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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

415–417

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Macor, Laura Anna

Titel/Untertitel:

Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2013. 432 S. = Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Abt. II: Monographien, 25. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-7728-2615-3.

Rezensent:

Christoph Böhr

Die von Laura Anna Macor, einer italienischen, an der Universität Padua tätigen Wissenschaftlerin, vorgelegte Begriffsgeschichte ist das Ergebnis einer langjährigen Forschungsarbeit und lässt nichts zu wünschen übrig. Dass sie zum Opus magnum geriet, liegt an der überragenden Bedeutung jener Programmidee der deutschen Aufklärung, der M. als Begriff nachgeht: Die »Bestimmung des Menschen« spiegelt – vermutlich mehr als jeder andere Begriff – die philosophisch-theologische Debatte in der 2. Hälfte des 18. Jh.s, ebenjenem Zeitraum, dem sich M. vornehmlich widmet – bis zu Johann Gottlieb Fichtes 1800 erschienener gleichnamiger Schrift. Fast aus dem Nichts taucht der Begriff – eingeführt durch Johann Joachim Spalding (1714–1804) und angeregt durch den Theologen Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) sowie Anthony Ashley Cooper Lord Shaftesbury (1671–1713) – auf: als Titel des 1748 erschienenen, gleichnamigen schmalen Bändchens, das ursprünglich 26 Seiten umfasste, schließlich auf 244 Seiten anschwoll und bis 1794 einschließlich der Raubdrucke 25 Neuauflagen sowie zahlreiche Übersetzungen erlebte.
Gleich auf der ersten Seite kommt Spalding auf den Beweggrund zu sprechen, der seine Schrift veranlasst hat: »Es ist doch einmal der Mühe wehrt, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise sein soll.« Die Beantwortung dieser Frage mündet in eine neue, existentiell verankerte Apologetik und versetzt damit die lutherische Orthodoxie in helle Aufregung. Zahlreiche Kontroversen sind die Folge. Gegen Spaldings inneren Beweis der göttlichen Bestimmung des Menschen beharren seine Gegner – allen voran Johann Melchior Goeze (1717–1786), der spätere Hauptpastor an der Katherinenkirche in Hamburg und streitbare Widersacher Gotthold Ephraim Lessings – auf der Maßgeblichkeit von Gnade und Offenbarung. Der immer weiter ausufernde Streit bewirkt jedoch das Gegenteil von dem, was Spaldings Gegner sich erhofften: Dem Buch ist vielleicht gerade auch wegen seiner Anfeindungen eine unvergleichliche Erfolgsgeschichte beschieden und macht seinen Verfasser innerhalb kürzester Zeit berühmt.
Im seinem Mittelpunkt steht der Versuch, eine Art von natürlicher Theologie zu entwickeln. Der Einwand der Orthodoxie gegen diesen Versuch lautet: Jede natürliche Theologie bleibt zu weit hinter dem zurück, was die christliche Religion als Glaubensgut überliefert. Deshalb könne unabhängig von Schrift und Überlieferung kein Einblick in den Glauben des Christentums gewonnen werden. Das gelte zum Beispiel für den Lehrsatz von der Unsterblichkeit der Seele. M. schildert diese Auseinandersetzungen nicht nur in allen Einzelheiten, sondern auch mit einem klaren Blick für die Gewichtung der jeweiligen Beweisführungen und hält (113 f.) fest: »Weit davon entfernt, der Unsterblichkeit der Seele jeglichen Grund entziehen zu wollen, hat Goeze« – der oben schon erwähnte heftige Widersacher Spaldings – »nur vor, die Vernunft als dafür bürgende Instanz zu delegitimieren und auf die erste, einzige und übernatürliche Quelle für jedwede Behauptung über das Übersinnliche zu verweisen […] Nur die in der Offenbarung ›befindlichen ausdrücklichen Versicherungen GOttes‹ seien dazu imstande.« Ist aber nicht doch die mittels Vernunft und Natur gewonnene Erkenntnis Gottes dessen erste und älteste Offenbarung? Über diese Frage geht im Kern der Streit, wie M. (138) sehr kundig auseinanderlegt.
M. stellt die durch Spalding ausgelöste Auseinandersetzung in den Zusammenhang der Aufklärungsforschung der Gegenwart. Dabei bedient sie sich sinnvollerweise der von Norbert Hinske entwickelten Typologie der grundlegenden Basisideen der deutschen Aufklärung und findet so (28) zu ihrer These: »Die Basisideen drü-cken die anthropologischen Voraussetzungen der Aufklärungsbewegung aus und finden in der Bestimmung des Menschen ihre wichtigste und verbreitetste Formulierung.« Am Ende des Buches weiß der Leser, wie zutreffend diese Einschätzung ist: Im Begriff der Bestimmung des Menschen findet die vielschichtige, an Kontroversen reiche Flut der Veröffentlichungen dieser Epoche einen trotz aller Unterschiedlichkeit einheitsstiftenden, gemeinsamen Bezugspunkt. Von der Sache her wird wahrscheinlich Immanuel Kants Beschäftigung mit dem Begriff als Höhepunkt der sich in mehreren Wellen vollziehenden Auseinandersetzung gelten können; Kant, der sich (205) spätestens 1766 der existentiellen Tragweite von Spaldings Schrift bewusst geworden war, überwindet den im Begriff angelegten Gegensatz und macht (211 f.) »das Auseinan-derbrechen von Bestimmung als Endzweck (Bestimmtsein) und Bestimmung als moralischem Akt des (Sich-Selbst-)Bestimmens rückgängig, indem er sie identifiziert. Er beharrt auf der moralischen Aufgabe des Menschen nicht trotz (wie es der Fall bei Abbt und Schiller gewesen war), sondern aufgrund von dessen eigentlicher Bestimmung. Der erzwungene Blick in das Diesseits […] wird zum einzigen Weg, den Menschen auf seine eigentliche, als sittlich zu erkennende Bestimmung zu verweisen. Der Mensch ist zur Selbstbestimmung bestimmt.«
Der Gang der Untersuchung M.s ist übersichtlich gegliedert: Teil I handelt von der Einführung des Begriffs als sprachliche Basis für eine neue Apologetik und widmet sich zunächst der Vorgeschichte, dann der offiziellen Einführung des Begriffs durch Spalding; Teil II zeichnet die theologische Rezeption des Begriffs nach – als Abwehr und Annahme eines »modernitätsfähigen Christentums« bis hin zum überkonfessionellen Aufstieg des Begriffs; Teil III zielt auf die moralphilosophische Uminterpretation des Begriffs und behandelt vorzugsweise Spaldings Diskussionspartner Thomas Abbt, Moses Mendelssohn, Kant – und, etwas entfernter, Friedrich Schiller, der schon als Schüler an der Stuttgarter Karlsschule Spaldings Schrift begegnete; Teil IV schließlich widmet sich der geschichtsphilosophischen Ausweitung des Begriffs – hier spielen Johann Gottfried Herder und wiederum Kant die entscheidende Rolle; Teil V beschreibt abschließend die Erschöpfung des Begriffs und seinen Verfall zum bloßen Schlagwort an der Wende zum 19. Jh.
So bleibt nach M. (295) ein am Ende ambivalenter Eindruck zurück: Einerseits wurde der Begriff an die theoretischen Bedürfnisse der Transzendentalphilosophie angepasst, während andererseits diese Anpassung nicht verhindern konnte, dass der Begriff allmählich seine Prägnanz verlor und aus dem philosophischen Sprachschatz verschwand, sodass er ab ungefähr 1800 nur noch als Redewendung vorkommt. In den sechs Jahrzehnten seines kometenhaften Aufstiegs wie seines meteorhaften Verglühens vollzieht sich (335) eine entscheidende Richtungsänderung: »War 1754 der Terminus ›Bestimmung‹ der Heterodoxie bezichtigt, ist er ca. sechzig Jahre später zum einzigen religiös korrekten Ausdruck für das menschliche Bestimmtsein durch Gott geworden.« Der Begriff wurde nicht nur zu einer philosophischen und theologischen, sondern zu einer kulturellen Größe, die sich in zahllosen Schriften jenseits gelehrter Auseinandersetzungen – in Romanen, Gesangbüchern, Anthologien und Erbauungsschriften – findet.
M., die schon 2010 mit einer bemerkenswerten Monographie über Schiller und Kant (Würzburg, Königshausen & Neumann) auf sich aufmerksam gemacht hat, verarbeitet eine schier unübersehbare Fülle literarischer Quellen und Zeugnisse – die Bibliographie umfasst 50 Seiten – und wird auf sehr lange Zeit als die Verfasserin des Standardwerkes zum Thema gelten. Sie bietet dem philosophiehistorisch Interessierten wichtige, ja für eine Würdigung entscheidende Einblicke in das Zeitalter der Aufklärung – und glänzt in der Darstellung von Befunden und Einsichten, die gleichsam nebenbei erwähnt und dargestellt werden: beispielsweise (211) die eigenhändige Zusammenfassung von Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Insgesamt zeigt M.s Darstellung eine bewundernswerte Souveränität im Umgang mit der Fülle des Stoffs und der Vielschichtigkeit der Fragestellung.