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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

413–415

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Jetter-Staib, Christina

Titel/Untertitel:

Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger.

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz (Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen) 2013. X, 501 S. m. 1 Abb., 3 Tab. u. 1 CD = Hallesche Forschungen, 34. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-447-06962-5.

Rezensent:

Martin Brecht

Die hier vorliegende historische Dissertation wurde von Anton Schindling, Tübingen, betreut. Eine Sensibilität für die Strömungen neuzeitlicher Geistesgeschichte ist vorhanden, passt jedoch, was Aufklärung oder Säkularisation anbelangt, lediglich bedingt. Die theologischen oder kirchengeschichtlichen Gegebenheiten sind der Autorin Christina Jetter-Staib bisweilen weniger vertraut. Die Frage, ob es um Religion oder Säkularisierung gehe, erübrigt sich beim Lebenswerk des Londoner Hofpredigers alsbald. Auch die Entscheidung, ihn mittels einer Biographie zu würdigen, ist für einen Pietisten nicht unüblich und eigentlich alternativlos. Die Einordnung in einen als weltweite Gegebenheit verstandenen Pietismus ist gerade in diesem Fall die einzig mögliche Option. Die ungedruckten wie die gedruckten Quellen sowie die umfängliche Forschungsliteratur sind aufgeführt und herangezogen.
Generell geurteilt füllt die Untersuchung eine empfindliche Lücke und hat so jedenfalls ihre Verdienste. Wer immer sich mit protestantischer Missions- oder Migrationsgeschichte im 18. Jh. befasst, stößt mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den deutschen Hofprediger an St. James in London. Genauere Forschungen über diese wichtige Person gab es jedoch bisher nicht, obwohl der Prozess, wie über die bisherigen Länder und ihre Kirchen hinaus protestantische Gemeinschaften neu zustande kamen, doch von erheblichem Interesse sein dürfte. Bei diesem Vorgang kam fraglos dem in Halle situierten Pietismus eine tragende Rolle zu, und zwar nicht nur dem Stifter August Hermann Francke (gest. 1727), sondern auch seinem darin wohl oft unterschätzten Sohn Gotthilf August Francke (1696–1769), der die Aufgabe langfristig übernehmen musste. Unterstützt wurde er darin von dem Augsburger Senior Samuel Urlsperger (1685–1782). Die unentbehrliche Bezugsperson außerhalb Deutschlands wurde eben Ziegenhagen. Die Vfn. ist den vorhandenen Quellen über ihn in Halle und England nachgegangen, hat aber auf eine genaue Auswertung der theologischen Schriften verzichtet. Im Zusammenhang dürfte dies jedoch zumindest den Titeln nach nicht zu sehr ins Gewicht fallen, da sie innerhalb des halleschen Rahmens eines lutherischen Pietismus verbleiben. Dagegen kostet der Verzicht auf eine Analyse von Ziegenhagens Bücherbesitz (91) wahrscheinlich wertvolle Informationen.
Ziegenhagen stammte aus dem brandenburgischen Naugard. Er studierte in Halle und Jena Theologie. Ein näheres Verhältnis baute sich zu A. H. Francke auf, der dann auch die Bahnen Ziegenhagens lenkte. Diese führten 1718 auf eine Stelle als gräflicher Hofprediger im Kurfürstentum Hannover. Schließlich gelangte Ziegenhagen nach dem Tod Anton Wilhelm Böhmes 1722 auf die Stelle des deutschen Hofpredigers bei St. James in London, die schon bisher auch als Außenposten Halles in England fungiert hatte. Das aus dem lutherischen Kurfürstentum Hannover stammende Königshaus war jedoch nicht eigentlich pietistisch geprägt und fühlte sich der anglikanischen Kirche zugehörig. Innerhalb der Staatskirche war es den Religious Societies, besonders der Society for Promoting Christian Knowledge (SCPK), der neben Böhme auch A. H. Francke angehörte, um eine Belebung zu tun. Trotz Wahrung des lutherischen Standpunkts wurden in der Liturgie der Hofkapelle Angleichungen an den anglikanischen Gottesdienst praktiziert. Möglicherweise war solche Anpassung wegweisend und legte sich auch sonst in der Kooperation nahe. Aber die lutherische Ausrichtung sollte wohl nicht angezweifelt werden. Die Beschreibung von Ziegenhagens religiösem Fundament (90–103) unter den Stichworten Providenz, Kinder Gottes – Kinder der Welt, Reich Gottes, Orthodoxie sowie Chiliasmus bleibt allerdings viel zu allgemein, um griffig zu sein, und überzeugt beim letztgenannten Begriff auch schwerlich. Aufklärung und Säkularisierung werden klar abgelehnt und bleiben noch ganz am Rand. Eine profilierte eigene Theologie Ziegenhagens ist möglicherweise kaum herauszuarbeiten.
Zu den Medien von Ziegenhagens Wirksamkeit werden die (lediglich) vierzehntägig gehaltenen Predigten und seine Briefe gerechnet, von denen ca. 700 und 980 Antwortbriefe erhalten sind, insgesamt doch noch eine vergleichsweise begrenzte Anzahl, auch wenn deren Effektivität und bedeutende Teilnehmer nicht zu bezweifeln sind. Die Korrespondenz ist auf einer dem Buch beigegebenen Diskette eigens aufgelistet. Der Ertrag der Auswertung der Predigten bleibt vergleichsweise gering. Die wechselnden theologischen Mitarbeiter an der Hofkapelle werden aufgeführt. Auffallend ist der Widerstand, den der selbst unverheiratete Ziegenhagen jeweils ihrer Verehelichung entgegensetzte. Zu den regelmäßigen Tätigkeiten des Hofpredigers gehörte lange Jahre seine Teilnahme als Resident Member an den Sitzungen der SCPK, die auch für seine Beziehungen nach außen wichtig war. Faktisch fungierte die Hofkapelle als weltweite Schaltstelle für Stellenbesetzungen, Seelsorge, Schlichtungen, aber auch für Post, Literatur-, Sach- und Geldtransaktionen der mit ihr verbundenen religiösen Gruppen. Dies wird als Mittlertätigkeit qualifiziert, was als Bezeichnung für Ziegenhagens Rolle aber wohl etwas farblos bleibt.
Die bedeutsamen auswärtigen Tätigkeitsfelder Ziegenhagens sind an sich bekannt und auch sonst schon behandelt worden. Deshalb hätte hierbei die Darstellung auch gestrafft werden können. Zuerst ging es um die Dänisch-Hallisch-Englische Mission in Südindien, die Ziegenhagen in der Tradition Halles teilnehmend und in vielfältiger Weise ideell wie materiell umsorgte. Er wird in diesem Zusammenhang als »Vater« tituliert, was sich später von Sei-ten der Salzburger Auswanderer in Georgia wiederholte. Was die Be­stimmung der Funktion Ziegenhagens und neben ihm G. A. Franckes in diesem Zusammenhang anbetrifft, sollte man noch ener-gischer zugreifen. Hier wurde offenkundig so etwas wie Kirchenleitung praktiziert und wahrgenommen, wo es sonst kein obrigkeitliches Kirchenregiment mehr gab und sich neue Strukturen entwickeln mussten. Die Anlehnung an den (englischen) Hof dürfte dabei hilfreich gewesen sein. Bei der Betreuung der deutsch-lutherischen Siedler in Pennsylvanien wurde neben G. A. Francke Ziegenhagen nolens volens erneut in diese Rolle gedrängt, sodass schon 1903 Theodore Emanuel Schmauk von ihm als a sort of German bishop sprach (103). Der Kirchenmann vor Ort in Pennsylvanien war zwar Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787), aber sein Anlehnungs- und Hilfsbedürfnis gegenüber den alten Autoritäten und Instanzen war ursprünglich elementar und notwendig, auch wenn später Lockerungen eintraten. In der Abgrenzung gegen die Herrnhuter stand auch Ziegenhagen Mühlenberg bei. Die Zusammenfassung der Untersuchung bemüht sich um die genauere Erfassung der Schlüsselrolle Ziegenhagens. Meines Ermessens hätte man seinen Beitrag zur Modernisierung der Kirchenverfassung also noch stärker hervorheben können.