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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

426–428

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hrsg. v. H. Flashar, D. Bremer u. G. Rechenauer.

Titel/Untertitel:

Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begr. v. F. Ueberweg. Völlig neu bearb. Ausgabe. Hrsg. v. H. Holzhey. Die Philosophie der Antike. Bde. 1/1 u. 1/2: Frühgriechische Philosophie.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2013. LIX, 1061 S. m. Abb. u. Tab. Lw. EUR 301,00. ISBN 978-3-7965-2598-8.

Rezensent:

David Blank

Mit diesem zweiteiligen Band über die Anfänge der griechischen Philosophie wird die völlige Neubearbeitung des ersten Teils des Ueberwegschen Standardwerkes »Grundriss der Geschichte der Philosophie«, der die Philosophie der vorchristlichen Zeit unter Anschluss der Neuplatoniker und ihrer Vorgänger behandelte, jetzt komplett. In einer Revision von Ueberwegs ursprünglicher Organisation wird die Philosophie der Antike mit einem fünften Band über die Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike noch abzuschließen sein.
In Ueberwegs Erstausgabe (1863) nahm die »erste Periode« der griechischen Philosophie 27 Seiten in Anspruch. Diese sind jetzt auf über 1000 angewachsen, die in fünf Kapiteln die Hauptvertreter der Denkrichtungen behandeln, die schon seit dem 4. Jh. als für die Philosophie der Zeit bis Sokrates betrachtet wurden. Dem Band werden ein Vorwort zum Gesamtwerk und zur Entwicklung vom alten zum neuen »Ueberweg«, ein Vorwort der Herausgeber dieses Bands und der Nachdruck einer Einleitung in »Die Philosophie und ihre Geschichte« von H.-G. Gadamer vorausgeschickt, gefolgt von einem ersten Kapitel, das »übergreifende Themen« behandelt (1–234): Forschungsgeschichte und Darstellungsprinzipien (Dieter Bremer) und Allgemeine Bibliographie (Georg Rechenauer), Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen (Dieter Bremer), Frühgriechische Philosophie und Orient (Walter Burkert), Ausdrucksformen der frühgriechischen Philosophie (Andreas Patzer), Die doxographische Tradition (Leonid Zhmud), Biographie (Thomas Schirren und Georg Rechenauer), und Ikonographie (Nadia J. Koch). Die frühgriechischen Philosophen selbst werden in vier mit zusammenfassenden Titeln überschriebenen Kapiteln vorgestellt (235–946), und zwar: Ursprungsdenken und Weltmodelle (geteilt in Naturphilosophische Anfänge: Thales, Anaximander, Anaximenes [Niels Christian Dührsen] und Theologie und »Aufklärung«, Weisheit und Wissenschaft: Xenophanes [Thomas Schirren], Pythagoras und die Pythagoreer [Leonid Zhmud]); Seinsbestimmungen: Parmenides (Manfred Kraus), Zenon, Melissos (Christof Rapp); Einheit der Gegensätze: Heraklit (Dieter Bremer und Roman Dilcher), Kratylos und die Herakliteer (Dieter Bremer); Einheit und Vielheit: Empedokles (Oliver Primavesi), Anaxagoras, Archelaos aus Athen, Diogenes aus Apollonia, Leukipp und Demokrit (Georg Rechenauer). Abgeschlossen wird der Band mit dem Übergang (947–970) von den frühen Philosophen zu den Sophisten (Dieter Bremer). Die Gruppierungen der einzelnen Figuren hier sind herkömmlich und sinnvoll, obwohl die Titel, die das Denken jeder Gruppe charakterisieren sollen, die Interpretation dieser vielfältigen Denker vielleicht allzu sehr vorwegnehmen und vereinfachen.
Die an den Anfang gestellten allgemeinen Themen sind wich-tig und im Allgemeinen nützlich zur Orientierung des Lesers. Die Auffassung der Geschichte der Philosophie, die dem Band und seiner Abgrenzung der zu behandelnden Persönlichkeiten zugrunde liegt, beruft sich hauptsächlich auf Aristoteles und Hegel. Allerdings wird auch »das Innewerden der Andersheit der Griechen« (Gadamer) hervorgehoben sowie, dass »die Kriterien für die ›Richtigkeit‹ einer Auslegung« aus »philologisch-hermeneutischen Me­thoden« entstehen, die »von einer Diskussion über den Wahrheitsgehalt möglicher philosophischer Implikationen weitgehend un­abhängig« sind (22).
Die einzelnen Philosophen werden nach einem gemeinsamen Muster behandelt: Überlieferung und Forschungsstand, Werk, Lehre, Wirkungsgeschichte, wobei jeder Autor die Prioritäten etwas anders setzt. Dies gilt besonders bei der Wirkungsgeschichte, die in einigen Fällen (z. B. Heraklit) bis in die Neuzeit hineinreicht, in anderen sich auf die Antike konzentriert (z. B. Xenophanes).
Von einem neuen, großangelegten Grundriss der frühgriechischen Philosophie kann man auf Neues besonders durch neuaufgefundene Fragmente und durch eine bessere Kenntnis der Quellentexte und deren Autoren hoffen. Ersteres ist hier besonders durch den Straßburger Empedokles-Papyrus und Primavesis Interpretation des Philosophen vertreten. Letzteres aber kommt in diesem Band etwas zu kurz.
Besondere Aufmerksamkeit ist in letzter Zeit der Doxographie zugekommen; dies betrifft besonders die Doxographie im engeren Sinne, wie sie von Diels auf Theophrast zurückgeführt wurde. Im betreffenden Kapitel sieht Zhmud die Doxographie als »eine historiographische Gattung« an (159), deren Wurzeln er schon an einigen Tendenzen der »dialektischen« Anführung der Meinungen »der Weisen und der vielen« durch Aristoteles identifiziert. Demgegenüber meinen Mansfeld und Runia (u. a.), die dialektische Me­thode, die auf der aristotelischen Topik fußt, sei für die Doxographie charakteristisch, wobei Theophrasts Physicae Opiniones als Fundgrube dialektischer Argumente dienen sollten.
Die Auffassung Zhmuds, Theophrast habe ein »historisches« Werk verfasst, wobei er sich lediglich auf eine vermeintliche chronologische Reihenfolge der behandelten Physiker bezieht, ist m. E. nicht begründet, und Zhmud gibt keine genügende Antwort auf Mansfelds Kritik daran (2002: 279–85 [Bibl. §1 *84]). Auch gibt er nicht zu erkennen, welche Bedeutung die Auffassungen der entgegengesetzten Partei für unser Verständnis der Überlieferung und des überlieferten Material haben. Auch im Allgemeinen gibt Zhmud keinen Aufschluss darüber, welche Möglichkeiten und Grenzen man der Benutzung der doxographischen Berichte beimessen soll.
Lesern dieser Zeitschrift wird eine eingehende Behandlung der christlichen Autoren, die frühgriechische Philosophen in ihre Argumentation miteinbezogen, besonders fehlen. Diese werden von Zhmud (169–171) nur in Bezug auf ihre Quellen und ihre vermeintliche Mischung der Doxographie mit der Biographie behandelt. Mangels einer umfassenden Behandlung des Wertes und der Eigentümlichkeiten der Quellen ist der Leser auf die Kapitel über jeden einzelnen Denker angewiesen, wenn er erfahren will, wie die Autoren, die uns seine Lehren überliefern, sie ausgewählt und vielleicht auch entstellt haben, um ihren eigenen Zwecken zu dienen. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Leser interessiert hätte zu erfahren, wie ein Autor wie Hippolytos einige Vorsokratiker auffasste und verwendete. Stattdessen erfährt man lediglich, dass z. B. Hippolytos seine Ausführungen über Xenophanes skeptischer, nicht peripatetischer Quelle verdankte (360).
In doxographischer Hinsicht ist vielleicht am provokantesten das Kapitel über Anaximander. Dort argumentiert Dührsen, dass, während Anaximander sehr wohl als Erster den Terminus archê (»Anfang«, »Prinzip«) einführte (270 f.), er seine archê nicht to apeiron (»das Unbegrenzte«, »das, was nicht durchquert werden kann«, »das Unbestimmte«) genannt habe; vielmehr habe Aristoteles die archê des Milesiers als undifferenziertes Etwas in seine eigene Konzeption der möglichen Substratbegriffe eingeordnet (272 ff.), wobei er Anaximanders adjektivische Wendung apeiros archê (»un­be-stimmter Anfang«) in ein Substantiv umwandelte, das von Theophrast und der späteren Doxographie aufgegriffen worden sei (zuerst von M. L. West, Early Greek Philosophy and the Orient, Oxford 1971, 78, vorgeschlagen, auch A. V. Lebedev: ΤΟ ΑΠΕΙΡΟΝ: Not Anaximander but Plato and Aristotle’, vestnik drevnej istorii 143, 1978,1, 39–54, and 1978, 2, 43–58 [russisch, mit englischer Zu­sam­menfassung]; s. zuletzt D. L. Couprie and R. Kocanderle, »Anaximander’s ›Boundless Nature‹«, Peitho/Examina Antiqua 1.4, 2013, 63–91. Anders urteilt J. Mansfeld, »Anaximander’s Fragment: An-other Attempt«, Phronesis 56, 2011, 1–32, hier 4). Hier und bei Xenophanes wird die doxographische Tradition gegenüber der archaischen, insbesondere der epischen Tradition stark abgewertet. Bei Letzterem wird das Resultat für theologisch interessierte Leser be­sonders wichtig.
Wie diese geben auch andere Autoren – etwa Primavesi über Empedokles oder Zhmud über Pythagoras – ihren Darstellungen eine bestimmte Prägung; andere hingegen bieten eine eher offene Darstellung verschiedener Interpretationsmöglichkeiten. Innerhalb der großen und immer wachsenden Literatur zu den »Vorsokratikern« hat das Buch die Eigenschaft, die Literatur zu den einzelnen Themen oder Philosophen im Laufe einer umfassenden Einführung anzuführen und an den passenden Stellen der Be­handlung mit einzubeziehen.
Wenn dies auch das Hauptziel des Projektes ist, dann muss es als erfolgreich angesehen werden. Eine solche Darstellung der betreffenden Literatur und der darin vertretenen Interpretierungsversuche wird nämlich nicht durch eine Auflistung der Titel und Verfasser im Netz gewährleistet, obgleich bei einer solchen Liste die Titel leichter zu finden und auf dem neuesten Stand zu halten wären. – Die Bibliographien werden einzeln für jedes Kapitel gegeben, sie sind in verschiedene Kategorien unterteilt und größtenteils chronologisch organisiert; moderne Autoren werden auch im Personenregister verzeichnet. Allerdings sind die Bibliographien nicht vollständig, jedenfalls nicht für die letzte Zeit: Für Anaximander z. B. gibt es (bei insgesamt 128 Titeln) fünf aus dem Jahr 2003, einen aus 2004 und danach nur einen aus 2011; im letzten Kapitel findet man nichts nach 2003.