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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

429–431

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

Titel/Untertitel:

Frühe Schriften II. Bearb. v. F. Nicolin (†), I. Rill u. P. Kriegel. Hrsg. v. W. Jaeschke.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2014. VIII, 714 S. = Gesammelte Werke, 2. Lw. EUR 478,00. ISBN 978-3-7873-0901-6.

Rezensent:

Christian Danz

Im Jahre 1907 publizierte Hermann Nohl aus dem Nachlass Hegels Berner und Frankfurter Manuskripte unter dem Titel Hegels theologische Jugendschriften (Tübingen). Sie machten der Forschung erstmals die gedankliche Entwicklung des ehemaligen Tübinger Theologiestudenten seit Abschluss seines Studiums im Jahre 1793 bis hin zu seiner Ankunft in Jena im Januar 1801 zugänglich. Mit dieser Edition stand der Erforschung seines Werkes – neben den einschlägigen Briefwechseln mit Schelling und Hölderlin – eine breitere Quellenbasis zur Verfügung. Sie zeigte Hegel in Auseinandersetzung mit der Kantischen Religionsphilosophie auf dem Weg hin zu einer eigenen Konzeption, die er dann in den frühen Jenaer Jahren – zunächst in Zusammenarbeit mit Schelling und später in Auseinandersetzung mit ihm – ausführte. Die von Nohl edierten Manuskripte Volksreligion und Christentum, Das Leben Jesu, Die Positivität der christlichen Religion, Der Geist des Christentums und sein Schicksal und schließlich das Systemfragment von 1800 prägten bis ans Ende des 20. Jh.s nachhaltig das Bild des jungen Hegel. Die Edition erweckte den Anschein, als ob Hegel in Frankfurt vor al-lem mit religionsphilosophischen Publikationsprojekten be­schäftigt war und um 1800 an einem eigenen Systementwurf arbeitete. Allein, die Manuskripte haben nie in der Form existiert, wie sie Nohl zugänglich gemacht hat. So verdienstvoll seine Edition für das Verständnis von Hegels Werdegang auch war, so problematisch waren die von ihm zugrunde gelegten Editionsprinzipien. Sie wurden bei der Aufnahme der frühen Fragmente in die kritische Ausgabe der Gesammelten Werke des Philosophen gründlich revidiert.
Nachdem bereits 1989 der erste Teil der Frühen Schriften vorgelegt wurde, liegt nun der zweite Teilband vor. Er wurde federführend von Walter Jaeschke verantwortet, einem der besten Kenner von Hegels Werk und seiner Religionsphilosophie insbesondere. Die Edition des zweiten Bandes der Gesammelten Werke hat eine längere und komplizierte Vorgeschichte (vgl. 632). Begonnen wurde sie von Friedhelm Nicolin, fortgeführt von Ingo Rill und Peter Kriegel. Jaeschke hat seit 2011 die in den Band aufgenommenen Texte »nochmals vollständig überarbeitet«, »die Struktur des Bandes völlig umgestaltet«, den textkritischen Apparat »nach den Editionsprinzipien der Gesammelten Werke neu erstellt« und die Texte »neu datiert« sowie »zum Teil synoptisch« angeordnet (632). Herausgekommen ist dabei eine mustergültige Edition, welche einen neuen Blick auf den Werdegang des jungen Hegel im Kontext der zeitgenössischen Debattenlage zur Folge hat.
Der Band enthält 37 Manuskript-Fragmente aus Hegels Berner und Frankfurter Zeit in chronologischer Anordnung. Diese folgt der »Wasserzeichenanalyse« und nicht mehr wie noch in dem ersten Teilband der Frühen Schriften einer »Handschriftenanalyse« (631). Jene erlaube »eine sichere Datierung der Produktionszeit der von Hegel verwendeten Papiere« (ebd.). Die Edition setzt ein mit bereits in Bern verfassten Texten, welche in Frankfurt von Hegel überarbeitet wurden. Diese Texte mit den Nummern 40 bis 48, um 1796 bearbeitet (vgl. 633–638), erörtern Themenfelder aus dem Kontext von Glaube und Religion (5–13) sowie der Geschichte der israelitischen Religion (17–78). Durch den zum Teil synoptischen Abdruck der Fragmente Hegels führt die Edition dessen Arbeitsweise plastisch vor Augen. Die jeweiligen Blätter sind in der Mitte geteilt. Auf die rechte Blatthälfte hat er zunächst die Texte eingetragen und sie auf der linken überarbeitet. Es folgen Frankfurter Manuskripte mit den Nummern 49 bis 69. Auch bei diesen Texten lassen sich mehrere Bearbeitungsstufen erkennen. Die Komplexität des Bearbeitungsprozesses wird an dem Text mit der Nummer 65 ersichtlich, welcher sich mit dem Begriff der Positivität beschäftigt (351–367) und auf den 24. September 1800 datiert ist. Bei diesem Manuskript handelt es sich »im strengen Sinne nicht um ein ›Frankfurter Manuskript‹«, auch nicht »um ein ›Berner Manuskript mit Frankfurter Überarbeitungen‹, sondern um ein durch Berner Texte ergänztes Frankfurter Manuskript« (654). Die Frankfurter Skizzen Hegels gelten sehr unterschiedlichen Themen. Sie reichen von Texten zu Vereinigung und Liebe (83–97) über Fragmente zur Verfassung Württembergs (101–109), welche teilweise bereits von Rudolf Haym ediert wurden, Manuskripte zur christlichen (113–328) sowie jüdischen Religion (331–338), geometrische Studien (371–383), Schillers Wallenstein (387 f.) und ein Festgedicht für die Prinzessinnen von Hessen-Homburg (391–393). Sodann bietet die Edition als Text Nummer 70 Hegels Übersetzung Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pay de Vaud) zur Stadt Bern aus dem Jahre 1798 (397–581) und weitere Textmaterialien Hegels, welche sekundär überliefert sind (585–612), sowie einen Text, dessen Überlieferung ungesichert ist (615–617). Nach Nachrichten über Verschollenes (621 f.) folgt der Anhang (625–714) mit Siglenverzeichnis, editorischen Berichten zu den in den Band aufgenommenen Texten (631–667), Anmerkungen (669–701), Konkordanz (703), Bibelstellenverzeichnis (705–710) sowie dem Personenverzeichnis (711–714).
Hegels frühe Textentwürfe und Fragmente traktierten eine breite Themenpalette von religionstheoretischen bis hin zu staatsrechtlichen Fragen. Bei denjenigen Texten, welche sich mit reli-gionstheoretischen Fragen wie der israelitischen Religion oder dem frühen Christentum beschäftigen, fällt im Unterschied zu den Ausarbeitungen des jungen Schelling aus dessen Tübinger Zeit, die seit dem Jahre 2013 in der Historisch-kritischen Ausgabe von dessen Werken zugänglich sind, auf, dass sie weniger an dem hermeneu-tischen und exegetischen Diskurs der späten Aufklärungstheologie orientiert sind. Dieser Debattenkontext, der Hegel in Tübingen durch seine theologischen Lehrer vermittelt wurde, tritt in seinen Texten zurück. Sichtbar wird an Hegels Manuskripten der Versuch, Religion als ein Vereinigungsprinzip zu fassen, welches die Eigenart hat, dass es der Reflexion nicht zugänglich ist. In dem Text Nummer 49, der 1797 in Frankfurt entstand und später überarbeitet wurde, fasst er dieses Vereinigungsprinzip als Liebe. »Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen die an Macht sich gleich, und also durchaus füreinander lebendige, von keiner Seite gegeneinander todte sind statt; sie schließt alle Entgegensezung aus, sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das mannichfaltige immer als mannichfaltiges lassen und dessen Einheit selbst Entgegensezungen sind; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlechthin entgegensezt; sie ist nichts begränzendes, nichts begränztes, nichts endliches sie ist ein Gefühl« (84).
Dieser Vereinigungsgedanke wird in zahlreichen Textentwürfen in Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants variiert und religionstheoretisch bestimmt. Religion, so die Formulierung in dem Text Nummer 63, der um 1800 verfasst wurde, sei Erhebung des endlichen zum unendlichen Leben. Auch wenn Hegel in diesem Zusammenhang den Begriff des Geistes einführt, so ist dieser Begriff doch strikt von dem der Jenaer Systementwürfe zu unterscheiden. »Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen, im Gegensatz [zu] der abstrakten Vielheit, denn Geist ist die lebendige Einheit des Mannichfaltigen, im Gegensaz gegen dasselbe als seine Gestalt, die im Begriff des Lebens liegende Mannichfaltigkeit ausmacht, nicht im Gegensaz gegen dasselbe, als von ihm getrennte, todte blosse Vielheit; denn alsdenn wäre er die blosse Einheit, die Gesez heißt und ein bloß gedachtes, unlebendiges ist.« (343) Das Leben als Synthesis-Prinzip ist der Reflexion nicht zugänglich. Es hat seinen Ort jenseits der Reflexion. Deshalb muss die Philosophie »mit der Religion aufhören, weil jene ein Denken ist, also einen Gegensaz« hat (344). Aber auch das Jenseits der Reflexion ist noch für diese. Für eine konstruktive Bearbeitung des Problems der Reflexion stehen Hegel in seiner Frankfurter Zeit die begrifflichen Mittel noch nicht zur Verfügung. Er wird sie sich erst in Jena erarbeiten.
Mit dem zweiten Band der Gesammelten Werke Hegels liegt der Forschung eine hervorragende Edition von dessen Frankfurter Texten vor. Jaeschkes mustergültige Edition der Berliner Religionsphilosophie Hegels hatte bereits dazu geführt, dass man sich nur noch auf der Grundlage dieser Ausgabe mit ihr beschäftigen kann. Gleiches muss man nun auch für das Denken des jungen Frankfurter Philosophen sagen. Wer sich in Zukunft mit dem Werdegang des jungen Hegel beschäftigt, der kommt an der vorliegenden Edition nicht vorbei.