. a. in einem kurzen, aber sehr weit ge­spannten Exkurs über die sich oft verändernde, aber schließlich auch sich festigende »Gesellschaft und Geschichte Israels« (161 ff.) und einem weiteren Exkurs zur »Unreinheit« in ihrer kultischen, sexuellen und diätischen Dimension (193 ff.).
Den Überblick über Israels Geschichte beginnt der Vf. schon in der »Eisenzeit« und dem damals zunehmenden Zusammenbruch der kanaanäischen Kultur. Im Gebiet des späteren Israel findet sich etwa seit 1200 v. Chr. ein anderswo so nicht nachgewiesenes Vierzonen-Familienwohnhaus. Die Raumeinteilung lässt spezifische Vorstellungen von rein und unrein, Ordnung und Unordnung bzw. Sünde erkennen. Somit gehören diese archäologisch in den Blick gekommenen Häuser mit in das hier zu untersuchende »ethische Dispositiv«.
Welches ist nun der Gesamtertrag dieser »vieles bringenden« Untersuchung? Der Vf. sucht ihn gegen Ende der Arbeit in mehreren Anläufen einzusammeln. Er meint, dass die Auffassung erhärtet wurde, Sünde sei in der Bibel primär charakterisiert als Verletzung bestehender Gemeinschaftsordnungen – und nicht etwa als ein Individualverstoß gegen das Gebieten Gottes im persönlichen Gewissen. So wie Israels ausdifferenziertes Sündenverständnis in­haltlich geprägt ist, könne es auch heute noch in der »Heuristik der Rechtsfindung« weiterhelfen bzw. orientieren. Es eigne sich auch als Korrektiv »bisheriger Rechtspraxis« (211). – Vor allem aber ist diese Arbeit ein Beitrag zur Reduzierung der methodischen Probleme des christlichen Redens von der Sünde im Überschneidungsfeld von Kirche und säkularisierter moderner Gesellschaft und von Bibelexegese und Ethik.