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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

424–426

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ferber, Christian

Titel/Untertitel:

Der wirkliche Mensch als möglicher. Paul Ricœurs Anthropologie als Grundlagenreflexion der Theologie.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2012. 340 S. Geb. EUR 54,99. ISBN 978-3-8471-0043-0.

Rezensent:

Kathrin Messner

Das Werk des französischen Philosophen Paul Ricœur ist im deutschen Protestantismus vergleichsweise wenig rezipiert worden. Die Frage »Warum Ricœur?« (11), mit der der hessen-nassauische Pfarrer Christian Ferber, der neben evangelischer Theologie auch Philosophie und Musik studiert hat, seine theologische Dissertation eröffnet, ist insofern bereits ein erstes Mal beantwortet. Aber Der wirkliche Mensch als möglicher ist wesentlich mehr als ein rein quantitativer »Lückenfüller« dieses Desiderats. Diese Monographie über die unmöglichen Möglichkeiten des Menschlichen nach Ricœur führt ihre Leserschaft gekonnt und weitsichtig durch das Gesamtwerk eines immensen phänomenologisch-hermeneutischen Denkens, das sich über einen Zeitraum von nicht weniger als 60 Jahren erstreckt. Damit betritt F. nicht nur innerhalb der deutschen, sondern auch der internationalen Bühne der Ricœur-Forschung Neuland, zumal sich die Studie in ihrem dritten und letzten Hauptteil explizit auch der Religionsphilosophie Ricœurs widmet. Kurz: Diese Untersuchung ist eine eigenständige Rezeption der »ganzen« Anthropologie Ricœurs inklusive einer Anwendung des daraus resultierenden Potentials auf die protestantische Theologie. Das ist nun in der Tat ein Novum!
Dass ein solches Unternehmen bei einem an Weite und Tiefe kaum zu übertreffenden Denken wie demjenigen Ricœurs kein Spaziergang sein kann, versteht sich dabei quasi von selbst. F. ist sich dessen bewusst und führt seine Leserinnen und Leser in einem sehr hilfreichen Einleitungsteil behutsam in die verschlungenen Wege des zu bewältigenden, vom Philosophen selbst so titulierten »long périple« (lange See- bzw. Rundreise) ein. Für Orientierung vor Antritt dieser Reise sorgt dabei ein kompakter Überblick, in dem F. in die Eigentümlichkeit von Ricœurs Denken einführt, seine Ziele und eigene Motivation offenlegt sowie die großen Wegmarken seiner anthropologischen Route durch die phänomenologisch-hermeneutische Welt Ricœurs absteckt (13–24). Diese Route folgt dabei i m Großen und Ganzen Ricœurs eigenen verschlungenen Denk-wegen, die sich, holzschnittartig gesagt, von einer vor dem Erbe Ed­mund Husserls verstehenden, phänomenologisch geprägten ideal-begrifflichen hin zu einer hermeneutisch-sprachvermittelnden Reflexion entwickelt haben.
So nimmt F. seine Leserschaft in einem ersten Teil (25–135) zu­nächst mit in die »frühe« Welt Ricœurs, kommt dabei an dessen eidetischer Willensphilosophie (Kapitel 2), seiner Verarbeitung der Freudschen Psychoanalyse (Kapitel 3) sowie verschiedenen vermittlungsdialektischen Variationen der Akt-Selbst-Struktur des Menschen (Kapitel 4) vorbei – und läuft schließlich in einen ersten Hafen ein (»Abschlusserwägungen«, 125–135). Hier wird deutlich, dass der konkrete Mensch als körperlich-geistiges Wesen durch eine allein reflexiv-erkenntnistheoretische, d. h. rein begriffliche Herleitung nicht vollständig zu erfassen ist.
So widmet sich die weitere Reise dem Aufsuchen konkreter hermeneutischer sprachlicher Vermittlungsfiguren (Teil II, 137–252). In diesem Teil werden nun – bei zunehmendem Gegenwind – zwei Stationen angefahren: das Symbol (Kapitel 6) und die Narratio (Kapitel 7). An beiden begegnen sich Phänomenologie und Hermeneutik in Form einer, mit Ricœur gesprochen, »lebendigen Spannung«, wobei vor allem an der zweiten, wo das Phänomen der Zeit mit ins Spiel kommt, der Mensch zum homme capable wird: Dieser Mensch kann nun tatsächlich die vielfältigen konkreten Vermittlungen seiner Existenz, die ihm die Sprache bietet, je neu, je aktual verwirklichen. Das Aufdecken dieses dem Denken Ricœurs eigenen Vermittlungspotentials ist es, worauf es F. im ganzen Buch im Wesentlichen ankommt. Denn die Möglichkeiten, die das damit einhergehende radikal offene Denken mit sich bringt, der heuristische Wert, der ihm innewohnt, sind enorm. Dies gilt auch und erst recht für die spezifisch religiöse Textur des Menschlichen sowie für Ricœurs spezifische Offenbarungsfigur (Kapitel 8), mit denen sich F. in seinem dritten Hauptteil auseinandersetzt (253–316). Schließlich, und damit verlässt F. seinen analytischen Rundgang, führt er den möglichen Gewinn dieses Vermittlungsdenkens für die Theologie exemplarisch am – vermeintlich unversöhnlichen – Gegensatz zwischen dem anthropologischen Ansatz der Theologie Friedrich Schleiermachers und deren offenbarungstheologischem Pendant Karl Barths aus (Kapitel 9). Ricœurs Denken konsequent und überzeugend weiterführend, skizziert F. so zuletzt einen Weg der Mitte, der einer permanenten heiklen Gratwanderung gleichkommt, die sich aus der – niemals endenden, lebendig-spannen-den – Korrelation beider Seiten ergibt. Ricœur selbst charakterisiert diese dialektische Denkfigur in Anschluss an Platon einmal als »schönes Risiko«. Solcherlei »Versöhnungsdenken« stünde gerade der Theologie gut zu Gesicht, meint F., und genau in diesem Im­puls sieht er auch das wesentliche Vermächtnis Ricœurs an die Theologie. Ihm zu folgen würde aber bedeuten, dass die Theologie das sichere Feld einseitiger, konzeptuell geschlossener Systeme à la Schleiermacher und Barth verlässt zugunsten eines radikal offenen Denkens »zweiter Naivität«, das das Bisherige zwar nicht abschafft, aber den Mut zum »schönen Risiko« eines dialektischen Vermittlungsdenkens aufbringt, das sich immer wieder aufs Neue instruieren, belehren und verwandeln lässt.
Kein Zweifel: Die Lektüre F.s ist, wie diejenige Ricœurs, zu­nächst vor allem eines: Schwarzbrot. Schwer zu beißen und schwer zu verdauen. Aber bei entsprechend sorgfältiger und ausdauernder »Behandlung« mit Sicherheit ebenso belebend wie bereichernd! Die Begeisterung F.s für seine »Sache« ist so authentisch wie ansteckend und die Leidenschaft, mit der er seine zugleich Ricœur-treue wie eigenständige Übersetzung des homme capable vornimmt, verdient allen Respekt. Chapeau, M. Ferber! So ein über Jahre hinweg gereiftes, tiefgreifendes Werk wird somit sicher in erster Linie für all diejenigen von Interesse sein, die keine Ricœur-Neulinge mehr sind. Diesen wird auch auffallen, dass F. – im Gegensatz zu manchen vor allem in der neueren katholischen Ricœur-Forschung festzustellenden Tendenzen – dem Ansinnen widersteht, jedwede »synthetische Summe« aus den zahlreichen methodischen Ansätzen Ricœurs zu ziehen. Dieser Leserschaft wird aber auch auffal-len, dass F. den »ethischen« Ricœur, etwa denjenigen der »Kleinen Ethik« von Soi-même comme un autre (1990), in seiner Untersuchung etwas vernachlässigt. (Die Ethik wird im Wesentlichen in den einzigen Exkurs des Buches »verbannt«, vgl. 116 f.) Neben einigen weiteren spezifischen inhaltlichen Anfragen an F., die Ricœur-Forschende am besten unter sich ausmachen, und kleineren sti-listischen Mängeln (z. B. relativ viele Fehler), stellt das Buch aber, nicht zuletzt durch die Einbeziehung der Religionsphilosophie, mit der sich die vom Laizismus geprägte französische Ricœur-Re­zeption immer noch sehr schwertut, ein wirklich gelungenes, tiefsinniges Ricœur-Kompendium »auf Anthropologisch« dar. Und als solches ist es nun natürlich auch für Ricœur-Einsteiger geeignet.
Kurzum: Der wirkliche Mensch als möglicher ist für alle an hermeneutischer Anthropologie Interessierte, philosophisch-theologisch gerne und weit Reisende ein echter Gewinn. Es wirbt im Namen Ricœurs für »die Vielschichtigkeit des Lebens, ja des Seins« (11) und lädt seine Leserschaft zum eigenständigen Weiterdenken ein. – Darum Ricœur!