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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

377–380

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gerhards, Meik

Titel/Untertitel:

Conditio humana. Studien zum Gilgameschepos und zu Texten der biblischen Urgeschichte am Beispiel von Gen 2–3 und 11,1–9.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2013. XIV, 371 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 137. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-7887-2707-9.

Rezensent:

Michaela Bauks

Die Monographie von Meik Gerhards widmet sich dem Gilgameschepos im Vergleich mit der biblischen Urgeschichte (Gen 1–11) aus traditionsgeschichtlicher Perspektive. Zugleich stellt sie aber auch die Frage nach der conditio humana aus philosophischer Sicht, »um eine Art heuristisches Konzept zu entwerfen, in dem interpretationsrelevante anthropologische Grundeinsichten formuliert sind« (VII; 47), denen G. auf knapp 50 Seiten gemäß den Fragestellungen und Traditionen philosophischer Anthropologie (z. B. M. Scheler, H. Plessner, A. Gehlen) und deren besonderen Bezug zur Leiblichkeit des Menschen sowie der Welt-Mensch-Opposition (W. Welsch) nachgeht.
Es liegt ihm dabei weniger an der historischen und kulturellen Variabilität des Menschseins, wie es die historische Anthropologie ins Zentrum stellt. G. geht es um das Zeiten und Kulturen übergreifenden Wesen des Menschen, ohne das Eine gegen das Andere ausspielen zu wollen (45). Als Grundeigenschaften des Menschen hebt er Weltoffenheit und Transzendenzoffenheit, Selbsttranszendenz und Selbstbezug, zivilisatorische Kreativität und Identität in der Verkörperung sozialer Rollen sowie Verantwortlichkeit und Religiosität hervor. Im altorientalischen Kontext scheint vor allem der überlebenswichtige Zug zivilisatorischer Kreativität für die Erschaffung neuer und anderer Lebensräume wichtig zu sein, zu dem »Verantwortung« als kommuniziertes Handeln sowie die Intuition objektiver Gerechtigkeit bzw. »dass das Leben in einem Umfassenden aufgehoben ist, das die Welt übersteigt« hinzutritt (81). Allerdings können die Frage nach dem Wandel der Menschenbilder, sozialen Praktiken und symbolischen Formen und die nach der Geschichtlichkeit menschlicher Natur (J. Tanner) nicht ausgeblendet werden. Sie sind auf Gottes-, Welt- und Menschenbilder anzuwenden, um diese in ihrer Differenz zu heutigen Vorstellungen zu analysieren und somit den alten Texten gerecht zu werden.
Zugleich möchte G. die altorientalische Komparatistik, in die auch die biblische Urgeschichte gehört, von den landläufigen Vorwürfen kreationistischer, naturwissenschaftlicher oder historistischer Positionen befreien und darlegen, »dass die Bibel Medium göttlicher Offenbarung ist […] aus einer speziellen Weise religiöser Erfahrung« (9), welche die jeweiligen Parallelen nicht mit Argwohn betrachtet, sondern vielmehr als willkommene Lektüreschlüssel begrüßt (325 ff.). Die Einleitung nimmt das besondere Zeitkonzept als gemeinsames Thema besonders von Gen 2–3; 11 sowie dem Gilgameschepos unter die Lupe, das anhand der Motive des Ur­sprungs, der Etappen der Menschwerdung, der Todeserfahrung sowie der Zivilisationserfahrung conditio humana zur Darstellung bringt. In den biblischen wie in den mesopotamischen Traditionen bildet das Flutmotiv eine Erzählachse, nach der die Verhältnisse von Mensch und Welt eine Revision erfahren, die in der Urgeschichte geradezu spiegelbildlich komponiert ist (20 ff.).
Auf den mit 100 Seiten sehr umfassenden Einleitungsteil folgen die beiden Hauptteile zum Gilgameschepos (105–187) und zur Urgeschichte (189–324). Das Kapitel zum Gilgameschepos entfaltet das Werk anhand verschiedener inhaltlicher Aspekte. Einerseits zielt es auf die Entwicklung des Helden (das Epos als »Entwicklungsdichtung«) und damit verbunden die Sozialisierung des Menschen durch Gemeinschaft und städtische Zugehörigkeit. Ein weiteres Thema bildet die Zeichnung der Stadt Uruk und ihre Be-deutung als Mikrokosmos sowie als Ort von Zivilisation und kultureller Errungenschaften. Am Beispiel des zweiten Protagonisten Enkidu wird in das Thema Erfahrung von Sterblichkeit und Ausprägung anthropologischer Grundfähigkeiten durch Sozialität und Kommunikabilität eingeführt. Es folgen, ausschnitthaft an den Erzählungen vom Zug in den Zedernwald und von Ischtar und dem Himmelsstier dargelegt, Überlegungen zu der Spannung von Hybris gegenüber den Göttern einerseits und dem menschlichen Bedürfnis nach Ruhm bzw. »Verkörperung« des eigenen Namens für die Nachwelt in vollbrachten Heldentaten andererseits. G. bündelt die verschiedenen thematischen und motivlichen Aspekte in der anthropologischen Kernfrage »nach der Möglichkeit sinnvol-len Lebens angesichts der Sterblichkeit« als einer als allgemein menschlich einzustufenden Frage, welche auch die Attraktivität und Aktualität des Epos erklären kann (173; vgl. 181–187). G. zeigt treffend auf, wie schillernd die Figur des Gilgamesch gezeichnet ist zwischen unbändiger jugendlicher Unbedarftheit und der fast un­erträglichen Unfähigkeit, seine Rolle als gerechter König zu erfüllen, und wie er im Verlauf des Epos auf sehr verschlungenen Wegen Weisheit und somit letztlich gelungene Lebensführung erfährt. Die Verschlungenheit entspricht nicht nur der Polyphonie parallel angelegter Grundaussagen bei immer wieder variierter Motivik (so behandeln die Episoden vom Zug in den Zedernwald und von Ischtar und dem Himmelsstier eine durchaus ähnliche menschliche Erfahrung). Ihr entspricht auch der überlieferungsgeschichtliche Befund, dass ein und dasselbe Motiv mitunter divergierende Deutungen in den verschiedenen Erzähltraditionen erfahren hat. Die Paradigmatik der allgemeingültigen anthropologischen Erfahrung basiert narrativ in »der intimen Verbindung von Zivilisation und Schöpfung«, in der »dieses Leben ja im denkbar umfassenden Ganzen aufgehoben [ist].« (176)
G. versucht nicht zwanghaft, die im Gilgameschepos erhobenen Aspekte analog im Aufriss der biblischen Urgeschichte zu rekonstruieren, sondern bescheidet sich mit einer exemplarischen Untersuchung der Paradieserzählung in Gen 2–3 und der Turmbauerzählung in Gen 11. Methodisch ist dies eine andere Vorgehensweise, indem die Urgeschichte nicht als Vergleichsepos gedeutet wird, sondern lediglich einzelne thematische Aspekte (»Die Menschwerdung« und »Die Stadt«) herausgehoben werden. Ob­wohl G. Epos und Urgeschichte ein gemeinsames Zeitkonzept at-tes­tiert hat (17), beschränkt sich die Untersuchung auf zwei Einzelaspekte (vgl. auch 12–14). Für Gen 2–3 hebt er den ätiologischen Stil und einige etymologische Wortspiele sowie den »großen Bogen« als charakteristisch hervor, welche in den Dienst eines Wissens um die Notwendigkeit der kulturellen Kreativität des Menschen gestellt sind (195 f.) und somit inhaltlich an das mesopotamische Epos durchaus anknüpfen. Auch die Zeichnung des Garteninterieurs setzt er in Parallele zu altorientalischen Zeugnissen und dem Leben des Menschen als das eines »privilegierten Dieners« innerhalb eines Mikrokosmos, der von JHWH selbst nach Art eines altorientalischen Großkönigs geschaffen worden ist (203 ff.). Ob der Mensch durch den anfänglichen Zugang zum Lebensbaum tatsächlich Zu­gang zur Unsterblichkeit erhalten hat, wie G. annimmt (208), ist sehr diskutiert und legt sich m. E. von den altorientalischen Parallelen (insbesondere Atramchasis und Gilgamesch) her nicht nahe (vgl. dazu ausführlich M. Bauks, Erkenntnis und Leben in Gen 2–3 – zum Wandel eines ursprünglich weisheitlich geprägten Lebensbegriffs, ZAW 127/1 [2015] mit weiterer Literatur). Die Analyse einer sozialgeschichtlich gedeuteten »verkehrten« Welt der Mann-Frau-Beziehung, wie sie in 2,24 entworfen und in 3,16 der realen Erfahrung angepasst wird, betont einerseits das Gewicht von Bezugssys­temen und die ätiologisch verstandene Rückbindung der Motive an die Jetztwelt. Deutlich wird, dass Gen 2–3 ein anthropologisches Entwicklungsschema erkennen lässt, wie es für das Gilgameschepos in der Entwicklung Enkidus vom tierähnlichen zum kultivierten Menschen vorausgesetzt ist; doch setzt G. weitaus weniger auf eine entwicklungspsychologische Deutung (»Entdeckung der Sexualität« ) als auf eine kultursoziologische: Nacktheit und Scham deutet er m. E. richtig im Sinne sozialer Statuslosigkeit (216 f.226; v gl. meinen Beitrag zur Scham in T. B. Dozeman u. a. (Hrsg.), The Pentateuch, FAT 76, 2011). Das nächste für ihn wichtige Thema ist der spannungsvolle Zusammenhang von Übertretung und dem Be­ginn der menschlichen Zivilisation (218 ff.): »Indem die Erzählung aber die menschliche Zivilisation mit einer Erfindung beginnen lässt [gemeint ist 3,7], durch die sich die Menschen vonein-ander abgrenzen, schreibt sie ihr eine Schattenseite zu«, so dass »Gen 3,7 ein Zivilisationsverständnis zum Ausdruck bringt, das als ›ambivalent‹ bezeichnet werden kann« (227). Am Ende steht die Selbstrechtfertigung vor Gott und die Etablierung der vorfindlichen Weltordnung gemäß dem ätiologischen Schema und der Vertreibung.
Die Zweistufigkeit der Menschwerdung durch die Erschaffung als Erdwesen, das erst durch seine Sozialbezüge »Mensch« wird, prägt Gen 2–3 und Gilg. und ist mit der durchaus ambivalent gezeichneten Fähigkeit zur Erkenntnis inhaltlich verbunden. Allerdings sieht G. in Gen 2–3 gewissermaßen einen Umweg, wenn der Mensch nicht sogleich den ihm zugedachten Acker bebaut, sondern zuerst den Garten bewohnt (243). Hier könnte man m. E. noch die Überlegung anschließen, ob die Paradieserzählung nicht auch als kreatives Rewriting der Zedernwaldtradition gedeutet werden könnte, die das Thema der menschlichen Hybris anhand des Motivs der (zuerst erbotenen) Erkenntnis reflektiert, welche den Menschen schließlich dazu begabt, »eigenständig etwas zu schaffen, das es vorher noch nicht gab« (249). Trotz dieser Deutung hält G. an der Umschreibung als »Sündenfall« fest, insofern er diesen als Verlust von Reinheit und einer daraus resultierenden fundamentalen Beziehungsstörung sowohl im Bezug auf Gott als auch auf die Mitkreatur skizziert (259–263).
Die 50 Seiten starke Untersuchung von Gen 11 wendet sich dem Thema Zivilisation und Stadt in der nachsintflutlichen Ordnung zu (vgl. bereits Gen 4,17, Kain als Städtebauer), die besonders im Vergleich zur Völkertafel von Gen 10 zu lesen ist. In der literarisch uneinheitlicheren Erzählung vom Turmbau (G. folgt hier weitgehend der Studie von C. Uehlinger, Weltreich und ›eine Rede‹, OBO 101, 1990) geht es um den Erwerb bleibenden Ruhms und die Errichtung eines gemeinsamen Wohnorts, der einer Zerstreuung der inzwischen zahlenmäßig angewachsenen Menschen gegenwirken soll (278). Kulturelle Ausdifferenzierung und göttlich verantwortete Zerstreuung bilden eine deutliche Spannung, die auf dem Hintergrund einer für die damalige Welt ›mythischen‹ Stadt, Babylon, entwickelt und zu einer Art anthropologischer Negativfolie wird. Anders als im Gilgameschepos, wo das Namensetzen positiv konnotiert ist, führt es hier (11,4; vgl. 2Sam 8,13) zu einem Allmachtsanspruch der Menschen, wie es das Begriffspaar zmm »sinnen, planen« neben bṣr III niph. »unmöglich sein« in V. 6 im Vergleich mit Hi 42,2 (hier auf Gott bezogen!) erkennen lässt: Die Höhe des geplanten Turms symbolisiert die übersteigerten Erwartungen der Menschen (282). Dass dieser Turm in Babel/Babylon mit einschlägigen Hinweisen auf das besondere Lokalkolorit situiert ist, hält G. für eine wichtige Datierungshilfe der Erzählung in die Zeit Nebukadnezar II., die dank des »Erinnerungsorts« Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Exilserfahrung bietet und bis in das 2.Jh. v. Chr. (vgl. Dan 4,26 f.) als solcher begegnet.
Gegen die Überlegungen von C. Uehlinger entscheidet er sich also für Etemenanki in Babylon als historischen Referenzbau und nicht etwa für Birs Nimrud in Borsippa oder Dur Scharrukin (Bauwerk der Grunderzählung) (285–300). Zudem wird durch die Quervernetzung von Motiven und Wortwahl (Babylon als Ort der Sklavenarbeit in Gen 11,1–9 und Ex 1,9 f.14) eine Zusammenschau der Exilserfahrung mit der Ägyptenerfahrung erreicht. Gilt Babylon, die axis mundi, als Inbegriff der Weltordnung, wie sie der babylonische Götterkönig Marduk geschaffen hat, liest sich Gen 11 wie eine Parodie angesichts der Verwirrung dieser Ordnung, die eine Entzauberung des babylonischen Ordnungskonzepts beabsichtigt. Babylon symbolisiert demnach »die Angst vor Ordnungs- und Orientierungsverlust als movens menschlicher Kreativität« (307). Weiterhin thematisiert G. das Streben nach Unsterblichkeit mittels des »gemachten Namens« (11,4.6) als weitere Grenzüberschreitung, die in Verlängerung zu Gen 3,22 zu sehen ist. An die Stelle der phy-sischen Unsterblichkeit träte demnach in Gen 11 die symbolische, die in Gen 6,4 bereits angedeutet, aber auf Wesen bezogen ist, die dem göttlichen Bereich zugeordnet sind, und von denen die Menschen durch ihre Altersbegrenzung auf 120 Jahre deutlich unterschieden sind. Schließlich wird es erst Abraham zugestanden, durch Gott einen großen Namen zu erhalten (12,2) – was einmal mehr unterstreicht, dass im Zentrum der Hybris nicht das Tun an sich, sondern die Beziehungslosigkeit des Menschen steht.
Die Studie ist äußerst imposant, sehr detailreich und auf einem hohen systematisch-philosophischen Niveau. Nur an wenigen Stellen finden sich Inkohärenzen wie z. B. bei folgender Aussage zur Literargeschichte:
»Das Gilgameschepos in Gestalt der Zwölftafelfassung kann zwar als ein in sich geschlossener, einheitlicher ›Text‹ bezeichnet werden; allerdings handelt es sich um die Bearbeitung einer älteren Fassung, die ihrerseits verschiedene Gilgameschtraditionen aufgenommen hatte. Die biblische Tradition liegt nicht als geschlossener Text vor« (25). Hier widerspricht G. seinen anschließenden Darlegungen des komplexen Überlieferungsprozesses der mesopotamischen wie auch der durchaus recht ähnlich vorzustellenden literarischen Überlieferungsgeschichte der hebräischen Traditionsliteratur (vgl. dazu schon die Arbeiten von J. Tigay und die Hinweise G.s selbst auf S. 31–34.191 f.). Einfühlsam beschreibt er sein Verständnis für den vom Optimismus der Exegeten bezüglich der sachgemäßen Rekonstruktion der literarischen Vorstufen befremdeten Altorientalisten (Hinweis auf S. Maul, Das Gilgamesch-Epos, 4. Aufl. 2008, 32). Aber am Ende kehrt er doch zu der »relativ konservativsten Position« zurück, nämlich zu der Annahme einer älteren jahwistischen Quelle neben der Priesterschrift als Ausgangspunkt (34), die in spätpersischer Zeit als Vorbau, als »Urgeschichte« der Tora vorangestellt wurde (38 f.). Dies wirkt etwas wie eine ultima ratio, um die literargeschichtlichen Diskussionen nicht in das Zentrum der Studie rücken zu müssen. Sein Eintreten für die Einheitlichkeit der Erzählung in Gen 2–3 (200 ff.) erfreut sich in letzter Zeit wieder eines größeren Konsenses und scheint ihm deshalb vertretbar (inklusive der Paradiesgeographie).
Die Studie führt den Dialog mit einer recht überschaubaren Anzahl von alttestamentlichen Studien, was sich mit der enormen Fülle an vorliegender Sekundärliteratur erklären lässt. Noch unberücksichtigt blieben die Textedition von A. Cavigneaux/F. N. H. Al-Rawi, Gilgamesh et la mort. Textes de Tell Haddad VI (Cuneiform Monographs 19), Leiden 2000, sowie die wohl parallel erschienene Studie von U. Steinicke, Aspekte des Menschseins (2012), die weitere wichtige Impulse aufzeigt, in welche Richtung sich die anthropologischen Diskussionen in der Altorientalistik derzeit bewegen. Eine die wichtigsten Themen aufgreifende Zusammenfassung sowie die mit drei Seiten sehr knapp geratenen Register (Bibelstellen; Autoren; Stichworte) beschließen den äußerst lesenswerten Band.