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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

398–399

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gebauer, Christian

Titel/Untertitel:

Visionskompilationen. Eine bislang unbekannte Textsorte des Hoch- und Spätmittelalters.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 208 S. = Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, 19. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-12146-2.

Rezensent:

Vera von der Osten-Sacken

Sowohl zur Visionsliteratur des hohen Mittelalters als auch zu Textkompilationen wurde bereits viel geforscht. Vor allem das Interesse an mystischer und Visionsliteratur nimmt seit einigen Jahrzehnten stetig zu. In seiner im Jahre 2011 an der Bergischen Universität Wuppertal als Dissertation angenommenen Studie argumentiert Christian Gebauer zunächst dafür, Visionskompilationen als eigenständige Textsorte anzusehen, die vor allem für den Zisterzienserorden interessant gewesen sei, um dann nach deren Bedeutung für diesen Orden zu fragen. Diese Textsorte – G. vermeidet bewusst den Gattungsbegriff – sei speziell »für das Sammeln von Visionen konzipiert worden« (12) und damit Resultat eines absichtlichen, planvollen Vorgangs. Er plädiert dafür, die Begriffsbestimmung der »Vision« durch Peter Dinzelbacher um weitere Schlüsselbegriffe zu erweitern, und grenzt die Vision vom Wunderbericht ab, in dem ein göttliches Eingreifen in die zeitliche Welt geschildert werde.
Diese Abgrenzung ist inhaltlich mehr als einsichtig, wirft aber zugleich die Frage auf, weshalb G. als einen von sieben Belegtexten für die neu postulierte Textsorte den Liber visionum et miraculorum des Herbert von Clairvaux heranzieht – die Titelformulierung für das als Liber miraculorum bekannte Werk begründet er aus der handschriftlichen Tradition (94, Anm. 484). Auch wären weitere Abgrenzungen hilfreich gewesen, z. B. Parallelen und Unterschiede zu Berichten von Gnadenerlebnissen und innerer Gotteserfahrung, Auditionen oder Entrückungen oder die Frage nach Besonderheiten weiblicher und männlicher Frömmigkeitstraditionen, die um 1200 im Bereich der mystisch gestimmten Spiritualität der Zisterzienserinnen wichtig wurden.
Anhand der ausgewählten Texte macht G. mehrere Typen von Visionskompilationen aus, von denen sich einer inhaltlich durch das Vorhandensein einer Vorrede auszeichnet, ein anderer durch seine zisterziensische Herkunft und der dritte Visionskompilationen mit unbekanntem Entstehungshintergrund umfasst. In Visionskompilationen erkennt G. »die Überlieferungsträger für die literarische Form der ›Vision‹« (135, Hervorhebung von G.), was in Anbetracht der von ihm selbst per definitionem ausgeschlossenen Sammlungen der Erlebnisse einzelner Visionäre (31) und der vielen hagiographischen Texte, die Visionen an zentraler Stelle bieten, hinterfragt werden sollte.
Da er bei vier der sieben untersuchten Texte, die er mit erfreulich detailreichen Einzelanalysen bedenkt, einen deutlichen Be-zug zum Zisterzienserorden herstellen kann, kommt er zu dem Schluss, dass dieser Orden »ein großes Interesse an Visionskompilationen hatte«, und fragt sodann, »warum es ausgerechnet die Zis­terzienser sind, die sich als Visionssammler betätigten« (beide 135). Seine Antwort nimmt das Stichwort unitas ordinis auf, das er bei Stephan Harding findet (141). Einheitlichkeit und einheitliche Verfügbarkeit der liturgischen Bücher und Grundtexte des Ordens in allen Klöstern, die nach Harding der unitas dienen sollte, spiegelt sich nach G. besonders in der großen Zahl der erhaltenen Handschriften dieser Texte (147), so dass die Frage naheliegt, weshalb eine Textsorte, die durch den gleichen Zweck an gleicher Stelle bestimmt wird, so wenig normiert erscheint und im untersuchungsrelevanten lateinischen Bereich nur so wenige auf uns ge­kommene Zeugen zählt. Stattdessen stellt G. die Präsenz bernhardinischer Theologie in den Visionskompilationen heraus, die er als Beleg dafür deutet, dass diese Texte die Gedanken des einflussreichen Theologen tradieren sollten. Hier lässt sich jedoch fragen, warum Visionen und nicht vielmehr Texte über die innere Gotteserfahrung der Menschen gesammelt wurden, die Bernhard nach G.s eigener Darstellung höher als alle anderen Erlebnisse schätzte ( 163). G. findet auch ein Pro-domo-Motiv in den Visionskompila-tionen (168), das er durchaus plausibel einem konkurrierenden Abgrenzungsstreben gegen ein Mönchtum cluniazensischer Prägung (167–175) und später auch gegen die Bettelorden (175) interpretiert.
Zu fragen wäre, inwieweit die Berufung auf göttlich eingegebene Visionen neben dieser aggressiven Tendenz auch einem Bedürfnis nach Legitimation entsprungen sein könnte. Schließlich kann G. als Absicht der Visionskompilatoren nach innen gerichtete Disziplinierung und auch Erbauung der Ordensleute wahrscheinlich machen. Alle drei Zwecke lassen sich aber auch für andere Textsorten angeben, die die Zisterzienser produzierten, so dass nicht recht deutlich wird, worin das proprium der Textsorte Visionskompilation besteht.
Insgesamt ist die Studie sehr klar gegliedert und gut lesbar formuliert. Leider besitzt der Band keine Register und wurde nicht sehr sorgfältig korrekturgelesen, die meisten Druckfehler sind aber weder gravierend noch sinnentstellend. G. spannt von einem literaturwissenschaftlichen Befund über die Herkunftsfrage der angenommenen neuen Textsorte bis hin zur Ordenspolitik der Zisterzienser anhand einer Quellenbasis von gerade einmal sieben lateinischen Texten (die zahlreichen volkssprachlichen Texte klammert er aus, 31) einen sehr weiten Bogen auf, kann seine Thesen aber nur teilweise plausibel machen. Eine etwas weiträumigere Recherche und ein stärkerer Rückbezug der Textbefunde auf die Arbeitsdefinitionen hätten der Arbeit sicher gut getan.